Stoßstange an Stoßstange schieben sich die morgendlichen Blechkolonnen zur Straßenkreuzung vor der Islamischen Universität vor: Verbeulte, altersschwache Peugeots, relativ gepflegt aussehenden VW Golfs, sechstürige orangefarbene Mercedes-Taxis, daneben immer wieder Eselskarren, die meist von älteren Jugendlichen gelenkt werden.
Blau uniformierte Polizisten der herrschenden Hamas stehen inmitten des Gewimmels, dirigieren mit ungeduldigen Handbewegungen den nicht abebbenden Verkehrsstrom, machen von ihren schwarzen Trillerpfeilen großzügigen Gebrauch. Das Warenangebot der kleinen Einzelhandelsläden entlang der Mushtir-Straße, einer der Haupteinkaufsmeilen in Gaza-Stadt - vermittelt den Eindruck, als ob es die langjährige Wirtschaftsblockade Israels, die Ende Juni 2010 von der Regierung Netanjahu ein wenig gelockert worden ist, nicht gäbe: Von Laptop-Computern, über Handys, Textilartikel, Elektroprodukten reichen die Erzeugnisse, die in den Auslagen der Geschäfte zu sehen sind, vieles davon kommt unverändert durch die Tunnel zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen.
Doch kaufen können sich das nur sehr Wenige. Denn die Anzahl derjenigen Palästinenser, die aus eigenen Mitteln nicht mehr für ihre Nahrung aufkommen können, steigt nach übereinstimmenden Angaben internationaler Hilfsorganisationen von Jahr zu Jahr. Inzwischen sind es knapp eine Million Menschen, die für Essen und Trinken nicht mehr selbstständig sorgen können, zwei von drei Einwohnern des Küstenstreifens. Auf internationale Hilfe sind mittlerweile 80 Prozent der Bevölkerung angewiesen. Von den 25.000 Häusern, die während des Gaza-Krieges von den israelischen Streitkräften vollständig bzw. teilweise zerstört worden sind, liegen 78 Prozent unverändert in Trümmern.
Das Friseurgeschäft von Mohammed Abu Hasira liegt einige Seitenstraßen von Stadtzentrums Gazas entfernt: Ein schmaler Laden von vielleicht 60 Quadratmetern, dessen gläserne Eingangstür jetzt, im nasskalten Januar, geschlossen bleibt. Auch der Vogelkäfig mit den bunten Kanarienvögeln steht nicht – wie sonst während des fast ganzen Jahres - auf dem Bürgersteig, sondern hinten im Laden, vor der kleinen Teeküche. Die Kundschaft lässt an diesem Morgen auf sich warten.
Mohammed, ein stämmiger Mann von 33 Jahren, freut sich über den ausländischen Besucher. Natürlich erinnere er sich noch gut an unser Gespräch vor zwei Jahren, hier in seinem Friseurgeschäft, wenige Tage nach dem Ende des Gaza-Krieges. Damals sprach der Familienvater von seinen fünf Kindern, die er zusammen mit seiner Frau während der drei Wochen zu beruhigen versucht habe, in denen ohrenbetäubenden Einschläge, Explosionen, der Lärm von Kampfflugzeugen und Apache-Helikoptern die tägliche und nächtliche Geräuschkulisse in Gaza gebildet hatten. Mohammed am 22. Januar 2009:
"Zunächst sieht man sich einer Menge Fragen der Kinder ausgesetzt: Warum fliegen diese Flugzeuge? Was sind das für Stimmen? Sie fangen an, große Angst zu bekommen, sie sind verunsichert, erschrocken. Sie schlafen nachts nicht. Sie essen wenig, sie schreien viel. Sie bekommen psychische Probleme. Diese Situation ist für die Kinder sehr tragisch. Man ist hin und her gerissen, man will sich selber schützen, die Kinder schützen, das Haus schützen. Man weiß nicht, wo diese Rakete einschlagen wird. Das ist die Situation, in der wir leben."
Und heute? Wie geht es heute seinen drei Töchtern, die inzwischen vierzehn, acht und fünf Jahre alt sind und den zwölf- und zehnjährigen Söhnen? Was hat sich seitdem für ihn und seine Familie verändert? Während der Friseur den Gast auf einen der vier Drehstühle bittet und routiniert mit seiner Arbeit beginnt, gibt er auf die Fragen offenherzig zurück:
"Jetzt, wo dieser ganze Schrecken zu Ende ist, der uns so beschäftigt hat, vor allem als wir nach Ende des Krieges gesehen haben, welch verheerende Folgen dieser Krieg für Familien und Häuser, Verletzte und Verstümmelte hatte, jetzt ist man zurückblickend natürlich entspannter. Der Krieg und die Gefahr sind vorbei, deshalb fühlen meine Familie und ich uns jetzt zwei Jahre nach dem Krieg besser."
