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Unrein

Addis Abeba ist mit roten, gelben, grünen Lämpchen geschmückt. Gerade zelebriert die äthiopische Hauptstadt – gemäß eigenem Kalender - die 2000-Jahr-Feier. Menschen aus einem Dutzend Volksgruppen leben hier. Auf dem riesigen Markt handeln sie lautstark in den verschiedensten Sprachen.

Von Volkart Wildermuth |
    Ungerührt vom dichten Verkehr fegen Arbeiterinnen den Staub vom Straßenrand. Wie die meisten Äthiopierinnen tragen sie Kopftuch, ganz gleich, ob sie an Christus oder Allah glauben. Hinter ihnen: ein haushohes Plakat der Sängerin Beyoncé, ausgesprochen leicht bekleidet. Man lebt mit den Gegensätzen. Doch die Toleranz kennt auch in Äthiopien Grenzen.

    "Unrein
    Warum die Lepra nur langsam verschwindet"
    Von Volkart Wildermuth"

    Auf einem Bergrücken das Gelände des Alert-Hospitals, des größten Lepra-Zentrums des Landes. Es lag einmal weit vor der Stadt, heute bedrängen Hochhäuser und Barackensiedlungen das Areal. Zwischen Eukalyptusbäumen stehen die niedrigen Backsteingebäude des Krankenhauses. Rundherum haben sich im Laufe von Jahrzehnten die Aussätzigen angesiedelt. Ihr Viertel sieht aus wie viele andere in Addis: staubige Straßen zwischen Wellblechhütten. Schwatzende Menschen in der Nachmittagssonne, Kinder in Schuluniform, ein paar Esel mit Kornsäcken auf dem Rücken. Afrikanischer Alltag – doch hier gehen viele Menschen an Krücken oder Stöcken, tragen Geschwüre im Gesicht, haben Hände ohne Finger. Einer von ihnen ist Arega Kassa Zelelew. Der Gründer der äthiopischen Leprapatientenorganisation kämpft seit Jahrzehnten gegen die Krankheit und gegen die Diskriminierung. Das werde auch so bleiben, sagt Zelelew und macht dabei aus seinem Ärger über die Weltgesundheitsorganisation keinen Hehl.

    "”Die WHO hat 2005 erklärt, die Lepra sei in Äthiopien unter Kontrolle. Dagegen protestiere ich, das ist nicht wahr. Jedes Jahr gibt es 5500 neue Patienten. Viele sind behindert, weil sie zu spät hierher gekommen sind. Sie verstecken sich, vielleicht gibt es 10.000 oder 15.000 Patienten. Nein - in Äthiopien ist die Lepra nicht unter Kontrolle."

    Ende Januar, auf dem Weltleprakongress im indischen Hyderabad wird Arega Kassa Zelelew die Sicht der Patienten vertreten, die nach wie vor unter der Lepra leiden, während die Weltgesundheitsorganisation die unbestreitbaren Erfolge im Kampf gegen den Aussatz feiern wird. Aber auch die WHO ist sich darüber im Klaren: die Lepra ist noch lange nicht Geschichte.

    Hier auf dem Alert-Gelände gibt es Kliniken, Labore, Werkstätten, Selbsthilfeorganisationen. Während draußen Männer und Frauen in Overalls und Strohhüten die vielen Schlaglöcher auf den Wegen beseitigen, warten im Schatten die Patienten. Junge Frauen, Männer an Krücken, Greisinnen, gestützt von ihren Enkeln. Einen nach dem anderen ruft Dr. Elizabeth Bizungh in ihr kleines Behandlungszimmer. In den Akten ihrer Patienten sind die Umrisse von Händen und Füßen aufgezeichnet. Kleine Kreise markieren die typischen Flecken.

    "Es gibt typische Zeichen der Lepra. Eines sind helle Hautflecken, die ohne jede Empfindung sind. Das zweite Zeichen sind geschwollene Nerven. Und dann können wir die Bakterien an der Haut nachweisen, das sind die drei Zeichen der Lepra."

