Der Workshop findet in der einzigen Dorfkneipe statt, gleich neben der halb verfallenen Kirche. Gut 40 Einwohner von Dekov, dem früheren Dekau in Westböhmen, versammeln sich in dem nüchtern eingerichteten, kaum beheizten Festsaal. Die wackligen Resopaltische sind in Hufeisenform aufgestellt. Es gibt Tee, Kaffee und Kekse. Vorne steht Ondrej Matejka, der Gründer des Vereins Antikomplex, und erklärt erst einmal Sinn und Zweck des Treffens.
Ziel sei es, so der junge Historiker, im frisch rekonstruierten Pfarrhaus eine Ausstellung zur Dorfgeschichte aufzubauen. Ein Museum für die Bürger, betont Matejka. Sie sollen es selbst gestalten und deshalb gemeinsam überlegen, was aus ihrer Sicht unbedingt dazugehört.
Ein erstaunlicher Vorgang: Der Vizebürgermeister der 200-Seelen-Gemeinde hat die jungen Leute von Antikomplex sozusagen zu Hilfe gerufen. Kaum jemand wisse etwas über die Geschichte des einst von Deutschen bewohnten Dorfes bei Karlsbad. Das soll sich nun ändern, so Historiker Matejka.
"Wir haben hier ein kulturelles Erbe, das geteilt ist, was zum Teil hier geblieben ist, in Tschechien, und zum Teil mit den Vertriebenen nach Deutschland gegangen ist. Und es bietet sich an, dass man das wieder irgendwie verbindet, nur so können die Überreste davon noch am Leben gehalten werden."
In monatelangen Recherchen haben Matejka und zwei freiwillige Mitarbeiterinnen die Dorf-Geschichte aufgearbeitet: Alte Fotos und Zeichnungen haben sie zu dem Treffen in Dekov mitgebracht, Dokumente aus Archiven, Berichte von Zeitzeugen. Schnell entwickelt sich im Saal eine lebhafte Diskussion, bei der kein Thema ausgespart wird.
Wer hat früher in welchem Haus gewohnt? Wie haben die Menschen hier zusammengelebt; Sport, Kultur, Musik, Theatergruppe - was gab es da alles? Und auch die Vertreibung der Deutschen sei ein wichtiges Thema, meinen einige. Auch das gehöre hinein ins Museum.
Ondrej Matejka ist zufrieden. Vor mehr als zehn Jahren hat er den Verein Anti-Komplex mit Freunden gegründet. Die jungen Studenten hatten sich vorgenommen, Komplexe, Vorurteile, Missverständnisse im deutsch-tschechischen Verhältnis aus dem Weg zu räumen. Der Workshop in Dekov ist einer von vielen Schritten auf diesem mühsamen Weg:
"Wir bewegen uns jetzt heute auf dem Feld der Regionalgeschichte. Aber ich war schon überrascht, dass jetzt auch die Vertreibung ein Thema war, das die eigentlich wissen wollten, wie die Zwangsaussiedlung ausgesehen hat, was für Folgen das hatte. Das haben die selber einfach benannt als ein Thema. Das hat mich schon überrascht."
Man könnte meinen, die Dekauer hätten andere Probleme, als sich mit Nachkriegsgeschichte zu befassen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 15 Prozent. Der einst wohlhabende Ort ist völlig heruntergekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die deutschsprachigen Einwohner vertrieben. Später wurde das Dorf neu besiedelt. Ein Bruch, der bis heute zu sehen und zu spüren ist.
"Die Leute müssen erst überhaupt einen Bezug zum Ort finden, sonst wird sich nichts bewegen. Also, wenn sie sich da nicht zu Hause fühlen, tun sie auch gar nichts. Also, ich bin zwar vom Beruf her Historiker, aber die Geschichte hat für mich nur dann den Sinn, wenn sie heute uns einen Dienst leistet. Und hier macht sie den konkreten Dienst, dass sie die Leute irgendwie zusammenbringt und dass sie auch hilft, die Leute zu animieren und zu aktivieren."
An erster Stelle stehe der Blick auf sich selbst und die eigenen Probleme, sagt Matejka. Damit gehe aber zwangsläufig die Auseinandersetzung mit den schwierigen Kapiteln der deutsch-tschechischen Geschichte einher. Viele Bürger in Dekov spüren, dass ihnen etwas abhandengekommen ist. Was genau, das wollen sie nun erfahren.
"Dieser Ort ist durch die Vertreibung der Deutschen quasi verstümmelt worden. Die Menschen, die heute hier leben, sind hier einfach nicht verwurzelt. Davon zeugt nicht nur, wie die Häuser und der Ort insgesamt aussehen, sondern auch wie die Leute miteinander umgehen. Deshalb müssen wir zusammenkommen und darüber reden, wie man das Dorf voranbringen kann."