Die Stimmung in seinem Friseurgeschäft habe sich in den vergangenen zwei Jahren allerdings nicht aufgehellt. Zwar habe er beobachten können, wie sich bei vielen Kunden die originäre Schockstarre gelöst habe, das zerstörte Insichgekehrtsein, von dem Mohammed im Januar 2009 gesprochen hatte. Doch die vormalige Unbeschwertheit, das Lachen, das früher oft in seinem Laden zu hören gewesen sei, sei nicht wiedergekehrt, sagt er:
"Das hat sich nicht verändert, dieses Verstummtsein unter meinen Kunden im Laden. Wissen Sie, ich kann meine Kunden in zwei Gruppen einteilen: Die große Mehrheit der Kunden ist verstummt. Die sind nachdenklich, deprimiert, die denken über ihren Alltag nach, wie sie an Geld gelangen können und wenn sie ein Einkommen haben, wie sie das Geld aufteilen, damit es für die Ernäherung der Familie reicht. Die andere Gruppe redet über Fatah und Hamas. Die große Mehrheit hat Angst vor der Zukunft. Die alltäglichen, fröhlichen Themen, die wir hier früher hatten, die nichts mit Politik zu tun hatten, die sind zurückgegangen. Das spüre ich in meinem Laden."
Es ist früher Abend, als wir uns auf den Weg zur Familie Abu Medden machen. Die Lichter der Autoscheinwerfer müssen nicht allein die Dunkelheit durchdringen, sondern auch den Staub und Sand, den der Wagen auf den porösen, schlaglochübersäaten Straßen hochwirbelt und die Sicht noch schlechter macht, als sie ohnehin schon ist. Die Fahrt führt durch die südlichen Stadtteile von Gaza, vorbei an Fabrikhallen, kleineren Metall- und Reparaturbetrieben, dann auf die Saladin-Straße nach Süden, eine vierspurige, große Ausfallstraße, die in circa zwei Kilometer Abstand parallel zum israelischen Grenzzaun verläuft, der bereits Anfang der 90er-Jahre auf Befehl des damaligen Verteidigungsministers Yitzhak Rabin errichtet worden ist.
Beim Flüchtlingslager Burej biegt unser Fahrzeug nach Osten, Richtung Grenze. Auf der schmalen Straße tauchen immer wieder spielende Kinder in das Licht der Scheinwerfer. Wie aus dem Nichts überholen uns johlend zwei Jugendliche auf einem dieser chinesischen Motorräder, wie sie seit Jahren schon aus den Tunneln nach Gaza gelangen. Schließlich halten wir vor dem Haus der Familie. Das zweistöckige Gebäude liegt scheinbar verlassen in der Dunkelheit, kein einziges Fenster ist erleuchtet. Der Vater sei noch in der Moschee, beim Abendgebet. Er würde aber gleich wieder zurückkommen, sagt eine der Töchter, die nach mehrmaligem, lautem Klopfen an die grüne, metallene Eingangspforte gekommen ist. Kurz darauf erscheint Heider Abu Medden, ein schmaler Mann von Anfang 50.
"Leider hat sich zwei Jahre nach dem Krieg die Situation verschlechtert. Die Entwicklung geht rückwärts. Es gibt keinen Zentimeter Verbesserung, verglichen mit den Umständen, die damals geherrscht haben."
Den Landwirt und seine Familie hatten wir am Abend des 21. Januar 2009 aufgesucht, einige Tage zuvor war sein Bruder Samy von einer Rakete eines israelischen Kampfhubschraubers getötet worden, auf dessen Grundstück in der Nähe der früheren jüdischen Siedlung Netzarim, auf dem sich keine Bewaffneten der Hamas befunden hätten. Heider harrte bis zur Waffenruhe zusammen mit rund 100 Familienangehörigen und Nachbarn in seinem Elternhaus aus. Damals gab uns Heider auf die Frage zurück, ob die israelischen Einheiten bis an sein Gebäude vorgerückt seien:
"Nein, nein. Sie drangen nicht bis hierher vor. Sie standen 800 Meter von hier an der Grenze. Sie schossen Phosphor ab, gefolgt von einem Luftangriff. Einer wurde verletzt, die anderen konnten nicht mehr atmen, und danach begann ein Panzer zu schießen."
