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Unwahrscheinliche Konstellationen
Unsere ambivalente Beziehung zum Himmel

Internet-Memes mit Sternzeichen, Mode mit aufgedruckten Gestirnen, aber nach den Sternen navigieren kann kaum noch jemand. Wir sehnen uns nach dem Himmel und haben ihn doch verloren, weil wir unsere Umwelt vergegenständlicht haben.

Von Sandro Paul Heidelbach |
Der Planet Merkur im Weltall
Ein aktueller Trend macht den „rückläufigen Merkur“ für Missgeschicke verantwortlich (imago images / NASAimages)
Unser Verhältnis zum Himmel scheint widersprüchlich: Einerseits zelebriert die Popkultur gerade die Astrologie. Andererseits wissen immer weniger Menschen, wann der Mond zu- oder abnimmt oder in welcher Richtung die Sonne aufgeht. 
Erklärbar ist das durch unsere zunehmende Entfremdung von der Natur. Die boomende Astrologie offenbart unsere Sehnsucht danach, uns als Vereinzelte in einem Kosmos aufgehoben zu wissen und unsere Beziehung zur Umwelt wieder holistisch zu betrachten. Sandro Paul Heidelbach schlägt einen Bogen von der Popkultur bis hin zu Bruno Latours Gaia-Theorie und Hartmut Rosas Resonanzbegriff.
Sandro Paul Heidelbach, geboren 1996, studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Kulturen in Bonn, Cambridge, Münster und Salamanca, u.a. als Stipendiat der a.r.t.e.s.-Graduiertenschule an der Universität zu Köln. Seine Interessen liegen im Bereich Literatur- und Wissenschaftsgeschichte.

Wenn uns im Alltag Missgeschicke widerfahren, wenn Züge vor unserer Nase davonrauschen, wenn wir uns in der Hektik des Aufbruchs aussperren, dann geschieht dies in einem paradoxen Einklang mit der Welt. Wir bemerken den Leichtsinn, mit dem wir die letzten Minuten vor dem Beginn des Werktages auskosten, und sind dann kaum erstaunt, wenn Duschköpfe, Schnürsenkel und Fahrradschlösser in unseren Händen zu Requisiten eines Clowns werden. Wir nähern uns nach der Arbeit dem Bahngleis, noch zögernd, welche die günstigste Verbindung nach Hause sein mag, und ausgerechnet in diesem Moment, als habe sie ihn erwartet, überholt uns die Straßenbahn.
In unserer Zeit vervielfältigen sich die Gelegenheiten zur misslungenen Kommunikation, zur medialen Überforderung und zu technischen Ausfällen. Da mag es nicht verwundern, dass längst wieder Erzählungen kursieren, die Missgeschicke dieser Art in einen größeren, trostvollen Zusammenhang stellen.
Eine aktuell in den sozialen Medien beliebte Erzählung ist die des ‚rückläufigen Merkurs‘. Danach stehen, solange sich der Planet auf seiner Bahn durch das Sonnensystem scheinbar ‚rückwärts‘ bewegt, sämtliche sozialen und geschäftlichen Handlungen buchstäblich unter einem schlechten Stern. Offenkundig identifiziert man dabei den Planeten mit dem Götterboten Merkur, nach jenem alten Glauben der antiken Sternenmythologie. Vom 10. Mai bis zum 2. Juni 2022 ließ sich beispielsweise beobachten, wie unzählige Internetnutzer und -nutzerinnen ihre schieflaufenden Beziehungen, defekten Haushaltsgeräte oder missratenen Frisuren dem rätselhaften Einfluss des mercury retrograde zuschoben. Zur prominenten Gefolgschaft dieses Trends gehören unter anderen die Popsängerinnen Taylor Swift und Katy Perry. Ein Tattoo des Planeten Saturn hingegen ziert seit Kurzem den Unterarm der Sängerin Adele, die darin ein Symbol ihrer Krisenjahre erblickt.