    Der junge Patient, der gerade vor ihr auf dem Stuhl sitzt, war wegen der seltsamen hellen Flecken schon vor Jahren in die Klinik gekommen. Er nahm ein halbes Jahr lang eine Kombination aus drei Antibiotika ein, bis die Bakterien abgetötet waren. Seitdem ist er nicht mehr ansteckend, seine Haut glänzt wieder dunkel, sichtbare Schäden hat er nicht davongetragen. Bizungh:

    "”Wenn die Patienten früh zu uns kommen, können wir sie heilen. Aber leider ist die Lepra nicht sehr bekannt und es gibt viele Vorurteile. Die Leute möchten die Krankheit geheim halten und kommen erst, wenn sie schon Behinderungen haben. 60 Prozent unserer Patienten haben schon Nervenschäden oder Behinderungen.""

    Behinderungen können aber auch später entstehen – Jahre, nachdem die Bakterien erfolgreich bekämpft wurden. Der heutige Patient berichtet von ersten Warnzeichen, von Nervenschmerzen in den Fingern. Elizabeth Bizungh verschreibt ein Medikament, das die Spätreaktion unterdrücken soll - für dieses Mal. Auch wenn der junge Mann schon seit vielen Jahren frei von Erregern ist, er wird immer Leprapatient bleiben.

    Im Cafe der Leprainitiative neben dem Klinikgelände sitzt Arega Kassa Zelelew. Zur Begrüßung nimmt er die angebotene Hand zwischen seine Handflächen. Der typische Gruß der Leprapatienten. Der ehemalige Elektrotechniker hat nur noch wenige, verkrümmte Finger. Greifen kann er mit ihnen nicht mehr. Die ersten Symptome hatte er schon vor Jahrzehnten bemerkt, doch damals gab es keine wirksame Therapie und so zerstörte das Leprabakterium seine Nerven.

    "”Ich habe das nicht verstanden. Manchmal fiel mir der Schraubenzieher aus der Hand, oder der Lötkolben hat mich verbrannt, im Bus habe ich mich am Fuß verletzt und ich habe nichts gemerkt. Ich hatte meine Empfindungen verloren. Ich hatte Geschwüre, deshalb mussten meine Beine amputiert werden. Wenn man nichts spürt, kann man auch mit Geschwüren laufen.”"

    "Die Leute glauben, dass die Lepra Finger und Zehen wegfrisst, aber das stimmt nicht. Das Bakterium geht in die Haut und in die Nerven, es verursacht Flecken und die Leute verlieren die Funktion ihrer Nerven."

    Diana Lockwood, Professorin für Tropenmedizin, London.

    "”Nerven machen zwei Dinge, sie leiten Empfindungen und Bewegungsbefehle weiter. Wenn sie nicht funktionieren, dann spürt man nicht, wenn man sich zum Beispiel verbrennt. Sie und ich, wir haben heute schon viele gefährliche Dinge gemacht, aber unsere Empfindungen haben uns geschützt. Fehlen sie, verletzt man die Finger und Zehen.""

    Unbeachtete Wunden werden zu Geschwüren, die weiterwuchern. Früher verloren die Leprapatienten so nach und nach ihre Gliedmaßen. Der Aussatz ist eine ausgesprochen sichtbare Krankheit. Im Alten Testament heißt es, dass Aussätzige zerrissene Kleidung tragen und "unrein, unrein" rufen sollen, um die Gesunden zu warnen. Im Mittelalter wurden die Befallenen in Leprosarien abgesondert. Damals war der Aussatz eine häufige Krankheit zwischen Mittelmeer und Skandinavien, in England und Polen. Dann begann der Erreger langsam aus Europa zu verschwinden, die Gründe sind bis heute nicht ganz geklärt. Heute tritt die Krankheit vor allem in den Ländern der Dritten Welt auf, die meisten Patienten leben in Indien und Brasilien. Aber auch dort gibt es keine Lepraepidemie, das Bakterium ist nicht besonders ansteckend. Diana Lockwood:

    "”Wenn Sie an Indien oder Äthiopien denken, dort sind die meisten Menschen dem Bakterium begegnet, aber ihre Immunabwehr hat funktioniert. Nur sehr wenige werden tatsächlich krank, bekommen Lepra. Das hängt wohl von der Genausstattung ab, davon, welche anderen Infektionen man durchgemacht hat, wie oft man dem Leprabakterium ausgesetzt ist und auch die Armut spielt eine Rolle.""

