"Meine Mutter schickte mich als Kind in die Kirche. Aber oft stand ich nur vor der Kirche. Ich wuchs im Sozialismus auf, dem System, das damals herrschte, und an Kirchenfragen war ich nicht so interessiert. Denn in der Kirche ging es um Religion, und das fand ich nicht so anziehend", erzählt Bogdan Borusewicz, derzeit Vizepräsident des polnischen Senats, Politiker der liberalen Bürgerplattform, 1980 Mitbegründer der Gewerkschaft "Solidarność".
Vor fünfzig Jahren, 1968, verteilte der Gymnasiast Borusewicz erstmals Flugblätter gegen das Regime und landete dafür im Gefängnis. Ein Studium an einer staatlichen Hochschule kam für ihn nicht in Frage.
Da tat sich dem Abiturienten aus Danzig eine Chance auf - an der Katholischen Universität Lublin.
"Mich interessierte Geschichte. Von der Katholischen Universität hatte ich gehört, aber geglaubt, dort könnten nur Priester studieren. Als ich erfuhr, dass die Mehrheit Laien waren, bewarb ich mich und gab im Lebenslauf an, dass ich im Gefängnis gesessen hatte. Das war mir wichtig. Ich bestand die Aufnahmeprüfung und niemand fragte mich, ob ich Katholik oder überhaupt Christ sei. Das gefiel mir, dass das so unerheblich war."
"Man begann bei uns zuhause über diese Katholische Universität, die KUL, zu sprechen. Wenn du das Abitur in der Tasche hast, kannst du an die KUL gehen, hieß es. Da dachte ich mir: Warum nicht?"
So Maciej Sobieraj, seit vielen Jahren Historiker am IPN, dem Institut für Nationales Gedenken - Zweigstelle Lublin. Sobieraj, Jahrgang 1951, wuchs in einer regimekritischen Familie bei Kielce auf. 1969 kam er zum Studium nach Lublin.
Prügel vor der Polizei
Er erzählt: "Den Studentenprotest bekam ich durch meine ältere Schwester mit. Sie studierte Kunstgeschichte in Krakau. Leute von der ZOMO, einer Spezialpolizei, schlugen sie dort grün und blau. Sie gehörte einem studentischen Streikkomitee an. Dann kam sie nach Kielce zurück, um einer Verhaftung zu entgehen. Von ihr erfuhr ich dann alles über den Protest im März 1968 in Krakau.
Als ich in Lublin eintraf, erinnerte man sich im Studentenwohnheim genau daran, was 1968 in Lublin los gewesen war. Die älteren Semester sprachen gern darüber. In Lublin hatte man den Protest an der KUL und an der benachbarten staatlichen Universität, der UMCS, nicht so brutal niedergeknüppelt wie anderswo. Aber auch hier landeten zwei Kommilitonen im Gefängnis und das Wohnheim wurde durchsucht."
Das Jahr 1968 steht für Studentenproteste westlich und östlich des Eisernen Vorhangs. Polen bildete dabei keine Ausnahme. Auch dort forderten Studenten Meinungsfreiheit und gesellschaftliche Reformen. Wie andernorts verloren viele von ihnen ihren Studienplatz an den staatlichen Hochschulen. Einige landeten im Knast.
Zugleich hatte der Umgang des Regimes mit der Protestbewegung besondere Züge mit dramatischen Folgen. Als der Protest an den polnischen Unis im März 1968 ausbrach, zog die nationalkommunistische Parteiführung unter Władysław Gomułka die antisemitische Karte.
Sie brandmarkte die Studenten nicht nur als verantwortungslose Aufrührer im Dienste des Klassenfeinds. In einer großen Kampagne der Staatsmedien und auf Betriebsversammlungen wurde der Gesellschaft eingehämmert, die Studentenführer seien in Wirklichkeit verwöhnte Kinder jüdischer Parteifunktionäre. Diese Zionisten, wie man sie nannte, wären verantwortlich für die schwierige Lage, in die Polen geraten sei, denn sie arbeiteten gegen das Wohl des Landes. Daher sollten sie es lieber verlassen, am besten sofort.
Zu Staatenlosen gestempelt
Die Kampagne war äußerst wirksam: 13.000 Polen mit jüdischen Wurzeln, viele von ihnen Angehörige der Eliten, sahen sich so ins Exil gezwungen. Sie wurden in ihrem Ausreisepass zu Staatenlosen gestempelt - ohne Rückkehrrecht. Das Verfahren der Partei sprach Kommunisten und Antikommunisten gleichermaßen an. Die katholischen Bischöfe hüllten sich in Schweigen.