Wer sich für den Zeitgeist interessiert, wird wissen, dass das Internetphänomen rund um den ‚rückläufigen Merkur‘ nur eine Facette von vielen darstellt, wenn astrologische Deutungsmuster in der Internet- und Memekultur unserer Gegenwart umfassend wiederbelebt werden. Inhalt und Medium scheinen dabei wie füreinander geschaffen. Die Astrologie ist einerseits eine Lehre, die das Individuum nobilitiert, indem es sein Dasein in die Rhythmen des Kosmos einschreibt. Andererseits sind da die sozialen Medien, die eine ideale Plattform für die Inszenierung des Privatlebens und für alle Formen der Selbstmitteilung bieten. Nicht zuletzt die Vorliebe junger Menschen für die Trash- und Nischenkultur der vergangenen Jahrzehnte besiegelt dieses Bündnis.
Erst bei genauerer Betrachtung weist das Internetphänomen einige Widersprüche auf. Mit der Aufwertung des Individuums in der Astrologie geht zugleich eine Neugierde für kosmische Zyklen und Gesetze einher, die in der neuzeitlichen Astronomie ihre wissenschaftliche Ausformung gefunden hat. Auch ein aufgeklärter Geist wird der Astrologie kaum ihre Fähigkeit absprechen können, unsere Aufmerksamkeit zu den Gestirnen zu lenken und Sensibilität für deren existenzielle Bedeutung zu wecken – so sehr ihn die Ausdrucksformen dieser Zuwendung auch befremden mögen.
Ausgerechnet diese Sensibilität, wenn es denn eine ist, wird nun wiederentdeckt im Virtuellen. In jener künstlichen Gegenwelt, die im Begriff ist, die Einbettung des Menschen in ein kosmisches System zu nivellieren – genauer gesagt: seine Aufmerksamkeit, sein Bewusstsein und seine Neugierde für diesen Zusammenhang; in jener künstlichen Gegenwelt also, die nach einhelliger Meinung bewirkt, dass sich vor allem junge Menschen von ihrer Umwelt in wachsendem Maße entfremden. Es kommt zu einem Verlust des Himmels in der Lebenswelt.
Der sogenannte Jugendreport Natur konstatiert, nur etwa ein Viertel aller jungen Menschen in Deutschland könnte anhand der Mondsichel bestimmen, ob der Mond zu- oder abnehme; indes habe sich der Anteil der Befragten, die nicht wissen, in welcher Richtung die Sonne aufgeht, seit 2010 mehr als verdreifacht.
An sozialwissenschaftlichen Instituten wird das unter dem Schlagwort nature deficit disorder erforscht. Die Beziehung zwischen diesem Phänomen und den virtuellen Medien hat neben psychologisch-inneren auch materiell-äußere Anteile. Denken wir etwa an die Verdrängung des Nachthimmels aus unserem Alltag, bewirkt zuerst von surrenden Straßenlaternen und bald von fluoreszierenden Leuchttafeln. Denken wir an Elon Musks Raumfahrtunternehmen Space-X, das vor einiger Zeit bekanntgab, es wolle in Zukunft über 12.000 Internetsatelliten in den Orbit befördern. Käme es soweit, versperrte die Infrastruktur, die für den weltweiten Zugriff auf die sozialen Medien eingerichtet wird, unmittelbar den Blick auf die unverminderte Schwärze des Nachthimmels.
Zu weltweiter Bekanntheit brachte es jene amerikanische Metropole, deren Einwohner nach einem Erdbeben und einem Stromausfall die Polizei anriefen, um diese auf eine „gewaltige Silberwolke“ am Nachthimmel aufmerksam zu machen; ehe sich schließlich herausstellte, dass es sich um die Milchstraße handelte, die aus der lichterlosen Nacht über Los Angeles getaucht war.
Die Gleichzeitigkeit vom Verlust des Himmels und seiner digitalen Zurückeroberung könnte weniger widersprüchlich sein, als vermutet. Allzu leicht lässt sich die schwärmerische Verklärung des Nachthimmels mit astronomischer Wissbegier verwechseln. Der Rückgriff auf Traditionen ist zuweilen wählerisch, übernimmt und überformt die einen Elemente und blendet andere dagegen vollkommen aus.
