Das Problem mit Romanen, die als satirische Kommentare zurzeit gedacht sind, liegt darin, dass die Zeiten sich ändern. Manchmal sogar ziemlich schnell. Schon Bob Dylan wusste das. Noch schwieriger wird es, wenn man solche Romane dann auch noch mühsam aus fremden Sprachen übersetzen muss. Zum Beispiel aus dem Russischen. Schon der Titel vom Oleg Kaschins Roman "Es geht voran", der Anfang 2011 in Moskau erschien und ein Jahr später nun auf Deutsch vorliegt, war satirisch gemeint. Als Kaschin den Roman schrieb, ging in Russland schon seit einiger Zeit gar nichts mehr voran. Das war das Problem. Darum setzte sich der Journalist Kaschin hin und schrieb einen Roman, der nicht zufällig mit dem Satz endet:
Marina drehte sich um, küsste ihren Mann, und die Entengrütze der Stagnation schloss sich über ihren Köpfen.
Wer Anfang 2012 nur einen kurzen Blick auf die Nachrichten aus Russland wirft weiß, dass die Entengrütze der Stagnation sich wie von Zauberhand in Luft aufgelöst hat. Selbst bei 20 Grad Minus gehen plötzlich Hunderttausende auf die Straße, um gegen den Mann zu demonstrieren, der die Entengrütze über ihren Köpfen angerührt hatte: Wladimir Putin. Urplötzlich ist in Russland alles in Bewegung geraten und aus einem satirischen Roman zurzeit ist innerhalb weniger Monate ein historischer Roman über eine schon halb vergangene Epoche geworden. Zum Glück macht das Kaschins postmoderne Räuberpistole kein Stück weniger unterhaltsam. Vielleicht möchte der ein oder andere ja auch wissen, wogegen die Leute in Moskau eigentlich demonstrieren, abgesehen vom bösen Putin, den viele in Moskau nur noch Pu nennen.
"Es geht voran" ist das Remake eines sowjetischen Abenteuerromans aus der Stalinzeit. Allerdings spielte der im feindlichen kapitalistischen Ausland. Kaschin nimmt nun die Geschichte über den genialen Erfinder Karpow und sein geheimnisvolles Wachstumsserum und verlegt sie nach Hause, ins Russland der Medwedjewjahre. Zu Beginn des Romans reist Karpow mit seiner Frau in eine namenlose südrussische Kleinstadt, um dort in abgeschiedener Provinzruhe zu experimentieren. Weil Kaschin in seinem kurzen Buch durchweg hohes Tempo anschlägt, vergehen nur wenige Seiten, bevor erste Versuche von Erfolg gekrönt sind und aus Ratten Riesenratten werden, deren Fell man für Vogelscheuchen verwenden kann. Kurz darauf erlöst Karpow den betagten Zirkusliliputaner Wasja von seinem Leid.
Der innere Widerstreit zwischen dem klugen Sergej Nikolajewitsch und dem gütigen Sergej Nikolajewitsch dauerte nicht länger als eine Minute; aber diese Zeit reichte aus, um das glückliche Lächeln aus Wassjas Gesicht verschwinden zu lassen und ihn seelisch und moralisch auf jede mögliche Frage des Zirkusdirektors vorzubereiten. Die Frage war sowohl philosophisch als auch rhetorisch und lautete: 'Bist du Zwerg etwa gewachsen?'
Dann kommt es, wie es kommen muss: Erst bekommen abgehalfterte Provinzwissenschaftler und -Politiker von der Sache Wind. Dann das Fernsehen, zwielichtige nordkaukasische Milliardäre und schließlich der Staat in Form von Geheimdiensten und Polittechnologen: Die Frage, wie man neue Menschen erschafft, war für die russischen Eliten immer schon von höchster Dringlichkeit. Hier nun bietet sich die Gelegenheit, Erwachsene mit dem Gemüt und dem Intellekt von Siebenjährigen zu züchten: ideale Anhänger und Werkzeuge der gelenkten Demokratie. Wer könnte da Nein sagen?