    Man schätzt, dass von 100 Personen nur fünf tatsächlich Lepra bekommen können. Und denen ist heutzutage theoretisch leicht zu helfen. Die Diagnose ist einfach. Die hellen Flecken, in denen die Patienten weder Berührungen, Schmerz noch Hitze spüren, weisen eindeutig auf die Lepra hin. Auch die Behandlung ist etabliert und wirksam. Je nach Stadium der Krankheit müssen die Patienten eine Kombination aus drei Antibiotika über sechs oder zwölf Monate einnehmen. Gegen diese Mehrfachtherapie konnte das Leprabakterium bislang keine Resistenzen entwickeln. Schon seit Jahren werden die Medikamente auf der ganzen Welt kostenfrei abgegeben, zurzeit finanziert die Novartis-Stiftung die Behandlung. Für Denis Daumerie, bei der Weltgesundheitsorganisation zuständig für Lepra, eine der Erfolgsgeschichten der Medizin.

    "”In den letzten 25 Jahren ist viel erreicht worden. In den Achtzigern gab es 12 Millionen Leprapatienten, heute sind es weniger als eine Viertel Million.""

    Das aber ist nur die eine Seite der Medaille. Obwohl so viele Menschen geheilt werden konnten, ist es bislang nicht gelungen, die Ausbreitung der Lepra zu stoppen. Die Rate der Neuinfektionen hat sich kaum geändert. Viele Nicht-Regierungsorganisationen haben der WHO vorgeworfen, sich zu sehr auf die Kontrolle des Bakteriums zu konzentrieren. Die Antibiotikatherapie ist aber nur ein erster Schritt für die Patienten. Sie müssen lernen, mit ihren Nervenschäden umzugehen, ihre Haut auf Verletzungen zu kontrollieren, wachsam zu bleiben. Sonst drohen noch Jahre nach der erfolgreichen Therapie Behinderungen.

    "Das ist der Raum, in dem wir Schuhe für Leprapatienten machen. Jeder Schuh ist anders, angepasst an die Schäden am Fuß des Patienten."

    Schuhe sind wichtig, sie schützen die Füße der Patienten vor Dornen und Steinen, vor Geschwüren, vor der Amputation. Der Orthopädietechniker Molla Getu steht im grauen Kittel in der Werkstatt auf dem Alert-Gelände. Er ist der Chef von achtzehn Arbeitern. Getu:

    "80 Prozent sind selbst Leprapatienten. Sie sind gut ausgebildet, sie wissen worauf es ankommt, besonders unsere Schuhe sind sehr gut. Die Arbeiter wissen, was die Lepra anrichtet und sorgen für die Patienten."

    Es riecht nach Leim und Holz und Gummi. In einem Raum werden Prothesen gefertigt. Mit modernen Maschinen, die die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe gestiftet hat. An den Wänden lehnt ein kleiner Wald von einfachen Krücken. Sie werden in ganz Äthiopien verteilt und vor Ort abgesägt auf die Größe des Patienten. Maßarbeit sind auch die Schuhe, die jeder Leprakranke kostenlos erhält. Innen sind sie weich, außen hart. Molla Getu schwört auf Sohlen aus alten Autoreifen, die sind billig, halten lange und schützen verlässlich vor Steinen und Dornen. Getu:

    "”Wenn die Patienten noch gesunde Füße haben, können sie auch gewöhnliche Schuhe kaufen. Wir setzen dann stabile Innensohlen ein. Dann fallen sie nicht auf, und können ohne Probleme in ihrer Gemeinde leben.""

    In den Straßen Addis Abebas gibt es viele Behinderte. Sie stehen neben den Läden auf dem großen Markt, sie liegen unter Decken am Straßenrand, sie drängen sich an Krücken hüpfend durch die Menge und alle, alle strecken die Hand aus und betteln, bitten um ein paar Bir, etwas Brot. Menschen mit Kinderlähmung erkennt man an den schlaffen Gliedern, die Opfer der vielen Verkehrsunfälle in Addis Abeba an fehlenden Armen oder Beinen, die Leprapatienten an den verkrümmten Händen, am schweren Schuhwerk. Sie stellen nur eine Minderheit unter den Behinderten Äthiopiens, aber sie haben am meisten mit Vorurteilen zu kämpfen. Entspannt einen Tee oder ein Bier trinken und dazu mit Kronenkorken Dame spielen, das geht nur in ihrem eigenen Viertel beim Alert-Hospital, in ihrem eigenen Cafe, erzählt der Gründer der Leprapatientenorganisation, Arega Kassa.