Besonders in der „Meme“-Kultur, also der Zirkulation unterhaltsamer Bilder und Videoausschnitte im Internet, geht es fast ausschließlich um Persönlichkeitstypologien, wenn sich die User astrologische Themen aneignen. Das ergibt sich aus der Logik des Horoskops: Der Stand der Sonne zum exakten Zeitpunkt der Geburt eines Individuums legt fest, welchem der zwölf Tierkreiszeichen es angehört. Das Verblassen der metonymischen Struktur, die die Sprache der Astrologie von jeher prägt – eine Person „ist“ Zwilling, „Zwillinge“ sind rastlos – wird dabei durch die Funktionsweise der Memes zusätzlich begünstigt. Ging es ursprünglich um sichtbare Sternenkonstellationen, so lösen sich die Aussagen der Astrologie immer stärker von diesen ab. Und je stärker sie das tun, je mehr sie ein semantisches Eigenleben ausbilden, desto produktiver sind sie als Codewörter für eingeweihte Nutzerinnen und Nutzer.
Personen sind nach charakteristischen Veranlagungen klassifiziert. Diese Sternzeichenlogik stellt eine Denkfigur dar, die in der Digitalkultur bereits gefestigt ist. Sie spiegelt sich zum Beispiel in den archetypischen Charakterklassen – der Ritter, der Kleriker, der Narr –, die Spielerinnen und Spielern von Online-Rollenspielen als Avatare wählen können. Zu denken ist außerdem an jene Form von Online‑Persönlichkeitstests, bei denen Fans von bestimmten Fernsehserien oder Filmen prüfen können, wie kompatibel ihr Charakter mit fiktiven Vorbildern, wie etwa mit Figuren aus dem Harry‑Potter-Kosmos ist.
Die stärkste popkulturelle Rezeption aber erfährt die astrologische Ästhetik. Wir erkennen sie in den Sonne-, Mond- und Sternmotiven jugendaffiner Modehersteller ebenso wie auf Smartphone- und Laptophüllen, auf Mauspads, Plakaten, Tassen, Kissen und Kerzen in Deko-Onlineshops; nicht weniger finden wir sie im Appdesign von Horoskop-Dienstleistern wie Co-Star und Sanctuary.
Dabei reicht die Darstellung vom Versuch, Naturphänomene grundsätzlich naturalistisch abzubilden bis hin zur freien Variation von Stern- und Planetenkonstellationen, die scheinbar naiv anmuten. Immer wieder ist zu beobachten, wie gestalterische Lösungen gefunden werden, um den menschlichen Körper in einen möglichst effektvollen, zugleich aber intuitiven Bildzusammenhang mit dem ihn umgebenden Kosmos zu setzen. Daraus resultiert eine Überblendung körperlicher und astraler Elemente. Sie erinnert oft an mittelalterliche Illustrationen. Insbesondere an jene, welche die Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos veranschaulichen wollten, also vom Menschen, der einzelnen Seele auf der einen und dem Universum, gelegentlich auch nur der bewohnten Erde auf der anderen Seite.
Wir denken etwa an die berühmten Zodiak-Männer aus spätmittelalterlichen Stundenbüchern. Diese zierlichen, blassen, teils geöffneten Körper, deren Gliedmaßen von den Füßen bis zum Haupt den Zeichen des Tierkreises zugeordnet werden: Kopf, Augen und Nebennieren dem Sternzeichen Widder, Lungen, Nervenbahnen und Arme dem Zwilling… Der große Kultur- und Bildhistoriker Aby Warburg nannte dies einmal „harmonikale Entsprechung“.