Jetzt sitzt Heider Abu Medden zusammen mit seinen drei erwachsenen Töchtern und zwei jungen Männern im kargen, kalten Wohnzimmer seines Hauses. Zierliche Teegläser, in denen einige Minzeblätter schwimmen, stehen auf den Beistelltischchen. Heider stammt aus einer wohlhabenden Familie. Sein Vater verfügte über erheblichen Grundbesitz im Gaza-Streifen, den er unter seinen Söhnen aufteilte. Zu seiner Situation heute, zwei Jahre nach dem Krieg, sagt der Landwirt:
"Unmittelbar nach dem Krieg, dem Leiden und dem Verlust unseres Bruders haben wir gedacht, aus dieser Katastrophe kann eine Hoffnung entstehen. Es wird vorwärtsgehen. Wir haben trotz der Schmerzen ein Licht am Ende des Tunnels gesehen, im Bezug auf unsere innere Situation, dass wir daraus eine Lehre ziehen und dass die Gesellschaft solidarisch zusammenhält. Aber leider sind wir verbittert und in eine Situation geraten, in der wir das Gefühl haben: An unserem Leiden bereichert sich eine Gruppe von Menschen, die nur an die Macht und an sich denkt und diese Lage nur für sich ausnutzt und nur daran denkt, an der Macht zu bleiben, egal unter welchen Umständen, und nur ihre Leute zu versorgen. Leider sind wir - verglichen mit unserer Moral vor zwei Jahren, vor dem Krieg - in einer schlechteren Situation."
Nur wenige Palästinenser im Gaza-Streifen trauen sich noch wie Heider, gegenüber ausländischen Journalisten etwas Negatives über die Hamas zu sagen. Alle Einwohner des abgeriegelten Machtbereichs der herrschenden Palästinenser-Organisation wissen, dass sie sich mit Kritik oder gar offener Ablehnung der Hamas gefährlichen Ärger einhandeln können, von Vorladungen, über Verhaftungen und Folter, bis hin zum Verlust des Lebens.
"Alle haben Angst. Die Herrscher regieren mit eiserner Faust. Die Menschen sagen sich: Wer bin ich schon, der Kritik üben soll. Lass doch die anderen Kritik üben."
Neben Heider Abu Medden sitzt ein junger Mann, der sein Universitätsstudium abgeschlossen und – wie nahezu alle Hochschulabsolventen, die keine Kontakte zur Hamas haben – keine Arbeit hat. Seinen Namen wolle er lieber nicht nennen, sagt der Mann, um dann seine Analyse der Lage der Palästinenser im Gaza-Streifen abzugeben: Sie lebten unter einer "doppelten Besatzung", unter der Besatzung durch Israel, die den Küstenstreifen mit eisernem Griff von außen umklammere, und unter der Besatzung durch die hier herrschende Hamas, die sich an der Bevölkerung schadlos halte:
"Der Krieg vor zwei Jahren war ein großes Geschäft zwischen Israel und der Hamas. Diejenigen, die im Krieg gelitten haben, waren die einfachen Menschen, die schutzlose Zivilbevölkerung, die dem Krieg mehrheitlich zum Opfer gefallen ist. Das ist der Preis für die Hamas gewesen, sich nach dem Krieg zu etablieren, ihre Macht zu festigen und rücksichtslos Geld aufzutreiben und Privilegien an sich zu reißen, und dem zu geben und dem zu nehmen, aus einer stärkeren wirtschaftlichen Situation heraus als vor dem Krieg."
Viel ist in diesen Tagen und Wochen von den Praktiken der Hamas zu hören, von stets neuen Abgaben und Steuern. Für die Pkw-Zulassung etwa seien 1000 Dollar zu berappen; die Straßenverkäufer, die auf den Bürgersteigen ihr Sortiment an Zigaretten, Bonbons und Limonade ausbreiteten, hätten eine regelmäßige "Gebühr" zu entrichten; palästinensische Wohltätigkeitsorganisationen, die beispielsweise Olivenöl kostenlos an bedürftige Familien verteilten, würden dazu gezwungen, ein Teil der Ernte den Herrschenden zu überlassen. An der sogenannten Tunnelwirtschaft, die für die Versorgung der Palästinenser im Gaza-Streifen unverzichtbar ist, sei die Hamas mit einem Anteil von schätzungsweise 20 bis 30 Prozent beteiligt.
"Die Hamas kam in Gaza an die Macht, nachdem sie den Palästinensern versprochen hatte, die Regierung Gottes zu sein, die für Gerechtigkeit und Gleichheit sorgen wird. Man muss feststellen, dass wir es mit einer Regierung zu tun haben, deren Hauptinteresse nicht der nationalen Frage gilt, sondern die nach Wegen sucht, wie sie Geld auftreiben kann, Waren noch mal zu besteuern, die bereits schon verzollt waren. Das macht die israelische Blockade natürlich noch schlimmer. Es gibt genug Diesel und Benzin für unsere Generatoren. Warum fällt also der Strom aus, acht Stunden am Tag? Die steuern alles, um alles auf die Blockade zurückzuführen. Die Blockade existiert, aber es ist im Sinne der Hamas, dass die Blockade weiter aufrecht erhalten wird, solange sie an der Macht ist."
