Archiv

Unruhen im Irak
"Insgesamt ein gefährdeter Staat"

In Bagdad wird das Parlament besetzt, im Südirak tötet die IS-Terrormiliz Dutzende Menschen: Von einem gescheiterten Staat will Nahost-Experte Volker Perthes dennoch nicht sprechen. Es gebe auch Ansätze für eine positive Entwicklung, sagte der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik im DLF.

Volker Perthes im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
    Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. (Imago / Stefan Zeitz)
    So seien die letzten irakischen Wahlen "nach den Standards der Region frei und fair" verlaufen, so Perthes im Deutschlandfunk. Insgesamt aber sei der Irak ein "gefährdeter Staat". Vor allem der Kampf gegen den "Islamischen Staat" stelle das Land vor große Probleme.
    Demonstranten hatten am Wochenende die schwer gesicherte "Grüne Zone" im Regierungsviertel von Bagdad gestürmt und zeitweise das Parlament besetzt. Sie warfen der Regierung Korruption und Inkompetenz vor. Der schiitische Ministerpräsident Haider al-Abadi versucht seit Wochen, sein Regierungsteam durch ein neues Kabinett aus Experten zu ersetzen.
    Dafür zeigte der Politikwissenschaftler Verständnis: Das aktuelle System, nach dem Ämter nach Religionszugehörigkeit und nicht Qualifikation vergeben werden, befördere "Patronage und Korruption". Al-Abadi wolle Leute raussetzen, "die nur aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder familiären Zugehörigkeit in die Posten gekommen sind".