Maciej Sobieraj erinnert sich: "Die katholische Kirche hat sich dazu 1968 in der Tat nicht öffentlich geäußert. Sie hat die verprügelten Studenten in Schutz genommen. Aber sie hat nicht gegen den Antisemitismus protestiert. Das Problem stand zwar auf der Tagesordnung des Episkopats. Es lag zwar ein Protestbrief von Karol Wojtyła auf dem Tisch. Doch der wurde nie veröffentlicht, denn die Mehrheit der Bischöfe war dagegen."
Karol Wojtyła, der Verfasser des unveröffentlichten Protestbriefs gegen den staatlich propagierten Antisemitismus, war damals nicht nur Kardinal in Krakau, sondern auch Dozent für Ethik an der Katholischen Universität Lublin.
Zehn Jahre vor seiner Papstwahl, die ihn zum Konservativen werden ließ, propagierte er die Ideen des Zweiten Vatikanischen Konzils und ließ sich von der Philosophie eines Emmanuel Levinas inspirieren, erklärt Alfred Wierzbicki, heute Professor für Ethik an der KUL:
"Er kam eigentlich nach Lublin, weil ihn die staatliche Universität in Krakau vertrieben hatte. Er hatte dort über die Ethik von Max Scheler in ihrer Bedeutung für die Moraltheologie habilitiert. An der KUL gab er sich gleich als origineller Denker zu erkennen und scharte eine Gruppe junger Leute um sich."
Konspirativer Verlag
Karol Wojtyła war damals nicht der einzige unkonventionelle Denker an der KUL, kritisch gegenüber dem kommunistischen Staat und offen für Änderungen in der katholischen Kirche.
Ähnlich dachte der Theologe, Priester und Schriftsteller Wincenty Granat, Rektor der KUL von 1965 bis 1970. Granat war es zu verdanken, dass Studenten und Dozenten, die 1968 an staatlichen Universitäten in Ungnade gefallen waren, einen Platz an der Katholischen Universität Lublin fanden.
So entfaltete sich dort eine ziemlich bunt zusammengewürfelte Gesellschaft, die Bogdan Borusewicz so charakterisiert:
"Viele Studenten kamen aus den kleinen Orten der Lubliner Umgebung. Sie waren Ministranten gewesen. Sie kamen an die Katholische Universität, weil sie der Kirche verbunden waren. Dann gab es diejenigen, die ins Priesterseminar eingetreten und dann wieder ausgetreten waren - aus welchen Gründen auch immer. Sie studierten nun an der KUL Theologie, weil ihnen das Priesterseminar angerechnet wurde.
Außerdem gab es da noch eine besondere Gruppe, das waren die Hippies. Sie wollten keine militärische Ausbildung. Die gab es an der KUL nicht. Sie betrieben ihr eigenes Café im Keller, mieteten Wohnungen für ihre Kommune an, Drogen, Frauen, Wohngemeinschaft. Gerüchten zufolge gingen dort seltsame Dinge vor sich. Mit denen hatten wir nichts zu tun. Wir mochten keine Kommune, auch nicht von Hippies. Wir waren aus politischen Gründen an der KUL gelandet, weil wir anderswo keine Chance hatten oder weil es keinen sozialistischen Studentenverband gab und keine marxistische Philosophie."
Diesem Kreis um Bogdan Borusewicz und anderen jungen Historikern genügte das freie Denken allein nicht. Sie wollten politisch handeln und gründeten ohne Rücksicht auf die Zensur einen konspirativen Verlag. So wurden die KUL-Angehörigen zu Pionieren des sogenannten "Zweiten Umlaufs", einem Buchmarkt im Untergrund, der Ende der 70er Jahre dann im ganzen Land aufblühte.
Flugblätter aus der Waschmaschine
Zufall war das nicht: An der KUL lehrten Dozenten, die den Studenten erklärten, wie man so etwas macht. Der bekannteste von ihnen war Władysław Bartoszewski, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten Polens im 20. Jahrhundert, nach der Wende mehrfach Außenminister des Landes. Bartoszewski war unter deutscher Besatzung politischer Häftling in Auschwitz gewesen. Er hatte für den polnischen Untergrundstaat im Zweiten Weltkrieg gekämpft.
"Seine Vorträge waren sensationell. Alle gingen dorthin, nicht nur die Studenten der Geschichtsfakultät. Für uns waren diese Vorträge Handlungsanweisungen. Bartoszewski sprach über den Untergrundstaat im Zweiten Weltkrieg. Und wir dachten daran, wie es in diesem Augenblick aussah, was zu tun war, wie man sich verhalten sollte", erinnert sich Bogdan Borusewicz.