Alle wüssten das, die Israelis, die Hamas, die Ägypter, die Amerikaner und Europäer – und dennoch, so ereifert sich Heider Abu Medden, habe es die "internationale Gemeinschaft" nicht geschafft, ein Ende der Blockade gegenüber Israel durchzusetzen, einer Blockade, die ausschließlich die "Falschen" träfe:
"Die Blockade geht auf Kosten der Bevölkerung, nicht auf Kosten der Regierung. Wenn die nach Ägypten wollen, öffnen sie die Grenze. Wenn wir gehen wollen, schicken sie uns zurück. Einem erlauben sie es und dem Nächsten verweigern sie es. Mohammed erbt etwas, und der andere nicht?"
Heiders Tochter Yosov teilt die Verbitterung ihres Vaters. Sie studiert im dritten Jahr Englisch an der Al Azhar Universität von Gaza-Stadt, deren Professoren und Dozenten von der im fernen Ramallah residierenden Autonomiebehörde bezahlt werden. Aussichten auf einen Job habe sie nach ihrem Examen nicht, weil sie nicht an der Islamischen Universität eingeschrieben sei – weil sie nicht der Hamas angehöre und auch niemanden kennen würde, der bei den Herrschenden aktiv sei, sagt Yosov. Das Ergebnis:
"Selbst der Qualifizierte bekommt keine Chance. Warum? Er studiert und arbeitet hart, er will den Job, will sich vorstellen - und all das ist umsonst, und löst sich in Luft auf! Das ist nicht nachzuvollziehen. Das kann man nicht verstehen. Ich verstehe das nicht. Die sind die Regierung, die regieren uns, sie sollten sich um uns kümmern. Wir sind die Fortgeschrittenen. Wir sind diejenigen, deren Anliegen sie verteidigen sollten. Aber sie verteidigen kein einziges unserer Anliegen. Sie verteidigen nur sich selbst. Sie sagen: ‘Ja, ja, wir kümmern uns, wir helfen, wir geben dies und das.’ Sie geben uns nichts. Sie geben nur denjenigen, die zu ihnen gehören. Wenn man zu Hamas gehört, bist Du oben, wenn nicht, bist Du unten. So ist das in Gaza."
Im ehemaligen Gewächshaus des Grundbesitzers Abed el Deim Abu Medean drehen sich die allabendlichen Gespräche der Landarbeiter und ihres Chefs meist nur um ein einziges Thema, d a s Dauerthema: um die große Politik, um die aktuelle Lage im Gaza-Streifen, um das Versagen der arabischen Staaten, den israelischen Einfluss auf die USA, die zögerliche Haltung der Europäer.
Die zehn Männer sitzen auf weißen Plastikstühlen um einen rechteckigen knöchelhohen Grill: Einer von ihnen wacht über die beiden blechernen Kaffee- und Teekannen, die auf den rot glühenden Holzscheiten abgestellt sind und aus denen die brühend heißen Getränke in kleine Gläser eingeschenkt werden. Es ist ein zwangloses Treffen nach getaner Arbeit, jeder kennt hier jeden seit vielen Jahren – man vertraut einander, wärmt sich am Feuer – und an den oftmals hitzigen Debatten. Es habe sich nichts verbessert, ganz im Gegenteil, bilanziert Abed el Meneam Abu Medean, dessen Familie – ein angesehener Beduinen-Clan - zu den größten Grundbesitzern im Küstenstreifen gehört. Abed el Meneam, ein schlanker Herr mit schwarzem, akkurat gestutztem Oberlippenbart, zündet sich eine neue Zigarette an:
"Ich sage: Es wird schlimmer. Warum sage ich das? Weil die Menschen die Hoffnung verloren haben. Keine Hoffnung. Und der Grund dafür: Nicht allein Israel, sondern auch die Araber."
Aufmerksam verfolgt der studierte Historiker die heimischen und westlichen Medien, hört den arabischen Dienst der BBC, liest im Internet die großen, internationalen Tageszeitungen. Er zieht seinen dunkelblauen Hausmantel enger um die Schultern und blickt den ausländischen Besucher durchdringend an:
"Sie kamen vor zwei Jahren hierher und sahen die Zerstörung. Bis heute hat sich nichts geändert. Ich möchte noch mal betonen, dass dies die Verantwortung der Araber ist, der internationalen Gemeinschaft und Israel - und Israel ist von denen am meisten daran interessiert, dass es so bleibt. Und wie ich Ihnen vor zwei Jahren gesagt habe, ist es das Ziel, den Palästinensern in Gaza ein Ende zu bereiten. Aber das wird nicht geschehen."