Naturgemäß ist in Kaschins Russlandpanoptikum einer korrupter als der andere, naturgemäß fließt bald auch das Blut in Strömen, naturgemäß gilt auch hier: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Immerhin befindet man sich in einem Land, in dem die Fleischkombinate auch mal "Heiliges Russland GmbH" heißen können und aus Katzen Tiger werden:
Der Ataman Filimonenko hingegen hatte sich volllaufen lassen. Es tat ihm nicht leid, Karpow die Flasche mit dem Serum abgenommen zu haben, aber das mit dem Katerjungen war wirklich ein wenig aus dem Ruder gelaufen, er hätte besser mit Ferkeln anfangen sollen, aber Ferkel interessierten den Ataman nicht sonderlich, und sein Katerchen war so süß gewesen, dass sich der Ataman sogar einen lustigen Namen für ihn ausgedacht hatte - Mister Bean. Er hatte ihn am Nacken gepackt, auf seine Handfläche gelegt und ihm eine ganze Spritze in den Bauch gedrückt. Das Katzenauge hatte anfangs geschrien und dann innerhalb einer Stunde einen Liter Milch aufgeschleckt. Der Ataman hatte nachgeschenkt - Mister Bean Milch, sich selbst Wodka - und voll Freude gedacht, wie schön es doch war, dass es auf der Welt Katzenjunge gab. Vier Tage später war Mister Bean - mittlerweile ein dicker Kater, der dem Ataman bis zum Gürtel reichte - über den Zaun gesprungen und weggelaufen.
Oleg Kaschin ist ein guter Stilist, sein Blog, seine Kolumnen, seine Interviews und seine Reportagen gehören zum Besten, was der russische Journalismus der letzten zehn Jahre zu bieten hatte. Und so ist auch "Es geht voran" ein turbulentes Lesevergnügen geworden, mit dem der russophile Leser gut die Zeit bis zur nächsten Moskauer Demonstration überbrücken kann. Getrübt wird dieses Vergnügen nur durch Kaschins fatalen Hang, sein Buch mit Hunderten kleiner Insiderscherze, Anspielungen und Seitenhiebe zu überfrachten. Deutsche Leser sind hier eher noch im Vorteil, denn die feine Übersetzerin Franziska Zweig hat zumindest die wichtigsten in Fußnoten erklärt. Viele andere dürften selbst russische Leser vor Rätsel gestellt haben. Zumindest diejenigen unter ihnen, die ihre Tage nicht in jenem dicht gewebten Netz aus Twitter-Accounts, Live-Journal-Blogs und regulären Massenmedien verbringen, das Oleg Kaschin hervorgebracht hat und in dem er sich so überaus virtuos bewegt. Leser von Kaschins Twitter-Account erfuhren übrigens vor einigen Wochen ganz nebenbei, dass er die Idee für einen Nachfolger von "Es geht voran" schon habe, derzeit aber zu faul sein, das Buch zu schreiben. Vielleicht ist er aber auch zu beschäftigt. Kaschin gehört zu jenem Komitee, das die Anti-Putin Demonstrationen in Moskau vorbereitet.
Oleg Kaschin
Es geht voran. Aus dem Russischen von Franziska Zweig,
Aufbau Verlag, 152 Seiten, 16.99 Euro
Marina drehte sich um, küsste ihren Mann, und die Entengrütze der Stagnation schloss sich über ihren Köpfen.
Wer Anfang 2012 nur einen kurzen Blick auf die Nachrichten aus Russland wirft weiß, dass die Entengrütze der Stagnation sich wie von Zauberhand in Luft aufgelöst hat. Selbst bei 20 Grad Minus gehen plötzlich Hunderttausende auf die Straße, um gegen den Mann zu demonstrieren, der die Entengrütze über ihren Köpfen angerührt hatte: Wladimir Putin. Urplötzlich ist in Russland alles in Bewegung geraten und aus einem satirischen Roman zurzeit ist innerhalb weniger Monate ein historischer Roman über eine schon halb vergangene Epoche geworden. Zum Glück macht das Kaschins postmoderne Räuberpistole kein Stück weniger unterhaltsam. Vielleicht möchte der ein oder andere ja auch wissen, wogegen die Leute in Moskau eigentlich demonstrieren, abgesehen vom bösen Putin, den viele in Moskau nur noch Pu nennen.
"Es geht voran" ist das Remake eines sowjetischen Abenteuerromans aus der Stalinzeit. Allerdings spielte der im feindlichen kapitalistischen Ausland. Kaschin nimmt nun die Geschichte über den genialen Erfinder Karpow und sein geheimnisvolles Wachstumsserum und verlegt sie nach Hause, ins Russland der Medwedjewjahre. Zu Beginn des Romans reist Karpow mit seiner Frau in eine namenlose südrussische Kleinstadt, um dort in abgeschiedener Provinzruhe zu experimentieren. Weil Kaschin in seinem kurzen Buch durchweg hohes Tempo anschlägt, vergehen nur wenige Seiten, bevor erste Versuche von Erfolg gekrönt sind und aus Ratten Riesenratten werden, deren Fell man für Vogelscheuchen verwenden kann. Kurz darauf erlöst Karpow den betagten Zirkusliliputaner Wasja von seinem Leid.
