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"Uns fehlen ganz normale Facharbeiter"

Der Vorschlag des Bundeswirtschaftministers, den Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften durch ein Begrüßungsgeld anzufachen, stößt bei SPD-Chef Sigmar Gabriel auf Ablehnung. Es bestehe ein breitflächiger Fachkräftemangel, der nur durch die bessere Ausbildung von Jugendlichen in Deutschland zu beheben sei.

Sigmar Gabriel im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 03.08.2010
    Dirk-Oliver Heckmann: Er galt als die Fehlbesetzung im zweiten Kabinett Merkel und drohte bereits zur Lachnummer zu werden: Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle. Doch seit er sich bei der Frage der Staatshilfen für Opel durchgesetzt hat, kann der FDP-Politiker vor Kraft kaum laufen und bestimmt seitdem mit immer neuen Vorschlägen die Schlagzeilen. Zuletzt brachte er ins Spiel, den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte durch ein Begrüßungsgeld anzufachen, um dem drohenden Facharbeitermangel zu begegnen. Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ aus ihrem Urlaub ausrichten, eine Änderung des entsprechenden Gesetzes, das erst seit Anfang 2009 in Kraft ist, halte sie derzeit nicht für erforderlich. Am Telefon begrüße ich Sigmar Gabriel, den Chef der SPD – guten Morgen, Herr Gabriel!

    Sigmar Gabriel: Guten Morgen, ich grüße Sie!

    Heckmann: Ist das Begrüßungsgeld für Brüderle also der Rohrkrepierer, der die Greencard für Altkanzler Gerhard Schröder vor zehn Jahren war?

    Gabriel: Bei Greencard ging es um die Anwerbung von hoch spezialisierten Leuten für die IT-Branche, die Bedingungen für solche Menschen, nach Deutschland zu kommen, sind nach wie vor zu restriktiv, auch damals sind die Angebote nicht gut genug gestaltet worden. Aber worüber wir jetzt reden, ist doch ein ganz breitflächiger Fachkräftemangel, und es ist doch Unsinn zu glauben, dass wir das mit der Anwerbung von Spitzenkräften lösen. Uns fehlen ganz normale Facharbeiter in der Metall- und Elektroindustrie, uns fehlen zum Teil Handwerksgesellen, Meister, Techniker, gut ausgebildete Angestellte. Und da müssen wir mal über unser Bildungssystem reden und die Frage stellen: Bevor wir Ausländer einladen, zu uns zu kommen, warum machen eigentlich 40 Prozent der ausländischen Jugendlichen in Deutschland keinen berufsqualifizierenden Abschluss?

    Heckmann: Aber Horst Seehofer sagt ja, Herr Gabriel, zunächst müsse das hier lebende Arbeitskräftepotenzial ausgenutzt werden, und Jürgen Rüttgers, der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen von der CDU, der prägte den Slogan: Kinder statt Inder. Dem können Sie sich ja nun anschließen.

    Gabriel: Ich weiß nicht, ob es darum geht, ob Kinder oder Inder, in Deutschland leben vermutlich auch indische Kinder, aber auf jeden Fall leben viele Kinder in Deutschland, insbesondere von Eltern, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind, die, ich wiederhole, keinen berufsqualifizierenden Abschluss machen. Bevor wir darüber reden, andere einzuladen, müssen wir die doch mal vernünftig ausbilden. Und zweitens: Bei uns ist es immer noch so, dass jemand aus dem Ausland bei uns studiert hat, hinterher wieder nach Hause muss, anstelle denen das Angebot zu machen, du darfst in Deutschland bleiben. Übrigens, man muss denen auch das Angebot machen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen. Da sperren sich ja CDU/CSU und FDP wie der Teufel gegen das Weihwasser, auch die doppelte Staatsbürgerschaft zu akzeptieren, einfach um Menschen zu sagen, bleib hier, dafür musst du deine kulturellen Bindungen nach Hause nicht kappen. Und da hilft kein Begrüßungsgeld. Und das eigentliche Thema, um das wir uns zu kümmern haben, ist: Wie schaffen wir es, dass mehr Bildung, mehr Geld in die Bildung, in Kindergärten, in Familienzentren, in Ganztagsschulen hineingehen? Das ist sozusagen die Antwort auf die Frage. Die Bundesregierung bietet immer Geld an die Länder an, um die Spitzenforschung zu fördern, unser Problem ist aber, dass bis dahin gar nicht genug Leute kommen.

    Heckmann: Bis Änderungen im Bildungssystem Früchte tragen, dauert es übrigens eine Zeit, ...

    Gabriel: Na jedenfalls…

    Heckmann: ... aber jetzt ist es so, dass heute schon 36.000 Ingenieure fehlen – Pardon, Herr Gabriel, ich möchte meine Frage kurz noch zu Ende stellen –, wie möchten Sie diese 36.000 Ingenieure aus dem Kreis der Hartz-IV-Empfänger rekrutieren?