Die Teegläser und kleinen Kaffeetassen sind leer – in einem randvoll mit Wasser gefüllten roten Plastikeimer werden sie gespült und zum Trocknen an den Rand des immer noch angenehme Wärme spendenden Grills gestellt. Einige der Männer stehen auf, heben wortlos die Hand zum Abschiedsgruß und treten in der Dunkelheit ihren Heimweg an.
Blau uniformierte Polizisten der herrschenden Hamas stehen inmitten des Gewimmels, dirigieren mit ungeduldigen Handbewegungen den nicht abebbenden Verkehrsstrom, machen von ihren schwarzen Trillerpfeilen großzügigen Gebrauch. Das Warenangebot der kleinen Einzelhandelsläden entlang der Mushtir-Straße, einer der Haupteinkaufsmeilen in Gaza-Stadt - vermittelt den Eindruck, als ob es die langjährige Wirtschaftsblockade Israels, die Ende Juni 2010 von der Regierung Netanjahu ein wenig gelockert worden ist, nicht gäbe: Von Laptop-Computern, über Handys, Textilartikel, Elektroprodukten reichen die Erzeugnisse, die in den Auslagen der Geschäfte zu sehen sind, vieles davon kommt unverändert durch die Tunnel zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen.
Doch kaufen können sich das nur sehr Wenige. Denn die Anzahl derjenigen Palästinenser, die aus eigenen Mitteln nicht mehr für ihre Nahrung aufkommen können, steigt nach übereinstimmenden Angaben internationaler Hilfsorganisationen von Jahr zu Jahr. Inzwischen sind es knapp eine Million Menschen, die für Essen und Trinken nicht mehr selbstständig sorgen können, zwei von drei Einwohnern des Küstenstreifens. Auf internationale Hilfe sind mittlerweile 80 Prozent der Bevölkerung angewiesen. Von den 25.000 Häusern, die während des Gaza-Krieges von den israelischen Streitkräften vollständig bzw. teilweise zerstört worden sind, liegen 78 Prozent unverändert in Trümmern.
Das Friseurgeschäft von Mohammed Abu Hasira liegt einige Seitenstraßen von Stadtzentrums Gazas entfernt: Ein schmaler Laden von vielleicht 60 Quadratmetern, dessen gläserne Eingangstür jetzt, im nasskalten Januar, geschlossen bleibt. Auch der Vogelkäfig mit den bunten Kanarienvögeln steht nicht – wie sonst während des fast ganzen Jahres - auf dem Bürgersteig, sondern hinten im Laden, vor der kleinen Teeküche. Die Kundschaft lässt an diesem Morgen auf sich warten.
Mohammed, ein stämmiger Mann von 33 Jahren, freut sich über den ausländischen Besucher. Natürlich erinnere er sich noch gut an unser Gespräch vor zwei Jahren, hier in seinem Friseurgeschäft, wenige Tage nach dem Ende des Gaza-Krieges. Damals sprach der Familienvater von seinen fünf Kindern, die er zusammen mit seiner Frau während der drei Wochen zu beruhigen versucht habe, in denen ohrenbetäubenden Einschläge, Explosionen, der Lärm von Kampfflugzeugen und Apache-Helikoptern die tägliche und nächtliche Geräuschkulisse in Gaza gebildet hatten. Mohammed am 22. Januar 2009:
"Zunächst sieht man sich einer Menge Fragen der Kinder ausgesetzt: Warum fliegen diese Flugzeuge? Was sind das für Stimmen? Sie fangen an, große Angst zu bekommen, sie sind verunsichert, erschrocken. Sie schlafen nachts nicht. Sie essen wenig, sie schreien viel. Sie bekommen psychische Probleme. Diese Situation ist für die Kinder sehr tragisch. Man ist hin und her gerissen, man will sich selber schützen, die Kinder schützen, das Haus schützen. Man weiß nicht, wo diese Rakete einschlagen wird. Das ist die Situation, in der wir leben."
Und heute? Wie geht es heute seinen drei Töchtern, die inzwischen vierzehn, acht und fünf Jahre alt sind und den zwölf- und zehnjährigen Söhnen? Was hat sich seitdem für ihn und seine Familie verändert? Während der Friseur den Gast auf einen der vier Drehstühle bittet und routiniert mit seiner Arbeit beginnt, gibt er auf die Fragen offenherzig zurück:
"Jetzt, wo dieser ganze Schrecken zu Ende ist, der uns so beschäftigt hat, vor allem als wir nach Ende des Krieges gesehen haben, welch verheerende Folgen dieser Krieg für Familien und Häuser, Verletzte und Verstümmelte hatte, jetzt ist man zurückblickend natürlich entspannter. Der Krieg und die Gefahr sind vorbei, deshalb fühlen meine Familie und ich uns jetzt zwei Jahre nach dem Krieg besser."