Der innere Widerstreit zwischen dem klugen Sergej Nikolajewitsch und dem gütigen Sergej Nikolajewitsch dauerte nicht länger als eine Minute; aber diese Zeit reichte aus, um das glückliche Lächeln aus Wassjas Gesicht verschwinden zu lassen und ihn seelisch und moralisch auf jede mögliche Frage des Zirkusdirektors vorzubereiten. Die Frage war sowohl philosophisch als auch rhetorisch und lautete: 'Bist du Zwerg etwa gewachsen?'
Dann kommt es, wie es kommen muss: Erst bekommen abgehalfterte Provinzwissenschaftler und -Politiker von der Sache Wind. Dann das Fernsehen, zwielichtige nordkaukasische Milliardäre und schließlich der Staat in Form von Geheimdiensten und Polittechnologen: Die Frage, wie man neue Menschen erschafft, war für die russischen Eliten immer schon von höchster Dringlichkeit. Hier nun bietet sich die Gelegenheit, Erwachsene mit dem Gemüt und dem Intellekt von Siebenjährigen zu züchten: ideale Anhänger und Werkzeuge der gelenkten Demokratie. Wer könnte da Nein sagen?
Naturgemäß ist in Kaschins Russlandpanoptikum einer korrupter als der andere, naturgemäß fließt bald auch das Blut in Strömen, naturgemäß gilt auch hier: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Immerhin befindet man sich in einem Land, in dem die Fleischkombinate auch mal "Heiliges Russland GmbH" heißen können und aus Katzen Tiger werden:
Der Ataman Filimonenko hingegen hatte sich volllaufen lassen. Es tat ihm nicht leid, Karpow die Flasche mit dem Serum abgenommen zu haben, aber das mit dem Katerjungen war wirklich ein wenig aus dem Ruder gelaufen, er hätte besser mit Ferkeln anfangen sollen, aber Ferkel interessierten den Ataman nicht sonderlich, und sein Katerchen war so süß gewesen, dass sich der Ataman sogar einen lustigen Namen für ihn ausgedacht hatte - Mister Bean. Er hatte ihn am Nacken gepackt, auf seine Handfläche gelegt und ihm eine ganze Spritze in den Bauch gedrückt. Das Katzenauge hatte anfangs geschrien und dann innerhalb einer Stunde einen Liter Milch aufgeschleckt. Der Ataman hatte nachgeschenkt - Mister Bean Milch, sich selbst Wodka - und voll Freude gedacht, wie schön es doch war, dass es auf der Welt Katzenjunge gab. Vier Tage später war Mister Bean - mittlerweile ein dicker Kater, der dem Ataman bis zum Gürtel reichte - über den Zaun gesprungen und weggelaufen.
Oleg Kaschin ist ein guter Stilist, sein Blog, seine Kolumnen, seine Interviews und seine Reportagen gehören zum Besten, was der russische Journalismus der letzten zehn Jahre zu bieten hatte. Und so ist auch "Es geht voran" ein turbulentes Lesevergnügen geworden, mit dem der russophile Leser gut die Zeit bis zur nächsten Moskauer Demonstration überbrücken kann. Getrübt wird dieses Vergnügen nur durch Kaschins fatalen Hang, sein Buch mit Hunderten kleiner Insiderscherze, Anspielungen und Seitenhiebe zu überfrachten. Deutsche Leser sind hier eher noch im Vorteil, denn die feine Übersetzerin Franziska Zweig hat zumindest die wichtigsten in Fußnoten erklärt. Viele andere dürften selbst russische Leser vor Rätsel gestellt haben. Zumindest diejenigen unter ihnen, die ihre Tage nicht in jenem dicht gewebten Netz aus Twitter-Accounts, Live-Journal-Blogs und regulären Massenmedien verbringen, das Oleg Kaschin hervorgebracht hat und in dem er sich so überaus virtuos bewegt. Leser von Kaschins Twitter-Account erfuhren übrigens vor einigen Wochen ganz nebenbei, dass er die Idee für einen Nachfolger von "Es geht voran" schon habe, derzeit aber zu faul sein, das Buch zu schreiben. Vielleicht ist er aber auch zu beschäftigt. Kaschin gehört zu jenem Komitee, das die Anti-Putin Demonstrationen in Moskau vorbereitet.
Oleg Kaschin
Es geht voran. Aus dem Russischen von Franziska Zweig,
Aufbau Verlag, 152 Seiten, 16.99 Euro