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„Uns ist in alten Mæren wunders vil geseit...“

Rund 2400 Strophen hat das Nibelungenlied, und wer es komplett erzählen wollte, bräuchte dafür fast zehn Stunden Zeit. Ein typischer Fall von Überlänge. Und doch hat die Dichtung alles, was das Publikum so liebt: Es ist eine Art Krimi und Klatschgeschichte aus der High Society des Hochmittelalters, mit Liebe, Leidenschaft, Verrat und Mord, mit Intrigen, Gier und Standesdünkel, mit schönen Frauen, tarnkappenbewehrten Helden, Wunderwaffen und actiongeladenen Massenszenen wie der finalen Saalschlacht. Was also will man mehr? Und doch: es ist ein Stück Literatur, von Hand auf Pergament geschrieben in einer schwergängigen Sprache, die selbst Spezialisten quält.

Johannes Halder |
    Literatur: wie stellt man die aus? Die Karlsruher Schau rückt die kostbaren Originalmanuskripte dramaturgisch geschickt an den Schluss. Das steigert die Spannung. Denn erst im letzten Raum sind die drei Haupthandschriften A, B und C zu besichtigen in klimatisierten Glastresoren wie im Keller einer Bank. Nüchternes Techno-Design mit Stahlblechplatten, sterile Laboratmosphäre. In den Vitrinen daneben dämmern Fragmente und jüngste Forschungsfunde wie der aus diesem Sommer. Da nämlich machte, so berichtet die Handschriftenexpertin Ute Obhof, ein Mainzer Bibliothekar in einem Buchdeckel eine Entdeckung:

    Er hat im Einband den Abdruck der Schrift einer Nibelungenliedhandschrift gefunden, die im 15. Jahrhundert von einem Buchbinder zerschnitten wurde wegen des Materialwertes des Pergaments.

    Die Umsetzung der literarischen Quellen in lebendige Geschichte leistet der erste Teil der Schau, der das Epos in Exponaten und Inszenierungen nacherzählt mit den wichtigsten Schauplätzen und Reisestationen und so ein farbiges Bild rekonstruiert vom höfischen Leben des Hochmittelalters mit seinem Jagd-, Turnier- und Minnewesen und dessen feudalen Ritualen, wobei man sich nicht stören darf an falschen Trophäen wie einem Siegfried-Sarg oder an albernen Dekorationen wie Plasmabeuteln voller Blut. Kuratorin Heidrun Jecht:

    Schwerpunktmäßig wollen wir schon die höfische Kultur darstellen. Das heißt, bei Kleidung haben wir sehr schöne Stofffragmente, das sind natürlich wertvolle Stoffe, Purpurstoffe, Seidenstoffe, nicht das einfache Baumwoll-Sackleinen, das der einfache Bauer getragen hat. Es sollte eben kein Rundumschlag sein, Sachkultur um 1200, sondern ganz eng verknüpft mit dem Nibelungenlied, und der Nibelungendichter schildert eben schon die höfische Kultur.

    Ebenso erstaunlich wie verhängnisvoll ist die Wiederentdeckung des Nibelungenlieds seit der Romantik und seine von einem kleinen, aber einflussreichen Bildungsbürgertum betriebene Verklärung zum deutschen Nationalepos, denn der historische Plot bietet eigentlich keinerlei Anlass für eine solche Rezeption. Aber, so sagt Ute Obhof:

    In dieser Zeit gab es ein Bedürfnis, dass die Deutschen doch auch einen Text hätten wie die Ilias, und das war ein Fund, der in den Zeitgeist gepasst hat.

    Die Sucht nach Helden, selbst wenn deren Ende alles andere als triumphal ist, grundierte schließlich Richard Wagners germanisierende Nibelungen-Adaptionen oder Fritz Langs "dem deutschen Volke" gewidmeten Stummfilm von 1924, in deren Gefolge sich auch die Nazis aus diesem Mythenbaukasten bedienten – so, als Hermann Göring im Januar 1943 den Durchhaltewillen der deutschen Soldaten im Kessel von Stalingrad beschwor und sich mit bellender Stimme in einen rhetorischen Blutrausch steigerte:

    Wir kennen ein gewaltiges, heroisches Lied von einem Kampf ohnegleichen, das hieß "Der Kampf der Nibelungen". Auch sie standen in einer Halle von Feuer und Brand und löschten den Durst mit eigenem Blut – aber kämpften und kämpften bis zum Letzten.

    Das Zitat ist nur eine Geschichte vom zynischen Missbrauch eines Mythos. Auch Hagen, der tragische Held, ahnte seinerzeit, als er die Donau hinauffuhr an den Hof der Hunnen, dass es wohl keine Rückkehr gäbe vom Gemetzel auf der Etzelburg. Aufhalten ließ er sich nicht. Aber vielleicht ist diese Lust am Untergang ja typisch deutsch?