Das Astrologie-Design scheint auf den Bereich des Gestischen, mithin Exaltierten fixiert. Es verflicht motivisch Hände, von deren Fingern Gestirne an dünnen Spinnfäden hängen. Manchmal halten Daumen und Zeigefinger auch einen Mond.  Das alles erinnert ebenfalls an die Illuminationen des Mittelalters. Eine für den heutigen Betrachter teils groteske Bildwelt, deren Unterhaltungswert von der Memekultur längst entdeckt wurde.
Wie streng nimmt man es mit den Konnotationen der beschriebenen Bildentwürfe? Wo begegnet uns eine Bezugnahme auf die Natur als Gegenstand der Erfahrung, als mit der eigenen Existenz auf empfindliche Weise verbundene Sphäre; und wo dagegen begegnet uns nur noch ein kommerziell verwertbares Bild- und Zitatinventar? Wo kommt es zum Verlust des Himmels, wo wird er wieder zurückgewonnen?
Das arrivierte Modehaus Dior hat im vergangenen Frühling eine gesamte Kollektion rund um die Bildwelten des Tarot-Kartenspiels, eine mit der Astrologie verwandte Tradition der Weissagung, kreiert. Die Reaktionen auf die barocken, mit Sternzeichen und okkulten Motiven bestickten Kostüme war überschwänglich. Man mag sich wundern: Wie ist das möglich, angesichts einer Öffentlichkeit, die für die Kehrseiten von Symbolen und die Aneignung von Traditionen sensibilisiert ist? Und vielleicht ließe sich darauf mit Schopenhauer entgegnen:
 „Die Schönheit [der] Gegenstände, welche uns jetzt entzückt, würde, wenn wir in persönlichen Beziehungen zu ihnen ständen, deren wir uns stets bewußt bleiben, verschwunden seyn. Alles ist nur so lange schön, als es uns nicht angeht.“
Wenn die neue Ästhetisierung des Himmels aber nur eine Begleiterscheinung seines Verlustes an Bedeutung ist, für unseren Alltag, für unsere Beziehung zur Umwelt, unsere Religiosität, dann dürfte jene alte Formulierung des Philosophen Richard Dawkins bereits Gültigkeit besitzen. Dass nämlich „[…] das Muster eines Sternbildes keine größere Bedeutung hat als ein feuchter Fleck an der Badezimmerdecke […].“
Das müsste dann nicht nur für den verbissenen Realisten zutreffen, sondern zugleich für die Allgemeinheit.
Nun ist es aber die einhellige Meinung, dass dem Trend in all seiner Widersprüchlichkeit und Unverbindlichkeit doch ein Bedürfnis nach Sinn, nach Versöhnung mit der Umwelt und nach Bewältigung der Kontingenz zugrunde liegt, die gerade in dieser Umwelt auftritt. Nicht selten greifen einschlägige Leitartikel auf die alte Formel vom „Halt in Krisenzeiten“ zurück.
Aus der Gemeinschaft junger Menschen, die Astrologie in ihrem Alltag praktizieren, vernimmt man dazu beipflichtende Töne. Doch manche unter ihnen gehen noch einen Schritt weiter. Sie sehen sich als Teil einer Bewegung, die einst als dunkel, abergläubisch und „weibisch“ verrufene Praktiken im digitalen Format zurückerobert. Astrologische Themen, wie sie hier lange in die Kolumnen illustrierter Zeitschriften verbannt wurden, werden bisweilen aus ihrem angestammten Kontext herausgelöst und in einen Zusammenhang mit verschüttetem und indigenem Naturwissen gerückt.
„Der biologisch-dynamischen Landwirtschaft gelingt es, dank den Präparaten und dem Einbezug der Kräfte des Mondes, der Planeten und des Kosmos Produkte mit hoher Vitalqualität zu erzeugen.“
So äußert sich Bettina Holenstein, Geschäftsführerin des Schweizerischen Demeter-Verbundes gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung.
Traditionelle kosmische – oder ganzheitliche – Ansätze, wie sie die Bio.Unternehmenskultur von Demeter, aber auch die des Naturkosmetikherstellers Weleda nutzen, werden in den jüngeren Zielgruppen aufs Neue populärer. Angestaubte, esoterische Lehren und das neue Bedürfnis nach einer holistischen Umweltbeziehung konvergieren in der Vorstellung einer beseelten Natur.