"Meine Frau und ich leben erst seit zehn Jahren hier. Wir sind wegen der Wohnung hierhergezogen - und weil die Gegend schön ruhig ist. Aber je älter wir werden, desto klarer wird uns, dass es eben nicht nur ums Wohnen geht, sondern auch um die Wahrnehmung seiner selbst und dieses Ortes. Die Schicksale der Menschen hier waren wirklich tragisch, zu Kriegszeiten und danach muss es hier wirklich schrecklich gewesen sein."
Als "Sudetenland" wurden nach 1918 die vorwiegend deutsch besiedelten Landstriche Böhmens und Mährens bezeichnet. Mit dem Münchener Abkommen holte Hitler diese Gebiete 1938 "heim ins Reich", so die Nazi-Propaganda. Nach dem Einmarsch der Deutschen wurden die Tschechen brutal unterdrückt, Juden wurden verfolgt und deportiert. Die "Sudetendeutsche Partei", die spätestens von 1937 an den Nazis in Berlin hörig war, verzeichnete begeisterten Zulauf unter der deutschsprachigen Bevölkerung. Noch heute ist es vor allem das, was die Tschechen mit dem vergifteten Begriff "Sudetendeutsche" verbinden. Die Wut auf die Besatzer entlud sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Etwa drei Millionen Deutsche wurden vertrieben, an vielen Orten kam es zu Massakern an deutschen Zivilisten. Nun wird in Tschechien auch dieser Teil der Geschichte intensiv diskutiert. Die Zeit sei reif, sagt Miroslav Kunstat, Mitglied der deutsch-tschechischen Historiker-Kommission:
"Wir sind 20 Jahre nach der Wende. Die unmittelbare Aufbauzeit ist vorbei – jetzt, nach einer Phase der gewissen Stabilisierung des tschechischen Staates, der tschechischen Gesellschaft. Angesichts der vielen Krisensymptome, die hier da sind, ist die Frage nach der Identität dieses Staatswesens und dieser Nation an der Schwelle des 21. Jahrhunderts so dringend. Und da muss man über die Deutschen und auch über ihre Vertreibung sprechen, natürlich."
Und so ist das, was in dem kleinen Dorf Dekov geschieht, längst kein Einzelfall mehr. Eine Art Aufbruchstimmung hat das Land erfasst – die Tschechen werfen einen neuen, einen kritischen Blick auf ihre Geschichte. In Postelberg, wo nach dem Krieg mehr als 700 Deutsch-Böhmen getötet wurden, steht heute, nach jahrelangem Streit, ein Denkmal für die Ermordeten. In Novy Bor, dem früheren Haida, erinnert ein kleiner Gedenkstein an deutsche Opfer eines Nachkriegs-Massakers. Tschechische Kulturschaffende setzen sich in Filmen, Büchern, Theaterstücken und Dokumentationen mit den Übergriffen gegen die deutsche Minderheit auseinander. Das große Tabuthema der vergangenen Jahrzehnte ist keines mehr. – Oder doch?
Der kleine Seminarraum in der Universität Brünn ist an diesem kalten Winterabend voll besetzt. Viele junge Leute sind zur Autorenlesung von Katerina Tuckova gekommen. Sie quetschen sich in die engen Bankreihen und warten - neugierig, gespannt.
Mit ihrem Buch "Die Vertreibung der Gerta Schnirch" hat die junge Schriftstellerin Katerina Tuckova ins Zentrum der aktuellen Debatte getroffen. Der Roman schildert jene Ereignisse im Mai und Juni 1945, die als "Brünner Todesmarsch" in die Geschichte eingingen. Mehrere Zehntausend Deutsche werden aus der Stadt gejagt. Es sind vorwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen, die von Bewaffneten Richtung österreichische Grenze getrieben werden. Einige Tausend sterben an Hunger, Durst oder Entkräftung.
"Ich bin gebürtige Brünnerin. Aber von der Vertreibung der Brünner Deutschen habe ich rein zufällig erfahren, und das erst mit 26 Jahren. Mich hat schockiert, dass ich so lange ahnungslos war. Erst an der Uni habe ich Historiker kennengelernt, die ich genauer zu den damaligen Ereignissen befragen konnte, als wir zufällig auf das Thema gestoßen sind. - Das ist eben so merkwürdig daran: Die normalen Menschen wissen fast nichts über dieses Thema."