Die Stimmung in seinem Friseurgeschäft habe sich in den vergangenen zwei Jahren allerdings nicht aufgehellt. Zwar habe er beobachten können, wie sich bei vielen Kunden die originäre Schockstarre gelöst habe, das zerstörte Insichgekehrtsein, von dem Mohammed im Januar 2009 gesprochen hatte. Doch die vormalige Unbeschwertheit, das Lachen, das früher oft in seinem Laden zu hören gewesen sei, sei nicht wiedergekehrt, sagt er:
"Das hat sich nicht verändert, dieses Verstummtsein unter meinen Kunden im Laden. Wissen Sie, ich kann meine Kunden in zwei Gruppen einteilen: Die große Mehrheit der Kunden ist verstummt. Die sind nachdenklich, deprimiert, die denken über ihren Alltag nach, wie sie an Geld gelangen können und wenn sie ein Einkommen haben, wie sie das Geld aufteilen, damit es für die Ernäherung der Familie reicht. Die andere Gruppe redet über Fatah und Hamas. Die große Mehrheit hat Angst vor der Zukunft. Die alltäglichen, fröhlichen Themen, die wir hier früher hatten, die nichts mit Politik zu tun hatten, die sind zurückgegangen. Das spüre ich in meinem Laden."
Es ist früher Abend, als wir uns auf den Weg zur Familie Abu Medden machen. Die Lichter der Autoscheinwerfer müssen nicht allein die Dunkelheit durchdringen, sondern auch den Staub und Sand, den der Wagen auf den porösen, schlaglochübersäaten Straßen hochwirbelt und die Sicht noch schlechter macht, als sie ohnehin schon ist. Die Fahrt führt durch die südlichen Stadtteile von Gaza, vorbei an Fabrikhallen, kleineren Metall- und Reparaturbetrieben, dann auf die Saladin-Straße nach Süden, eine vierspurige, große Ausfallstraße, die in circa zwei Kilometer Abstand parallel zum israelischen Grenzzaun verläuft, der bereits Anfang der 90er-Jahre auf Befehl des damaligen Verteidigungsministers Yitzhak Rabin errichtet worden ist.
Beim Flüchtlingslager Burej biegt unser Fahrzeug nach Osten, Richtung Grenze. Auf der schmalen Straße tauchen immer wieder spielende Kinder in das Licht der Scheinwerfer. Wie aus dem Nichts überholen uns johlend zwei Jugendliche auf einem dieser chinesischen Motorräder, wie sie seit Jahren schon aus den Tunneln nach Gaza gelangen. Schließlich halten wir vor dem Haus der Familie. Das zweistöckige Gebäude liegt scheinbar verlassen in der Dunkelheit, kein einziges Fenster ist erleuchtet. Der Vater sei noch in der Moschee, beim Abendgebet. Er würde aber gleich wieder zurückkommen, sagt eine der Töchter, die nach mehrmaligem, lautem Klopfen an die grüne, metallene Eingangspforte gekommen ist. Kurz darauf erscheint Heider Abu Medden, ein schmaler Mann von Anfang 50.
"Leider hat sich zwei Jahre nach dem Krieg die Situation verschlechtert. Die Entwicklung geht rückwärts. Es gibt keinen Zentimeter Verbesserung, verglichen mit den Umständen, die damals geherrscht haben."
Den Landwirt und seine Familie hatten wir am Abend des 21. Januar 2009 aufgesucht, einige Tage zuvor war sein Bruder Samy von einer Rakete eines israelischen Kampfhubschraubers getötet worden, auf dessen Grundstück in der Nähe der früheren jüdischen Siedlung Netzarim, auf dem sich keine Bewaffneten der Hamas befunden hätten. Heider harrte bis zur Waffenruhe zusammen mit rund 100 Familienangehörigen und Nachbarn in seinem Elternhaus aus. Damals gab uns Heider auf die Frage zurück, ob die israelischen Einheiten bis an sein Gebäude vorgerückt seien:
"Nein, nein. Sie drangen nicht bis hierher vor. Sie standen 800 Meter von hier an der Grenze. Sie schossen Phosphor ab, gefolgt von einem Luftangriff. Einer wurde verletzt, die anderen konnten nicht mehr atmen, und danach begann ein Panzer zu schießen."