Nehmen wir zu besseren Verständlichkeit Goethe zum Beispiel, der in seinen Selbstzeugnissen Dichtung und Wahrheit über den Zeitpunkt seiner Geburt schreibt:
„Die Constellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und culminirte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war.“
Um die freundliche Zustimmung der Natur zur Existenz des Neugeborenen zu inszenieren greift Goethe auf ein typisch-romantisches Stilmittel zurück, nämlich die Übertragung von Intentionen und menschlichen Gefühlsregungen auf die unbelebte Natur.
Wenige Jahrzehnte nach Goethes Ableben erhält, was einmal spielerischer Bezug auf eine „mythische“ Vergangenheit war, neue Sprengkraft. In seiner 1871 veröffentlichten Schrift Primitive Culture führt der britische Ethnologe Edward Tylor eine Reihe spiritueller Eigenheiten sogenannter „Naturvölker“ auf, die er unter dem unscharfen Begriff „Animismus“ erfasst. Seiner abseitigen Herkunft zum Trotz – ursprünglich diente er zur Abgrenzung angeblich „unterentwickelter“ Wahrnehmungsweisen – ist der „Animismus“ heute keineswegs obsolet. Vielmehr bot er den europäischen und amerikanischen Sozial- und Kulturwissenschaften am Ende des 20. Jahrhunderts eine Inspiration, um unser hegemoniales Verhältnis zur Umwelt zu hinterfragen.
Hören wir dazu beispielhaft einen Auszug aus den Essays des französischen Soziologen Bruno Latour über die sogenannte Gaia-Hypothese. Stattdessen könnte ebenso gut ein Zitat aus den einflussreichen Philosophien Philippe Descolas oder Donna Haraways stehen. Latour genügen „[…] ein paar Minuten des Nachdenkens, um sich darüber klarzuwerden, daß die Vorstellung von einer leblosen Welt selber nur ein Stileffekt ist […] eine Art und Weise, Wirkungsmächte abzudämpfen, die man […] ins Spiel bringen muß, sobald man sich daran macht, eine Situation welcher Art auch immer zu beschreiben. […]“.
Mögen wir in überwiegender Mehrheit auch „[…] den zweiten Weg, den der Entseelung, als den einzig wichtigen und rationalen auffassen: das Gegenteil trifft zu. Die Beseelung ist das wesentliche Phänomen, und die Entseelung ein oberflächliches, hilfsweise eingesetztes, polemisches und oft apologetisches“.
In der zeitgenössischen Debatte dient der Rekurs auf den Animismus also einem Anliegen: Er soll jene Trennung entlarven, welche überhaupt legitimierte, dass nichteuropäische Völker unterworfen und ausgebeutet wurden: jene Trennung, die sich ausschließlich gab und ihre Fortschrittlichkeit zur Schau stellte: die Trennung von Kultur und Natur, Subjekt und Objekt.
Und nicht zuletzt dient dieser Rekurs auf den Animismus als Inspirationsquelle für neue Umweltbeziehungen, die angesichts der ökologischen Krise notwendig erscheinen.
Reden, in denen die terrestrischen Gegebenheiten zum Singular Natur verschmelzen, die sich wahlweise am Menschen „rächt“, in sein zivilisiertes Dasein „zurückschlägt“ oder sogar „aufschreit“, deuten bereits an, wie ergiebig die Beseelung der Umwelt für das ökologische Anliegen sein kann. So beruft sich auch eine neue juristische Bewegung, die Naturlandschaften Persönlichkeitsrechte verleihen möchte, auf einen „methodologischen“ Animismus.