Die Studenten entwickelten nicht nur politische Ideen, sondern entfalteten auch technische Begabung. Nach ersten Versuchen mit Kopien auf Fotopapier und Kleinauflagen mittels Spiritus-Vervielfältiger stellten sie eine Druckmaschine im Eigenbau her. Das war das Metier von Wojciech Samoliński:
"Unser Patent bestand darin, dass wir Walzen kauften, die in den damaligen Waschmaschinen dem Auswringen der Wäsche dienten und eine sehr glatte Oberfläche hatten. Auf die Walzen montierten wir Kugellager. Die Dominikaner gaben uns eine alte Schulbank. Darauf legten wir eine Glasscheibe, dann farbdurchtränktes Flanell, dann Stilon, ein Gewebe als Filter. Am Ende gingen wir mit der Walze über das Papier."
Die oppositionellen KUL-Studenten kämpften allerdings nicht nur gegen den kommunistischen Staat.
Mitunter rangen sie auch mit der Leitung der eigenen Hochschule. Bereits 1970 war Wincenty Granat, der die KUL 1968 für Andersdenkende aller Couleur geöffnet hatte, durch den Philosophen und Dominikaner Mieczysław Albert Krąpiec abgelöst worden.
Du lügst, du lügst, du lügst
Als das Regime dann 1973 allen polnischen Hochschulen einen neuen einheitlichen Sozialistischen Studentenverband verordnete, sollte der die im Ostblock gültigen Dogmen des Marxismus-Leninismus auch an der KUL durchsetzen.
Bogdan Borusewicz: "Unser damaliger Rektor Mieczysław Albert Krąpiec war für die Zulassung des Sozialistischen Verbands Polnischer Studenten an der KUL. Und er drohte uns, die wir dagegen waren. Die Befürworter argumentierten, wir würden dadurch Geld für Exkursionen, Reisen usw. bekommen, 40.000 Zloty pro Jahr. Dagegen starteten wir eine Plakataktion. Auf unseren Plakaten stand: ‚Der Sozialistische Studentenverband gibt dir 40.000, aber die Katholische Kirche gibt dir 40 Millionen‘. Die KUL lebte ja von Spenden, die von der Kirche gesammelt wurden und das waren 40 Millionen Zloty (also umgerechnet zehn Millionen Euro) im Jahr.
Es gab eine Vollversammlung. Wer Arme und Beine hatte, war dabei. Stehend. Wir schlugen wegen dieser Sache furchtbaren Krach. Unser Freund Piotr Jegliński versteckte sich hinter dem Vorhang. Als dann Krzysztof Malarecki, der für den Sozialistischen Verband an der KUL eintrat, erklärte, dieser Verband schade uns doch nicht, das Sozialistische stecke nur im Namen, schrie Piotr hinter seinem Vorhang: ‚Du lügst, lügst und lügst.‘ Malarecki stürzte sich auf ihn, um ihn zu schlagen, aber Piotr gelang es zu entkommen."
Für Bogdan Borusewicz und seine Weggefährten war diese Protestaktion ein Meilenstein auf dem Weg zu einer breiten politischen Opposition in den 1970er Jahren.
Sie hatten sich mit ihrer Aktion an der KUL durchgesetzt. Tatsächlich konnte nun ein Unabhängiger Studentenverband gegründet werden. Der Primas der polnischen Bischöfe Stefan Kardinal Wyszyński gibt seinen Segen.
Die politische Opposition konnte sich an der KUL in den 70er Jahren vergleichsweise frei entfalten.
Das alles geschah unter dem Regiment des Philosophen Mieczysław Albert Krąpiec, der von 1970 bis 1983 als Rektor amtierte, aber auch darüber hinaus bis zu seinem Tod 2008 starken Einfluss ausübte.
"Eine katholische Universität ist dafür da, um den Gebrauch des eigenen Verstandes zu lehren und die Hochachtung vor der eigenen heimischen Kultur. Wenn sie diesen Zweck nicht erfüllt, braucht man sie nicht. Der Mensch ist das Ziel, nicht das Mittel. Er entscheidet über das Ziel. Der Mensch muss das Wahre, Gute und Schöne selbst entdecken. Er darf es sich nicht vom Staat, von einem politischen System aufzwingen lassen."
(Mieczysław Albert Krąpiec)
(Mieczysław Albert Krąpiec)
Die Ideen des Mieczysław Albert Krąpiec kreisten um eine Erneuerung der mittelalterlichen Philosophie des Thomas von Aquin.