Jetzt sitzt Heider Abu Medden zusammen mit seinen drei erwachsenen Töchtern und zwei jungen Männern im kargen, kalten Wohnzimmer seines Hauses. Zierliche Teegläser, in denen einige Minzeblätter schwimmen, stehen auf den Beistelltischchen. Heider stammt aus einer wohlhabenden Familie. Sein Vater verfügte über erheblichen Grundbesitz im Gaza-Streifen, den er unter seinen Söhnen aufteilte. Zu seiner Situation heute, zwei Jahre nach dem Krieg, sagt der Landwirt:
"Unmittelbar nach dem Krieg, dem Leiden und dem Verlust unseres Bruders haben wir gedacht, aus dieser Katastrophe kann eine Hoffnung entstehen. Es wird vorwärtsgehen. Wir haben trotz der Schmerzen ein Licht am Ende des Tunnels gesehen, im Bezug auf unsere innere Situation, dass wir daraus eine Lehre ziehen und dass die Gesellschaft solidarisch zusammenhält. Aber leider sind wir verbittert und in eine Situation geraten, in der wir das Gefühl haben: An unserem Leiden bereichert sich eine Gruppe von Menschen, die nur an die Macht und an sich denkt und diese Lage nur für sich ausnutzt und nur daran denkt, an der Macht zu bleiben, egal unter welchen Umständen, und nur ihre Leute zu versorgen. Leider sind wir - verglichen mit unserer Moral vor zwei Jahren, vor dem Krieg - in einer schlechteren Situation."
Nur wenige Palästinenser im Gaza-Streifen trauen sich noch wie Heider, gegenüber ausländischen Journalisten etwas Negatives über die Hamas zu sagen. Alle Einwohner des abgeriegelten Machtbereichs der herrschenden Palästinenser-Organisation wissen, dass sie sich mit Kritik oder gar offener Ablehnung der Hamas gefährlichen Ärger einhandeln können, von Vorladungen, über Verhaftungen und Folter, bis hin zum Verlust des Lebens.
"Alle haben Angst. Die Herrscher regieren mit eiserner Faust. Die Menschen sagen sich: Wer bin ich schon, der Kritik üben soll. Lass doch die anderen Kritik üben."
Neben Heider Abu Medden sitzt ein junger Mann, der sein Universitätsstudium abgeschlossen und – wie nahezu alle Hochschulabsolventen, die keine Kontakte zur Hamas haben – keine Arbeit hat. Seinen Namen wolle er lieber nicht nennen, sagt der Mann, um dann seine Analyse der Lage der Palästinenser im Gaza-Streifen abzugeben: Sie lebten unter einer "doppelten Besatzung", unter der Besatzung durch Israel, die den Küstenstreifen mit eisernem Griff von außen umklammere, und unter der Besatzung durch die hier herrschende Hamas, die sich an der Bevölkerung schadlos halte:
"Der Krieg vor zwei Jahren war ein großes Geschäft zwischen Israel und der Hamas. Diejenigen, die im Krieg gelitten haben, waren die einfachen Menschen, die schutzlose Zivilbevölkerung, die dem Krieg mehrheitlich zum Opfer gefallen ist. Das ist der Preis für die Hamas gewesen, sich nach dem Krieg zu etablieren, ihre Macht zu festigen und rücksichtslos Geld aufzutreiben und Privilegien an sich zu reißen, und dem zu geben und dem zu nehmen, aus einer stärkeren wirtschaftlichen Situation heraus als vor dem Krieg."
Viel ist in diesen Tagen und Wochen von den Praktiken der Hamas zu hören, von stets neuen Abgaben und Steuern. Für die Pkw-Zulassung etwa seien 1000 Dollar zu berappen; die Straßenverkäufer, die auf den Bürgersteigen ihr Sortiment an Zigaretten, Bonbons und Limonade ausbreiteten, hätten eine regelmäßige "Gebühr" zu entrichten; palästinensische Wohltätigkeitsorganisationen, die beispielsweise Olivenöl kostenlos an bedürftige Familien verteilten, würden dazu gezwungen, ein Teil der Ernte den Herrschenden zu überlassen. An der sogenannten Tunnelwirtschaft, die für die Versorgung der Palästinenser im Gaza-Streifen unverzichtbar ist, sei die Hamas mit einem Anteil von schätzungsweise 20 bis 30 Prozent beteiligt.
"Die Hamas kam in Gaza an die Macht, nachdem sie den Palästinensern versprochen hatte, die Regierung Gottes zu sein, die für Gerechtigkeit und Gleichheit sorgen wird. Man muss feststellen, dass wir es mit einer Regierung zu tun haben, deren Hauptinteresse nicht der nationalen Frage gilt, sondern die nach Wegen sucht, wie sie Geld auftreiben kann, Waren noch mal zu besteuern, die bereits schon verzollt waren. Das macht die israelische Blockade natürlich noch schlimmer. Es gibt genug Diesel und Benzin für unsere Generatoren. Warum fällt also der Strom aus, acht Stunden am Tag? Die steuern alles, um alles auf die Blockade zurückzuführen. Die Blockade existiert, aber es ist im Sinne der Hamas, dass die Blockade weiter aufrecht erhalten wird, solange sie an der Macht ist."