Der Astrologie-Trend ist also ein aufleuchtender Reflex an der Oberfläche eines viel tieferen Gewässers, das die Grundpfeiler moderner Umweltbeziehung umspült. Mag man auch leicht einen Imperativ daraus ableiten, dass die Natur verlebendigt wird, wie es zum Beispiel in der Rede vom „kranken Planeten“, von der „Weisheit der Pflanzen“ oder dem „Gedächtnis der Bäume“ geschieht, so gilt dies nicht für die wiederentdeckte kosmische Sympathie. Dass Merkur in seiner rückläufigen Phase verunsichernde, Venus hingegen heilende Kraft ausübe, entlastet den Menschen vielmehr, als dass es ihn zum ökologisch orientierten Handeln verpflichtet.
Zum ökologischen Imperativ unserer Zeit kann der Aufblick zum Nachthimmel allenfalls eines beitragen: Er vergegenwärtigt die lebensfeindlichen Weiten, in welche die Erde als unwahrscheinliche Oase eingeschlossen ist. Das vielleicht nachhaltigste Zeugnis der Weltraummissionen des letzten Jahrhunderts war der Zurückblick auf die Erde, festgehalten auf der Fotografie „Earth rise“. Sie hat sich dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt.
Als das oberste amerikanische Gericht im Juli die Befugnisse der nationalen Umweltbehörde einschränkte, veröffentlichte die Zeitschrift New Yorker eine bemerkenswerte Karikatur des Cartoonisten Farley Katz.
Darauf sieht man einen Tyrannosaurus, angetan im Talar des Richters, und ihm gegenüber einen verängstigt dreinblickenden Triceratops. Am Himmel steht ein brennender Meteorit. Nun sei der perfekte Zeitpunkt, um die behördlichen Arbeiten zum Schutz gegen Asteroiden einzustellen, spricht der bebrillte Tyrannosaurus.
Dass die Bedrohung durch die Klimakrise auf einen herannahenden Kometen übertragen wird, kennt man aus Adam McKays Erfolgsfilm Don’t look up.
Es ist bedenkenswert: Die reale Zivilisationsbedrohung, deren Anzeichen Jahr für Jahr unbestreitbarer werden, wird durch das geradezu exotische Szenario eines Kometeneinschlags veranschaulicht. Zunächst zeugt das von der Erwartung, dass die Sphäre des Himmels als Kulisse weltbewegender Ereignisse, als Mitteilungsraum noch immer in der kollektiven Imagination lebendig ist. Denn eine Pointe des Films ist ja gerade die Ignoranz, das Gefälle zwischen den unbestreitbaren Anzeichen und der Bereitschaft, sich diesen trotz alledem zu entziehen. Das heißt in diesem Falle, nicht nach oben zu sehen – der Neugierde, zum Himmelsbetrachter zu werden, zu widerstehen.
Zugleich zeugt sie davon, wie schwierig es ist, für den irreversiblen und lebensfeindlichen Einfluss der Menschheit auf die Natur geeignete kulturelle Erzählungen zu finden. Denn mit der Kometenmetapher wird letztlich auch ein Element reaktionärer Polemik übernommen und wiederholt. Sie entstammt einer Rhetorik, die der Wissenschaft einen raunenden Unterton unterstellt, nämlich jenen der Astrologen und falschen Propheten, die Weissagungen über die Endzeit beschwören.
Die neue Aufmerksamkeit für die Himmelskonstellationen fügt sich erstaunlich gut zu den Thesen des Soziologen Hartmut Rosa. In dessen vielbeachtetem Buch über Weltbeziehungen heißt es, ein wesentlicher Charakterzug der Spätmoderne sei die „beispiellose Steigerung [menschlicher] Resonanzsensibilität“. Resonanz bezeichnet bei Rosa zunächst ein ersehntes Antwortverhältnis zwischen Subjekt und Umwelt. Das Streben nach einem solchen bemerken wir, schreibt Rosa, „… in den Produkten der Outdoor-Industrie, in den Hoffnungen, die auf das Gärtchen oder den Garten gerichtet sind, in dem Verlangen, Pilze, Vögel, Mineralien, Sterne oder Walgesänge zu erkunden oder sich etwas Grünes ins Zimmer zu holen, sowie im Boom von Naturheilverfahren, in esoterischen Praktiken und Lehren, welche Resonanzen und Korrespondenzen zwischen Sternen, Kräutern, Organen und Temperamenten zu nutzen versuchen […]“.