    Gabriel: Ist doch Unsinn, was Sie gerade erzählen. Als Entschuldigung, was Sie eben gesagt haben, vergleicht, 40 Prozent der ausländischen Jugendlichen mit Hartz-IV-Empfängern – ich sage Ihnen mal, das sind doch keine dummen Kinder oder Jugendlichen. Das sind Leute, die man anständig fördern muss, zum Beispiel durch eine gute Familienbildung bereits im Kindergarten, in den Grundschulen, in den Hauptschulen, in den Realschulen. Warum bieten wir denen keine Stipendien an, wenn sie nach einer Berufsausbildung Meister, Techniker oder Ingenieur werden wollen. Und darum geht es doch konkret: Was machen wir in Deutschland, um in Deutschland mehr junge Leute zu höheren Bildungsabschlüssen und auch zum Studium zu bekommen. Wenn wir dieser Frage ständig dadurch ausweichen, dass wir sagen, immer wenn es knapp wird, dann kaufen wir uns Leute aus dem Ausland ein, werden die erstens nicht kommen, schon gar nicht für ein Begrüßungsgeld, solange wir ihnen nicht überhaupt keine Einkommensgrenzen setzen, wie das heute noch der Fall ist, solange wir ihnen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft anbieten. Aber vor allen Dingen ist doch nicht das Problem auf breiter Fläche dadurch zu lösen, dass wir Ingenieure einladen. Wie gesagt, sie haben heute schon Mangelerscheinungen in ganz normalen Facharbeiterberufen, und mit Verlaub, ich glaube nicht, dass 40 Prozent der ausländischen Jugendlichen in Deutschland zu dumm sind, das zu lernen.

    Heckmann: Ganz ohne Zuzug wird es ja dennoch nicht gehen, das hat auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise gesagt, es müsse in einem zweiten Schritt schon auch um die Anwerbung ausländischer Fachkräfte gehen. Weshalb aber gelingt das nicht – Sie haben es gerade eben schon angedeutet –, liegt das daran, an dem hohen Verdienst, den man nachweisen muss, derzeit sind das 64.000 Euro im Jahr?

    Gabriel: Also im zweiten Schritt haben Sie recht, das ist schon wichtig, auf den ersten und den zweiten Schritt in der Reihenfolge hinzuweisen und nicht immer wieder über eine Debatte zu beginnen, erst mal einzuladen. Es gelingt aus mehreren Gründen nicht: Wir haben keine wirkliche Einwanderungskultur, das sehen Sie schon daran, dass in den Vereinigten Staaten natürlich die Leute nicht nur eine Greencard bekommen, sondern im Zweifel auch die amerikanische Staatsbürgerschaft. Wir haben keine Angebote, wo die den Eindruck haben, unsere Kinder werden hier in den Schulen auch vernünftig gefördert. Wir sind ein Land, das sich über 20, 30 Jahre verweigert hat der Erkenntnis, ein Einwanderungsland zu sein, und haben in dieser Zeit eine ungesteuerte Zuwanderung gehabt, bei der wir eher Menschen bekommen haben, die sozusagen das Sozialleistungssystem im Auge hatten, als hoch qualifizierte.

    Heckmann: Aber sind Sie konkret dafür, die Verdienstgrenzen zu senken?

    Gabriel: Ja, natürlich. Die Verdienstgrenzen müssen Sie senken, Sie müssen nachweisen, dass die Leute sozusagen unabhängig von Sozialhilfe leben können, und Sie müssen ihnen auch das Angebot machen, deutscher Staatsbürger zu werden. Die wollen doch nicht hier ein paar Jahre zu Gast sein und den Eindruck haben, wenn wir hier geholfen haben, dann schmeißen die uns wieder raus. Und als Erstes fangen wir doch an, mal den Studenten, die hier ein technisches, ein Universitätsstudium, ein Ingenieursstudium gemacht haben, die absolvieren das hier, zum Teil kriegen sie aus Deutschland Stipendien, um hier studieren zu können, und wenn sie fertig sind, dann schicken wir sie nach Hause. Auf die Idee würde kein Amerikaner kommen.

    Heckmann: Herr Gabriel...

    Gabriel: Ohne zu sagen, die Besten von euch können hier bleiben.

    Heckmann: Herr Gabriel, der wirtschaftspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Joachim Pfeiffer, der hat eine Kontingentlösung ins Spiel gebracht, man müsste jedes Jahr im Prinzip dann neu festlegen, wie viele Leute man brauche. Wäre das ein gangbarer Weg?

    Gabriel: Das ist so lange kein gangbarer Weg, solange CDU/CSU und FDP in der Bildungspolitik für die hier lebenden Kinder nichts tun. Das kann doch nicht wahr sein, dass wir sagen, hier machen wir nichts und legen aber ein Kontingent von Zuwanderung fest. Ich glaube, der erste Schritt wäre, deutsche Schulen in Osteuropa zu bauen, Goethe-Institute auszubauen. Die Leute, die dort ein Ingenieurstudium gemacht haben, einzuladen, bei uns ein Zusatzstudium, Postgraduierten für Wirtschaft zu machen – das wollen ganz viele. Das machen auch die Amerikaner, die Besten von denen bleiben da. Die zurückgehen, orientieren ihre Unternehmen in Richtung USA, nicht nach Europa. Warum sollen wir das Gleiche, Ganze nicht mit Osteuropa, mit Russland ebenfalls so tun? Also die einladen, die sagen, nach unserem Ingenieurstudium wollen wir ein Aufbaustudium Wirtschaft haben, wir können in Deutschland ein Postgraduierten-Studium machen, und wenn wir es exzellent abschließen, können wir in Deutschland bleiben, kriegen eine Arbeitserlaubnis, können uns einen Job suchen – und übrigens, kriegen auch das Angebot, deutsche Staatsbürger zu werden.