Sein Neo-Thomismus sollte den Werten des christlichen Mittelalters im 20. Jahrhundert neues Leben einzuhauchen. Mit seiner Philosophie galt der wortgewaltige Dominikaner-Pater mit organisatorischer Kompetenz zugleich als hausinterner Chefdenker, der die übrigen Vertreter seines Fachs in den Schatten stellte - sogar den Ethiker und KUL-Dozenten Karol Wojtyła, solange der noch nicht auf dem Heiligen Stuhl saß, versteht sich.
Die Papstwahl - eine Tragödie für den Rektor
"Für Krąpiec war die Papstwahl eine Tragödie. Denn Krąpiec war ein unglaublicher Narzist und zugleich ein sehr begabter Mensch", glaubt der ehemalige Krąpiec-Schüler Jan Hartman, Kind jüdischer Eltern und inzwischen Professor für Ethik in Krakau.
"Er hatte die fixe Idee, die mittelalterliche Philosophie des Thomas von Aquin in eine neuzeitliche Philosophie zu verwandeln. Dadurch stieg er zum Guru an der KUL auf. Man pflegte einen Krąpiec-Personenkult."
Doch Macht und Einfluss des Mieczysław Albert Krąpiec an der KUL speisten sich noch aus einer weiteren Quelle. Was erst Jahre nach seinem Tod aus den Archiven bekannt wurde, auch wenn manche es schon vorher geahnt hatten: Krąpiec hatte über Jahrzehnte eng mit der kommunistischen Staatssicherheit zusammengearbeitet.
Der Historiker Maciej Sobieraj kennt die Aktenlage:
"Die kommunistischen Machhaber bemühten sich die ganze Zeit darum, dass man ihn als Rektor wählt, die ganzen 60er Jahre hindurch. Laut einem Untersuchungsbericht der Dominikaner war Krąpiec einer der bedeutendsten Agenten des Sicherheitsdienstes der Volksrepublik Polen, aktiv seit 1957/58."
Unter dem Decknamen "Józef" plauderte Mieczysław Albert Krąpiec demnach politische Gedanken seiner regimekritischen Dominikaner-Brüder aus.
Im Gespräch mit seinem Führungsoffizier unterhöhlte er die Autorität des damaligen Primas der polnischen katholischen Kirche Stefan Kardinal Wyszyński - oder intrigierte gegen Pläne Karol Wojtyłas, theologische Akademien ins Leben zu rufen. Krąpiec‘ geheime Dienste waren kein Einzelfall. Insgesamt sollen zehn Prozent aller katholischen Geistlichen in ganz Polen für das Regime tätig gewesen sein.
Das süße Versprechen der Macht
Ihre Gründe: Eitelkeit, Geldgier, Schwäche, Angst vor Repression, nicht zuletzt aber die Erfahrung, dass der kommunistische Staat die katholische Kirche nicht nur gängelt, sondern ihr auch Macht über die Gesellschaft verschafft.
"Die polnische katholische Kirche hat den nationalistischen Flügel von Partei und Staat unterstützt. Die katholische Kirche muss sich mit jeder weltlichen Macht arrangieren. Besonders schwer fällt ihr das mit der liberalen Demokratie, in der die Kirche nur noch eine von vielen Institutionen ist, ohne Vorrang. Ihr ärgster Feind ist deshalb die liberale Demokratie, nicht der Kommunismus."
Diese These von Jan Hartman scheint die Entwicklung der Katholischen Universität Lublin nach 1989 zu belegen. Die Idee der offenen Gesellschaft mit einer deutlichen Trennung von Kirche und Staat stieß an dieser Hochschule nun insgesamt eher auf Skepsis denn auf Gegenliebe.
Mehr noch: Weite Teile der KUL drifteten ins Lager von "Radio Maryja", einem rechten antisemitischen Sender, der große Popularität besitzt. Dort ließ sich bis zu seinem Tod 2008 auch der Dominikaner-Pater, renommierte Neo-Thomist und kommunistische Agent Mieczysław Albert Krąpiec feiern. Es wurde fast schon zur Regel: Wer im Kommunismus den geheimen Pakt mit den Machthabern praktizierte, präsentierte sich nach der Wende patriotisch-national.
Als Ort der großen intellektuellen Auseinandersetzung hat die KUL an Bedeutung verloren. Die Vielfalt ist verblasst: Doch das kann den Blick auf ein beeindruckendes Kapitel ihrer Vergangenheit nicht verstellen. Die Katholische Universität Lublin, die gerade ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert hat, war einmal ein bedeutender Schauplatz freien Denkens in Polen.