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Dirk-Oliver Heckmann: Versinkt der Irak jetzt vollständig im Chaos? Seit Monaten bereits ist die Politik dort gelähmt. Die Terrormiliz, die sich selbst Islamischer Staat nennt, kontrolliert weite Teile des Landes. Am Wochenende haben Tausende Anhänger des Schiitenführers al-Sadr sogar die schwer gesicherte Grüne Zone und das darin befindliche Parlament gestürmt. Sie unterstützen Ministerpräsident Maliki, der ebenfalls Reformen will und statt des bisher paritätisch nach Religion und Herkunft besetzten Kabinetts eine Expertenregierung einsetzen will.
    - Volker Perthes ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, jetzt bei uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Perthes.
    Volker Perthes: Guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Herr Perthes, die Amerikaner haben das System ja durchgesetzt, wonach die Regierung paritätisch besetzt wird. Das sollte ja dafür sorgen, dass alle Bevölkerungsteile vertreten werden. Ist diese Idee gescheitert?
    Perthes: Sie ist zumindest nicht besonders erfolgreich. Sie könnte vielleicht gelingen in einem gewachsenen demokratischen System, wo man sich dann einigt, dass alle Parteien, egal, wer gerade die Wahlen gewinnt, versuchen, alle Bevölkerungsgruppen zu beteiligen. Sinnvoller aber wäre wahrscheinlich, wenn man sagt, die Bevölkerungsgruppen, die konfessionellen, die ethnischen Gruppen sind in irgendeiner Form in einem Senat, einer zweiten Kammer beteiligt. Und im Parlament entscheiden die Wahlen und die Mehrheiten. Und in Situationen wie denen, die seit Jahren anhängen im Irak, wo grundlegende Reformen notwendig sind, da bringt man in erster Linie einmal die Technokraten an die Regierung.
    Heckmann: Weshalb ist das so, dass das keine so gute Idee offenbar gewesen ist? Welche Folgen hatte diese paritätische Besetzung des Kabinetts?
    Perthes: Na ja, wir haben das in verschiedenen Ländern der Welt. Wenn Sie sagen, ob Sie einen Ministerposten bekommen, hängt das davon, welcher Konfessionsgemeinschaft Sie angehören. Dann geht es nicht um erster Linie um Leistung und um Qualität, sondern um Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Das fördert die Tendenz, Mitglieder aus derselben Gruppe dann einzustellen im Bereich Ihres Ministeriums, also als Beamte oder als Fahrer oder als Wächter oder was auch immer. Wir haben relativ ethnisch und konfessionell einfarbige Ministerien, wo nicht Leistung, wo nicht Qualität zählt, sondern erneut die Zugehörigkeit. Das heißt, wir haben hier ein Rezept für Patronage und Korruption.
    Heckmann: Al-Maliki, der Ministerpräsident, der will ja Reformen, will eine Expertenregierung einsetzen, ebenso wie seine Anhänger, die jetzt das Parlament gestürmt haben. Wäre das eine sinnvolle Reform, oder muss man dann befürchten, dass Maliki damit auch nur dafür sorgen würde, dass seine eigenen Leute wiederum an die Macht kommen?
    Perthes: Sunnitische Bevölkerung fühlt sich ausgeschlossen
    Perthes: Sie meinen Herrn Abadi, der ja Herrn Maliki abgelöst hat vor knapp zwei Jahren. Herr Abadi, der Ministerpräsident, will in der Tat sein Kabinett mit Technokraten besetzen, weil er zurecht der Auffassung ist, dass nur Menschen, die ihm, dem gewählten, legitim gewählten Ministerpräsidenten loyal sind, dann in der Lage sind, diverse Knoten durchzuschlagen in den Ministerien, etwa Leute rauszusetzen, die nur aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder familiären Zugehörigkeit in die Posten gekommen sind, qualifizierte Leute auch in niedrigeren Rängen zu beschäftigen, Korruption zu bekämpfen und einfach Dinge zu machen, auf die die irakische Regierung wartet. Wir haben in einem Land, was ganz viel Öl exportiert, nach wie vor Probleme der Energieversorgung im Land. Mit den großen politischen und sicherheitspolitischen Problemen ist man nicht weitergekommen. Die sunnitische Bevölkerungsmehrheit fühlt sich nach wie vor ausgeschlossen. Und es gibt relativ viel Unterstützung für den sogenannten Islamischen Staat, weil sich Menschen in sunnitischen Gebieten von Schiiten oder Kurden übervorteilt fühlen. Wir haben einen ständigen Konflikt mit den kurdischen Gebieten im Norden. All das sind Probleme, die eigentlich dringender sein sollten, als noch einen neuen weiteren Minister zu bereichern.
    Heckmann: Abadi, Sie sagten es, der jetzt aktuelle Ministerpräsident, der hat die Sicherheitskräfte aufgefordert, die gewalttätigen Demonstranten zu inhaftieren, also seine eigenen Anhänger. Wie sehr entfernt er sich von seiner eigenen Basis?
    Perthes: Na ja, er muss das machen. Seine Koalition, seine Wahlkoalition heißt Staat des Rechts. Das ist erst mal nur ein Name, aber gleichzeitig muss er auch zeigen, dass er, egal, was seine ideologischen Freundschaften oder Orientierungen sind, dass er den Staat sich durchsetzen lässt, dass er das Recht sich durchsetzen lässt. Und wenn dann Polizeisperren durchbrochen werden und wenn ein Parlament verwüstet wird, dann sind das Rechtsbrüche. Und da muss er zumindest zeigen, dass er einen Teil derjenigen, die diese Bewegung angeführt haben, sicherlich nicht alle Tausende, die dort durch die Betonwälle gebrochen sind, aber dass er zumindest einige von denen festnehmen und auch vor Gericht stellen lässt.
    Heckmann: Diejenigen, Herr Perthes, die das Parlament gestürmt haben, die folgten ja einem Protestaufruf des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadr. Wie mächtig ist dieser Mann? Was will er?
    Perthes: Er ist erstens eine schillernde und sehr flexible Figur, der nicht nur, aber vor allem im schiitischen Milieu und da bei den Unterschichten eine große Anhängerschaft hat. Im Parlament verfügt er etwa über zehn Prozent der Sitze. Er ist damit ein bisschen so etwas wie ein Königsmacher auch für Ministerpräsident Abadi geworden. Aber vor allem hat er die Chance, auf der Straße sehr, sehr viele Leute zu mobilisieren, vor allem in der nach seinem, noch von Saddam Hussein ermordeten Vater benannten Vorstadt, Sadr City, einer Armenvorstadt von Bagdad. Er hat sich einen zweifelhaften, vor allem im Westen zweifelhaften, aber bei seinen Anhängern echten Ruf erworben, dadurch, dass er erst nach 2003 gegen die Amerikaner gekämpft hat mit seiner Miliz, dass er dann in konfessionalistischen Aussetzungen/Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten, auch üble Akte gegen Teile der sunnitischen Bevölkerung hat verüben lassen. Und dass er in einer späteren Phase, also jetzt gesagt hat, er tritt ein für gute Regierungsführung, für die Versöhnung zwischen Sunniten und Schiiten. Und diese Versöhnung - und da hat er sicherlich nicht ganz Unrecht - ließe sich am ehesten erreichen, wenn die Regierung nach Standards der guten Regierungsführung arbeite, also weniger Korruption, weniger Patronagen.
    Heckmann: Die Offensive gegen den sogenannten Islamischen Staat ist ja in den vergangenen Wochen ins Stocken geraten. Profitieren die Islamisten von diesem Konflikt?
    Perthes: Lähmung nützt dem sogenannten Islamischen Staat
    Perthes: Diese Art der Islamisten, die den islamischen Staat tragen, profitieren tatsächlich davon, dass die Regierung in Bagdad sich selber lähmt. Sie profitieren auch davon, dass die Regierung in Bagdad bei ihren Versuchen, den Islamischen Staat militärisch zurückzudrängen, sich häufig auf schiitische und kurdische Milizionäre verlässt, die in den kernsunnitischen Gebieten dann eher als Gegner, vielleicht sogar als Besatzer betrachtet werden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass der lange angekündigte Vormarsch auf Mossul, auf die zweitgrößte Stadt des Irak, die unter der Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates steht, dass dieser Vormarsch nicht stattgefunden hat bislang.
    Heckmann: Herr Perthes, wenn man sich die ganze Entwicklung jetzt anguckt, muss man dann davon sprechen, dass der Irak ein Failed State ist, oder sehen Sie auch Ansätze für eine positive Entwicklung?
    Perthes: Es gibt Ansätze für eine positive Entwicklung. Das waren zum Beispiel die letzten Wahlen, die nach den Standards zumindest der Region und nach den Fähigkeiten, die man hier hat, frei und fair waren. Gleichwohl ist das, ich würde nicht sagen, ein gescheiterter Staat. Das ist er allenfalls regional in einzelnen Teilen des Landes, etwa in den Gebieten, die der IS kontrolliert. Aber es ist insgesamt ein gefährdeter Staat.
    Heckmann: Der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes, war das über die Entwicklung im Irak. Hier haben am Wochenende Hunderte Demonstranten das Parlament gestürmt. Herr Perthes, danke Ihnen für Ihre Einschätzungen.
    Perthes: Sehr gerne! Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.