Mit dem Leitbegriff seiner Diagnose, der Resonanz, hat sich Rosa bisweilen den Vorwurf eingehandelt, sich esoterischem Gedankengut anzuverwandeln. Von der Resonanz scheint es nur mehr ein kleiner Sprung zu sein zur Sprache des Gestimmtseins und der Schwingungen; wo Resonanz ein gelingendes Leben gewähren soll – so die Assoziation – müssen klingende Subjekte mitgedacht sein. Und so scheint man der Idee kosmischer Harmonie, wie sie die mystische Tradition hervorgebracht hat, nicht allzu fern zu stehen.
Dass die Himmelskörper in ihrem ewigen Kreisen durch das All Klänge erzeugen, deren geheime Symphonie uns nur deshalb entgeht, weil wir sie seit unserer Geburt hören und demnach nicht von der Stille unterscheiden können, soll eine Lehre des Pythagoras gewesen sein, jenes Urahnen des modernen Okkultismus.
In gewisser Weise beinhaltet diese Fiktion schon eine Einsicht, die Rosas Ansatz von esoterischen Plattitüden grundlegend unterscheidet: Was stets zugänglich und verfügbar ist, schwindet allmählich aus unserem Wahrnehmungshorizont, lässt unsere Sensibilität für Resonanzen abstumpfen. Dass folglich Resonanzsensibilität zumindest teilweise etwas mit der Entzogenheit von Phänomenen – in Rosas Diktion: ihrer Halbverfügbarkeit – zu tun hat, veranlasste den Soziologen bald zu einer umfassenden Ergänzung seiner Theorie.
„Es ist gerade die Unverfügbarkeit des (ersten) Schneefalls oder eines Sonnenuntergangs, welche die Intensität der damit potenziell verbundenen Resonanzerfahrung hervorruft. […] Ein vollständig verfügbar gemachter Weltausschnitt verliert in diesem Sinne seine Resonanzqualität: Bald schweigt und ödet er uns nur noch an.“
In einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen gesteht der Soziologe und bekennende Hobbyastronom, er habe seiner Resonanzstudie zu Anfang den Titel „Geworfen oder Getragen“ geben wollen. Die ihm nun „vielleicht kitschig“ anmutende Überschrift bezieht sich auf wechselhaften Weltbeziehungen in unserem Alltag: schimmert hier nicht für einen kurzen Moment die Logik des „rückläufigen“ Merkurs auf?
Wenn es uns einmal an die Küste verschlägt, werden wir beobachten, dass die Spaziergänger und Spaziergängerinnen ihren Blick für die überwiegende Zeit nicht über die Weite des Meeres oder die Dünen ausschweifen lassen, sondern ihn zu Boden richten, um sich von den stets ähnlichen, aber doch niemals gleichen Ansammlungen von Muscheln, Unrat und Fußspuren unterhalten zu lassen. Es ist, als zögen uns Konstellationen an, die uns nicht nur Muster und Formen entdecken lassen, sondern in ihrem ausgewogenen Zusammenspiel von Abwechslung und Erwartbarkeit einen fast meditativen Anblick bieten.
In seiner Vorschrift zu einer neuerfundenen Art des Schauens rät Leonardo da Vinci aufstrebenden Malern dazu, die zufälligen Muster von Schlammklecksen, die vorbeirauschende Wägen an den Stadtmauern hinterlassen, zu studieren. Ausgerechnet „… durch verworrene und unbestimmte Dinge wird nämlich der Geist zu neuen Erfindungen wach. […] Es tritt bei derlei Mauern und Gemisch das ähnliche ein, wie beim Klang der Glocken: da wirst du in den Schlägen jeden Namen und jedes Wort wiederfinden können, die du dir einbildest.“
In jenem letzten, akustischen Beispiel finden wir eine Variation des sogenannten Barnum-Effekts. Er beschreibt die menschliche Tendenz, allgemeine Informationen auf die eigene Person umzumünzen; das Generische hin zum Individuellen zu verformen. Diese Eigenschaft wurde im 20. Jahrhundert gerade anhand von Horoskopen erforscht; sie gehört zu den beliebten Argumenten gegen die Astrologie.