    "”Bei der Arbeit, zuhause, in der Gesellschaft, ist es sehr schwer. Die Vorurteile sitzen tief, gerade in Addis Abeba. Ich sehe es in ihren Gesichtern, sie hassen mich. Sie halten es für einen Fluch, eine Sünde, die Gott bestraft. Unsere Gesellschaft ist sehr rückständig, deshalb verachten sie mich.""

    Sein Chef bei der Äthiopischen Telefongesellschaft hatte Verständnis, erzählt Arega Kassa, machte ihn zum Aufseher. Aber die Kollegen weigerten sich, mit ihm zu arbeiten, selbst, als ein ärztliches Gutachten bestätigte, dass Arega Kassa längst nicht mehr ansteckend war. Seine Frau ließ sich schon vor vielen Jahren scheiden. Kassa:

    "Wir haben sechs Kinder, sie blieben bei mir, sie verstehen das Problem. Die Älteste hat einen Griechen geheiratet. Sie besucht mich immer ohne ihren Mann, sie schämt sich für mich. Der älteste Sohn ist jetzt 35 und immer noch ledig. Seine Brüder sind 33 und 30, auch sie haben keine Frau. Mit einem Leprakranken in der Familie ist es schwer zu heiraten. Zumindest so lange ich noch lebe."

    Kein Wunder, dass viele Kranke zu spät zur Behandlung kommen. Sie haben allen Grund, die Diagnose Lepra zu fürchten, in Äthiopien und weltweit. Bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurden Leprapatientinnen in China zwangssterilisiert, in Japan zu Abtreibungen genötigt. Im Senegal erhielten Leprakranke keinen Pass, ihre Dörfer tauchten auf den Landkarten nicht auf. Es ist schwer, langgehegte, in der Gesellschaft fest verwurzelte Vorurteile aufzubrechen. Äthiopien versucht es mit Radiospots in den drei wichtigsten Sprachen. Dass es nicht unmöglich ist, die Einstellung zu verändern, hat Diana Lockwood in Brasilien erlebt.

    "”Ich war sehr erfreut darüber, dass die jungen Leute dort schon bei den ersten kleinen Hautflecken in die Klinik gehen. Brasilianische Frauen sind sehr schönheitsbewusst. Dank einer guten Gesundheitsaufklärung wissen sie Bescheid. Wenn sie einen Fleck sehen, dann fragen sie auch nach der Behandlung.""

    Hier sausen die Schiffchen durch drei große Webstühle. Auf dem Gelände des Alert Hospitals haben fast 200 Patienten Arbeit gefunden, stellen Hemden, Tischtücher und Schals her. Gerade hat Ayele Bebrowold, der Manager des Projekts, die dunkle Wellblechhütte der Spinnerinnen betreten. Dreißig Frauen sitzen auf dem Boden. Die meisten tragen weiße Kopftücher, in Äthiopien die Tracht der Christinnen. Sie unterhalten sich, lassen dabei die Spindeln tanzen. Mekale Mekukia lebt schon seit vielen Jahren beim Alert-Hospital.

    "Ich komme vom Land, ich bin zur Behandlung nach Addis gekommen und hier geblieben. Ich kann nicht zurück in mein Dorf, meine Verwandten wollen mich nicht. Ich lebe hier jetzt schon 34 Jahre und mache Handarbeiten. Eine andere Arbeit bekomme ich nicht. Wenn ich diese Arbeit verliere, kann ich meine Kinder nicht mehr ernähren. Es gibt niemanden, der mich aufnehmen würde."