    Heckmann: Wir sprechen mit SPD-Chef Sigmar Gabriel. Herr Gabriel, das Bundesverfassungsgericht hat im Februar aufgegeben, die Hartz-IV-Sätze für Erwachsene und auch für Kinder neu zu berechnen. Bisher sind die Sätze ja an die Rentenentwicklung gekoppelt, künftig wird es wohl eine Kopplung an die Inflation und die Nettolöhne geben. Linken-Chef Klaus Ernst lobt diese neue Kopplung – Sie auch?

    Gabriel: Ja, das ist ein vernünftiger Vorschlag, ob das Verfassungsgericht das dann so macht, werden wir abwarten müssen, aber klar ist schon beim Gerichtsurteil gewesen, durch die Fragen, die das Verfassungsgericht gestellt hat, war klar, dass die Hartz-IV-Sätze tendenziell eher steigen werden. Und ich finde, Frau von der Leyen muss es sich gar nicht so schwer machen, wenn sie was für Kinder und Jugendliche tun wollen, dann soll sie einfach zur alten Regelung zurückkehren, da gab es nämlich Sonderbedarfe für diejenigen, die also erwachsene Kinder hatten, die schulpflichtig waren. Das konnte man nicht missbrauchen, sie mussten nachweisen, dass das Kind einen Computer will oder nachweisen, dass das Kind bei einer Schulveranstaltung dabei sein muss. Und dann kriegten sie Sonderbedarfe. Das ist bei der Pauschalierung der Hartz-IV-Regelsätze mal abgeschafft worden, das ist sicher ein Fehler gewesen, und sozusagen zurück zur alten Regelung zu kehren, Eltern die Möglichkeit zu geben, wenn sie für ihre Kinder, die zur Schule gehen, einen bestimmten Bedarf haben, damit die Kinder da mitmachen können, ihnen diesen Bedarf auch zu erstatten. So war das früher, das ist auf Wunsch mancher damals pauschaliert abgeschafft worden, ich glaube, das war ein Fehler, und damit wäre sie schnell raus aus der jetzigen Debatte.

    Heckmann: Frau von der Leyen sagt, erst im Herbst werde feststehen, wie hoch der Satz dann aussehen wird, und es gebe keine Hinweise darauf bisher, dass die 400 Euro, die jetzt im Spiel sind, erreicht werden, denn der Satz soll sich am Bedarf orientieren. Machen Sie Ihre Zustimmung, die Zustimmung der SPD im Bundesrat abhängig davon, dass der Satz auf 400 Euro erhöht wird?

    Gabriel: Wir machen unsere Zustimmung davon abhängig, ob die Ansprüche des Verfassungsgerichts erfüllt werden. Da wir die noch nicht kennen, müssen wir die Frage so lange zurückstellen, bis das Verfassungsgericht klar gesagt hat, was sind seine Bedingungen für die Berechnung der Regelsätze?

    Heckmann: Und musste nicht berücksichtigt werden der Aspekt, dass das Lohnabstandsgebot eingehalten wird?

    Gabriel: Bin ich auch für, und zwar dadurch, dass man gesetzliche Mindestlöhne einführt. Man kann das Lohnabstandsgebot nach dem Verfassungsgerichtsurteil Gott sei Dank nicht mehr dadurch herbeiführen, indem man sagt, wir lassen zwar Leute für wenig Geld arbeiten, aber damit die, die gar nicht arbeiten können, weniger haben, kürzen wir denen ständig die Regelsätze. Das ist sozusagen ein Krieg zwischen denen, die nichts haben, und denen, die noch ein bisschen was haben. Dem hat das Verfassungsgericht einen Riegel vorgeschoben. Das Lohnabstandsgebot, dass jemand arbeiten geht und davon mehr hat als jemand, der nicht arbeiten geht, muss man dadurch hinbekommen, dass die Menschen, die arbeiten gehen, Mindestlöhne bekommen. Es kann ja nicht sein, dass jemand fünf Tage in der Woche hart arbeiten geht, sieben, acht Stunden am Tag, und am Ende des Monats muss er zum Sozialamt gehen, weil er die Miete nicht bezahlen kann. Das müssen Sie über Mindestlöhne absichern, aber nicht dadurch, dass sie ständig die Regelsätze absenken.

    Heckmann: Über den Facharbeitermangel in Deutschland und die geplante Hartz-IV-Reform haben wir gesprochen mit Sigmar Gabriel, dem Bundesvorsitzenden der SPD. Herr Gabriel, ich danke Ihnen für das Gespräch!

    Gabriel: Bitte, tschüss!