Leonardos Aufforderung hingegen, die Einbildungskraft an zufälligen Formationen zu schulen, war für die Kunstgeschichte von kaum zu unterschätzender Wirkung. Noch der junge Paul Klee dokumentiert in seinem Tagebuch, wie es ihm zur Muße verhalf, als er Farbkonstellationen studierte.
„Im Restaurant meines Onkels […]  standen Tische mit geschliffenen Marmorplatten, auf deren Oberfläche ein Gewirr von Versteinerungsquerschnitten zu sehen war. Aus diesem Labyrinth von Linien konnte man menschliche Grotesken herausfinden und mit Bleistift festhalten.“
Die Textur von geschliffenem Marmor stand zuletzt in einem viralen Tweet von Elon Musk im Mittelpunkt.
Als die ersten Aufnahmen des neuen James-Webb-Teleskopes veröffentlicht wurden, teilte der Weltraumvisionär ein etwas bemühtes Meme. Es stellt dem ersten Himmelspanorama des Teleskops die Fotografie einer gewöhnlichen Küchenzeile zur Seite. Ihre schwarzgemusterten Marmorflächen werden durch den spöttischen Schriftzusatz Nice try, NASA mit der Ästhetik des Galaxiehaufens in Verbindung gebracht. Ein banaler Witz, der darauf abzielt, die technische Pionierleistung des Konkurrenten zu relativieren. Und in seiner Bildsprache übrigens nicht neu, hatte man doch schon eine 1972 während der Apollo-17-Mission entstandene Fotografie der Erde Blue marble getauft.
Dass uns eine beliebige Textur den Blick in die Tiefe des Alls vortäuschen könnte, spielt zugleich auf die Grenzen medialer Repräsentation an. Um verständlich zu machen, wie zukunftsweisend die Aufnahmen des Teleskopes waren, bedarf es einer umfänglichen Kontextualisierung. Erst das Wissen um die eingefangenen Distanzen und Dimensionen, die Laufzeiten und das Krümmungsverhalten des Lichts erlösen die Galaxien und Nebel aus ihrem Dasein als geronnene, abstrakte Lichtpunkte.
Das Nachdenken über den ‚rückläufigen Merkur‘ hat uns zunächst zur spielerischen Bezugnahme auf astrologische Themen in Internetmedien geführt. Schon bald aber zeigte sich im weiteren Verlauf, wie die Umwelt als bedrohter Resonanzraum erfahrbar gemacht werden kann.
Vergebens wird man hier Verbindlichkeit einverlangen. Gerade die Mühelosigkeit, sich innerhalb dieser Widersprüche zurechtzufinden – leichtfüßig zwischen Attitüde und Dogma hin- und her zu springen – gerade das kennzeichnet die heranwachsenden Generationen. Charakteristisch dabei ist ein ironischer Gestus, der beim Wort genommen werden will. Mit dem scherzhaft vor den unheilvollen Launen des Merkurs gewarnt wird, nur um dann entsprechende Handlungen tatsächlich zu vermeiden. Der Medienphilosoph Sebastian Plönges resümiert: Eine solcher, von Post- und Meta-Ironie beeinflusster Zugriff bietet die „[…] Möglichkeit des produktiven Umgangs mit Kontingenzen.“
Dass heute ausgerechnet der rückläufige Merkur zu einer solchen Entlastung dient, ist eine erstaunliche Wendung. Zählte doch sein Abweichen aus der geozentrischen Kreisbahn über Jahrhunderte zu jenen Phänomenen, die die Gewissheit über die göttliche Allmacht und Fürsorge brüchig werden ließ.