    Nebenan rattern Nähmaschinen, stechen Nadeln mit leuchtend bunten Fäden durch den Stoff. Hier entstehen die landestypischen, geometrischen Muster. Verkauft werden die Textilien fast nur an Ausländer, die im Hospital oder den Laboratorien arbeiten. Auf regelmäßige Einkünfte kann man sich da nicht verlassen, bedauert Manager Ayele Bebrowold.

    "”Wenn wir etwas einnehmen, teilen wir das Geld unter den Arbeitern auf. Auf das Geld kommt es an. Mal ist es genug, mal reicht es nicht. Wenn wir nichts verkaufen, gibt es auch keinen Lohn. Wir teilen, was wir haben, so wollen wir verhindern, dass sie betteln gehen.""

    Traditionell wird die Lepra in spezialisierten Kliniken wie dem Alert-Hospital in Addis Abeba behandelt. Seit einigen Jahren versuchen die Weltgesundheitsorganisation und Stiftungen wie die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe, den betroffenen Ländern dabei zu helfen, die Lepratherapie in das normale Gesundheitssystem zu integrieren. Denis Daumerie:

    "”Die Integration hat zwei Vorteile. Erstens sind die Ärzte leichter zu erreichen. Genauso wichtig ist, dass die Lepra wie eine ganz normale Krankheit diagnostiziert und behandelt wird. Die Patienten werden nicht mehr isoliert, sie bleiben in ihrem Dorf und nehmen die Tabletten zuhause. Das hat die Versorgung verbessert und zur Verringerung der Vorurteile beigetragen.""

    Entscheidend ist, dass die Ärztinnen und Schwestern sich auch mit der Lepra auskennen. Das Trainingsprogramm in Äthiopien organisiert die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe. Vor Ort ist Ahmed Mohammed zuständig. Er ist viel unterwegs, spricht mit Geldgebern und Ärzten, mit Sozialarbeitern und Patienten, vor allem mit Patienten. Er will sie ermuntern, selbst aktiv zu werden. Denn auf andere, auf das staatliche Gesundheitssystem können sie immer weniger bauen. Mohammed:

    "”Die Leute sterben an Aids, an Malaria, das kann man nicht ignorieren. Aids, Malaria und Tuberkulose werfen einen Schatten auf die Lepra, da können wir nicht weitermachen, wie vor zehn oder zwanzig Jahren. Die Ärzte sind mit HIV überlastet, überall sterben Menschen. Deshalb sind wir einen neuen Weg gegangen und haben Selbsthilfegruppen gegründet. Die Leute aus der Umgebung treffen sich einmal im Monat und untersuchen ihre Hände und Füße, ihre Augen. Das ist eine neue Einstellung. Nicht mehr der Doktor ist für meine Gesundheit verantwortlich, ich selbst bin verantwortlich.""

    Solche billigen und gleichzeitig effektiven Wege werden dringend benötigt, damit die Kontrolle der Lepra auch in Zeiten knapper Budgets weiter funktioniert. Hilfsinstitutionen und Regierungen investieren aber nicht nur in Low-Tech-Strategien, sie setzen auch auf Forschung.

    Nur wenige Schritte neben dem Alert-Hospital befindet sich das Armauer-Hansen-Forschungsinstitut. Der Name stammt von dem norwegischen Entdecker des Leprabakteriums, an Lepra wird in den Backsteinbungalows aber kaum noch gearbeitet. Die meisten Wissenschaftler interessieren sich mehr für die Tuberkulose oder Herpesviren. Nur Kidist Bobosha ist dem alten Schwerpunkt treu geblieben. Die junge Mikrobiologin reist bis in die entlegensten Gebiete, um endlich festzustellen, wie häufig die Lepra in Äthiopien tatsächlich ist. Bobosha:

    "”Dabei untersuchen wir nicht nur die Lepra, sondern auch andere Hautkrankheiten. Das soll den Gemeinden die Angst nehmen. Schließlich gibt es beim Thema Lepra viele Vorurteile. Wir informieren also die Gemeinden und dann werden wir von Haus zu Haus gehen.""