Alle wüssten das, die Israelis, die Hamas, die Ägypter, die Amerikaner und Europäer – und dennoch, so ereifert sich Heider Abu Medden, habe es die "internationale Gemeinschaft" nicht geschafft, ein Ende der Blockade gegenüber Israel durchzusetzen, einer Blockade, die ausschließlich die "Falschen" träfe:
"Die Blockade geht auf Kosten der Bevölkerung, nicht auf Kosten der Regierung. Wenn die nach Ägypten wollen, öffnen sie die Grenze. Wenn wir gehen wollen, schicken sie uns zurück. Einem erlauben sie es und dem Nächsten verweigern sie es. Mohammed erbt etwas, und der andere nicht?"
Heiders Tochter Yosov teilt die Verbitterung ihres Vaters. Sie studiert im dritten Jahr Englisch an der Al Azhar Universität von Gaza-Stadt, deren Professoren und Dozenten von der im fernen Ramallah residierenden Autonomiebehörde bezahlt werden. Aussichten auf einen Job habe sie nach ihrem Examen nicht, weil sie nicht an der Islamischen Universität eingeschrieben sei – weil sie nicht der Hamas angehöre und auch niemanden kennen würde, der bei den Herrschenden aktiv sei, sagt Yosov. Das Ergebnis:
"Selbst der Qualifizierte bekommt keine Chance. Warum? Er studiert und arbeitet hart, er will den Job, will sich vorstellen - und all das ist umsonst, und löst sich in Luft auf! Das ist nicht nachzuvollziehen. Das kann man nicht verstehen. Ich verstehe das nicht. Die sind die Regierung, die regieren uns, sie sollten sich um uns kümmern. Wir sind die Fortgeschrittenen. Wir sind diejenigen, deren Anliegen sie verteidigen sollten. Aber sie verteidigen kein einziges unserer Anliegen. Sie verteidigen nur sich selbst. Sie sagen: ‘Ja, ja, wir kümmern uns, wir helfen, wir geben dies und das.’ Sie geben uns nichts. Sie geben nur denjenigen, die zu ihnen gehören. Wenn man zu Hamas gehört, bist Du oben, wenn nicht, bist Du unten. So ist das in Gaza."
Im ehemaligen Gewächshaus des Grundbesitzers Abed el Deim Abu Medean drehen sich die allabendlichen Gespräche der Landarbeiter und ihres Chefs meist nur um ein einziges Thema, d a s Dauerthema: um die große Politik, um die aktuelle Lage im Gaza-Streifen, um das Versagen der arabischen Staaten, den israelischen Einfluss auf die USA, die zögerliche Haltung der Europäer.
Die zehn Männer sitzen auf weißen Plastikstühlen um einen rechteckigen knöchelhohen Grill: Einer von ihnen wacht über die beiden blechernen Kaffee- und Teekannen, die auf den rot glühenden Holzscheiten abgestellt sind und aus denen die brühend heißen Getränke in kleine Gläser eingeschenkt werden. Es ist ein zwangloses Treffen nach getaner Arbeit, jeder kennt hier jeden seit vielen Jahren – man vertraut einander, wärmt sich am Feuer – und an den oftmals hitzigen Debatten. Es habe sich nichts verbessert, ganz im Gegenteil, bilanziert Abed el Meneam Abu Medean, dessen Familie – ein angesehener Beduinen-Clan - zu den größten Grundbesitzern im Küstenstreifen gehört. Abed el Meneam, ein schlanker Herr mit schwarzem, akkurat gestutztem Oberlippenbart, zündet sich eine neue Zigarette an:
"Ich sage: Es wird schlimmer. Warum sage ich das? Weil die Menschen die Hoffnung verloren haben. Keine Hoffnung. Und der Grund dafür: Nicht allein Israel, sondern auch die Araber."
Aufmerksam verfolgt der studierte Historiker die heimischen und westlichen Medien, hört den arabischen Dienst der BBC, liest im Internet die großen, internationalen Tageszeitungen. Er zieht seinen dunkelblauen Hausmantel enger um die Schultern und blickt den ausländischen Besucher durchdringend an:
"Sie kamen vor zwei Jahren hierher und sahen die Zerstörung. Bis heute hat sich nichts geändert. Ich möchte noch mal betonen, dass dies die Verantwortung der Araber ist, der internationalen Gemeinschaft und Israel - und Israel ist von denen am meisten daran interessiert, dass es so bleibt. Und wie ich Ihnen vor zwei Jahren gesagt habe, ist es das Ziel, den Palästinensern in Gaza ein Ende zu bereiten. Aber das wird nicht geschehen."
Die Teegläser und kleinen Kaffeetassen sind leer – in einem randvoll mit Wasser gefüllten roten Plastikeimer werden sie gespült und zum Trocknen an den Rand des immer noch angenehme Wärme spendenden Grills gestellt. Einige der Männer stehen auf, heben wortlos die Hand zum Abschiedsgruß und treten in der Dunkelheit ihren Heimweg an.