    Kidist Bobosha nimmt an, dass sie noch viele Patienten aufspüren wird, die in keiner Statistik verzeichnet sind. Anders lässt sich das gelegentliche Aufflackern der Lepra kaum erklären. In einem zweiten Projekt hilft sie, einen Frühtest für die Lepra zu entwickeln. Es braucht Jahre, bis die ersten Symptome auftreten, Jahre, in denen die Infizierten das Bakterium weiterverbreiten können. Bobosha:

    "”Wenn wir die Lepra früher diagnostizieren könnten, bevor die Symptome auftreten, etwa bei Mitbewohnern der Patienten, dann könnten wir sie behandeln, die Infektionsraten vielleicht wirklich senken und der Eliminierung der Lepra näher kommen.""

    Das Armauer-Hansen-Forschungsinstitut arbeitet auch mit Diana Lockwood in London zusammen. Sie interessiert sich besonders für die Nervenschädigungen. Sie breiten sich aus, selbst wenn das Leprabakterium durch die Behandlung längst vernichtet ist. Lockwood:

    "Die Nerven werden durch das körpereigene Immunsystem zerstört. Auch nach der Therapie finden sich immer noch Bruchstücke des abgetöteten Erregers in den Nerven und die können immer wieder Entzündungen auslösen. Wenn dieser Prozess einmal begonnen hat, ist er nur schwer wieder aufzuhalten."

    Besonders Patienten, die schon bei der Diagnose Nervenschäden aufweisen, zeigen eine solche sozusagen verspätete Immunreaktionen. Zurzeit werden sie mit Kortison behandelt, aber das, so Diana Lockwood, hilft nur der Hälfte der Patienten. Sie erprobt deshalb neue Wirkstoffe. Erste Ergebnisse aus Katmandu und Addis Abeba sind vielversprechend. Jetzt wird in der äthiopischen Hauptstadt eine große Studie vorbereitet. Diana Lockwood hofft, dass sich so Behinderungen in Zukunft abwenden lassen. Lepraforschung ist allerdings schwierig geworden, besonders, weil die Weltgesundheitsorganisation bis vor kurzem von der bevorstehenden Elimination der Lepra gesprochen hat.

    "”Wer will schon an einer Krankheit arbeiten, die bald eliminiert sein wird? Das ist bedauerlich, weil wir viele wichtige Fragen noch nicht beantwortet haben. Es wird auch schwieriger, Mittel zu beantragen. Die Lepraforschung wird hier doppelt getroffen, es gibt weniger Leute und weniger Geld, weil andere, schickere Krankheiten, das Geld und die Leute bekommen.""

    Das Lepraviertel gleicht den anderen armen Gegenden in Addis Abeba. Es gibt natürlich mehr Menschen mit Behinderungen, aber hier ist das ganz normal. Das Leben dreht sich nicht um die Krankheit, sondern um die Familie, das Essen, die Arbeit und wie überall, ums Geld. An einer Kreuzung liegt ein kleines ökonomisches Zentrum. Einige Wellblechhütten, das Cafe, Gemüsebeete, ein paar Esel.

    "”Hier hat unsere Kooperative angefangen, in diesem kleinen Raum haben wir Viehfutter verkauft und jetzt wird alles immer größer. Dieser Mann arbeitet hier seit acht Jahren, das hat sein Leben verändert.""

    Cheru Gabre, der Vorsitzende der Kooperative betritt stolz einen Raum mit Mais in großen Haufen, er wird mit Blechen in Säcke gefüllt, in ein Tuch geschlagen und einer alten Frau um die Schultern gebunden. Sie kann unter der Last kaum laufen, aber besser hier, im Viertel einkaufen, als noch weiter weg in der Stadt. Im Cafe gibt es Getränke und warme Mahlzeiten. In den acht Jahren haben Cheru Gabre und seine Kollegen aus dem Startkapital der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe viel gemacht. Gabre:

    "”Anfangs waren wir zu viert und hatten einen Kredit von 4000 Bir. Nach einem Jahr harter Arbeit betrug unser Kapital 27.000 Bir. Heute hat unsere Kooperative 39 Mitarbeiter. Ich habe als Tagelöhner angefangen, heute kann ich mich und meine Familie ernähren. Auch die anderen 38 konnten ihr Leben mit dem Geld verbessern, das sie in unserem Projekt verdienen.""

    Weltweit geht die Zahl der Leprapatienten ständig zurück. Waren es in den Achtzigern noch 12 Millionen sind es jetzt nur noch 250.000. Ein großer Erfolg der vielen Nicht-Regierungsorganisationen wie der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe und der Weltgesundheitsorganisation. Die WHO hatte sich bis vor wenigen Jahren auf die Fahnen geschrieben, die Lepra zu eliminieren. Erstaunlicherweise hat dieser Schritt viel Kritik hervorgerufen, auch Diana Lockwood hat in Fachzeitschriften und auf Kongressen gegen dieses Ziel argumentiert. Lockwood:

    "”Elimination hört sich großartig an, nicht wahr? Jeder will die Lepra eliminieren. Aber es gibt da Probleme. Als die WHO feststellte, wie schwer es ist, die Lepra ganz zu besiegen, hat sie eine Einschränkung gemacht. Eliminieren, das heißt jetzt, dass auf 10.000 Menschen weniger als ein Leprapatient in Behandlung kommt. Das bedeutet natürlich, dass es dann noch immer jede Menge Leprakranke auf der Welt gibt. Die meisten Menschen wissen nichts von dieser Einschränkung, dass es nur um die Reduktion unter einen Grenzwert geht und nicht um die komplette Heilung aller Patienten.""

    Das statistische Ziel der Elimination der Lepra in allen Ländern der Erde wird wohl noch in diesem Jahr erreicht werden. Hier haben die Lepraprogramme viel bewirkt. Um die Vorgabe der Elimination zu erfüllen, griffen manche Länder aber auch zu statistischen Tricks. So wurden aus Brasilien bis vor kurzem beschönigte Leprazahlen gemeldet. Die neue Regierung hat das jetzt korrigiert und kann wieder ausreichend Medikamente für das Land bei der Weltgesundheitsorganisation bestellen. Lockwood:

    "”Ich möchte noch auf ein anderes Problem hinweisen, und das hängt damit zusammen, wie man die Lepra angeht. Wenn es um die Eliminierung geht, dann stehen die Bakterien und die Antibiotika im Vordergrund und man ignoriert die chronischen Probleme der Leprapatienten. Die brauchen aber nicht nur Antibiotika, sie müssen informiert werden, damit sie ihre Hände und Füße schützen, man muss immer wieder die Entzündung der Nerven behandeln und Jahre später wird die größte Last für die Gesundheitssysteme die Therapie von Geschwüren sein.""

    Die Lepra ist also noch nicht besiegt. Nach wie vor stecken sich Menschen an, benötigen Patienten langfristige Hilfe. Nach langem Streit hat sich inzwischen auch die Weltgesundheitsorganisation dieser Position angeschlossen. In ihrer neuesten Strategie für die Lepra ist von Eliminierung keine Rede mehr. Trotzdem glaubt Denis Daumerie, dass das Konzept in der Vergangenheit wichtig war.

    "”Unser Hauptziel war sicherzustellen, dass möglichst früh behandelt wird, damit kein Leprapatient mehr eine Behinderung entwickelt. Die Strategie der Eliminierung hat Schwung in das Feld gebracht und dafür gesorgt, dass die Lepra über all den anderen drängenden Gesundheitsproblemen nicht vergessen wird. Der diesjährige Welt-Leprakongress markiert einen Wendepunkt. Die Zahl der Leprapatienten ist dramatisch gefallen und die Experten und Regierungen sind sehr daran interessiert, die Lepra nun ein für alle Mal unter Kontrolle zu bringen.""

    Im Cafe im Lepraviertel kann man sich kaum vorstellen, dass diese Krankheit in Addis Abeba einmal Geschichte sein wird, so wie sie in Europa Geschichte ist. Ahmed Mohammed von der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe ist stolz auf das, was er und seine Organisation in Äthiopien erreicht haben. Aber er ist auch davon überzeugt, dass er im Kampf gegen die Lepra noch einen langen Atem braucht.

    "”Wir dürfen die Lepra nicht vergessen. Wissen Sie, wir haben gesagt, wir rotten die Tuberkulose aus. Die Tuberkulose ist zurückgekommen. Wir haben gesagt, wir rotten die Malaria aus, sie ist zurück. Wir dürfen diesen Fehler nicht noch einmal machen. Wir müssen die Lepra im Auge behalten.""