Während ihres Studiums in Brünn hat die junge Autorin akribisch recherchiert. In ihrem Roman verschmelzen die historischen Fakten zu einer dramatischen Lebensgeschichte. Um die Ereignisse noch authentischer schildern zu können, hat Katerina Tuckova den Todesmarsch mit Freunden, Historikern und Zeitzeugen nachgestellt.
"Wir sind um zehn Uhr Abends am Mendelplatz aufgebrochen und die ganze Nacht durchgelaufen. Ich hatte einen Kinderwagen dabei und viel Gepäck, sodass ich am eigenen Leib spüren konnte, wie das damals gewesen sein muss. Bei unserer Aktion haben ungefähr 50 Leute mitgemacht, und es war sehr berührend."
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten mehr als fünfzigtausend Deutsche in Brünn, heute sind es nur noch ein paar Hundert. Das Schicksal der Brünner Deutschen wurde im Kommunismus verschwiegen. Und noch immer ist das für viele Tschechen ein heikles Thema:
"Ich musste in verschiedenen Internetforen üble Beschimpfungen über mich ergehen lassen. Warum ich diese Sache wieder aufwirbeln musste, wurde ich gefragt. Einige Leute haben behauptet, dass ich von der Sudetendeutschen Landsmannschaft bezahlt werde. Die meisten Drohungen waren anonym. Einer nannte sich Penicillin und hat wirklich schlimme Behauptungen über mich verbreitet."
Applaus nach einer einstündigen Debatte. Für viele Zuhörer war der Abend eine Bereicherung:
"Mich hat das Thema sehr beeindruckt, weil bei uns kaum darüber gesprochen wird. Nicht einmal in den Schulbüchern wird das behandelt. Ich selbst wusste überhaupt nichts darüber, deswegen bin ich gekommen. Ich finde es wichtig, darüber zu sprechen. Wir müssen über dieses Kapitel unserer Geschichte Bescheid wissen."
"Ich bin gekommen, weil ich darüber im Grunde nichts wusste. Ich wollte mehr erfahren. Wir sollten offen mit diesem Thema umgehen. Es ist wirklich gut, dass jemand darüber schreibt."
Das tun sie, die tschechischen Autoren – an der Seite von Künstlern, Intellektuellen, Wissenschaftlern und Aktivisten wie den jungen Leuten von Antikomplex. Doch es wird noch lange dauern, bis das Thema wirklich eines unter vielen anderen ist. Wer sich in die Debatte einschaltet, muss auch heute noch damit rechnen, wüst attackiert zu werden. Die Autorin Katerina Tuckova wurde im Internet bedroht. Und Ondrej Matejka vom Verein Antikomplex muss sich seit vielen Jahren dieselben Vorwürfe anhören – aber, das sei die gute Nachricht, immer seltener:
"Also, frustrierend war wirklich diese Fernsehdebatte, wo einer, also, wirklich schon ein bekannter tschechischer Journalist, ohne sich anzuschauen, was wir eigentlich machen, dann meinte, wir wären jetzt nur diejenigen, die immer wieder sinnlos die alten Wunden aufreiben und die tschechischen Opfer des Nationalsozialismus vergessen und so weiter. Wir haben schon tausend Mal erklärt, was wir eigentlich wollen und dass wir nicht von der Landsmannschaft bezahlt werden und so weiter. Dass das heute noch kommt, ist ärgerlich, aber es ist eigentlich doch die Ausnahme, die die Regeln bestätigt. Heute ist es nicht mehr die Regel, dass wir so angegriffen werden."
Dass die alten Wunden nicht verheilt sind, hat zuletzt die Debatte über einen neuen Dokumentarfilm gezeigt:
Es fängt scheinbar harmlos an. Zunächst sehen die Zuschauer Regisseur David Vondracek im Zug – eine Reise in die tschechische Provinz.
"Wir sind auf dem Weg nach Nordböhmen, von wo nach dem Krieg die alteingesessene deutsche Bevölkerung vertrieben wurde."
Schon hier wird klar – es geht nicht um eine böhmische Reisereportage. "Töten auf Tschechisch" heißt der Film, in dem David Vondracek die Vertreibung der Sudetendeutschen und Übergriffe gegen deutsche Zivilisten aufarbeitet.
"Ich bin selbst im Grenzgebiet aufgewachsen, in der Nähe von Marienbad. Als ich unter den Kommunisten zur Schule ging, war die Geschichte der Gegend überhaupt kein Thema. Wir haben erfahren, dass 1935 der erste Autobus in Marienbad gefahren ist und dass es 1950 die erste Straßenbahn dort gab. Aber dass Menschen von dort verschwunden sind, davon haben wir nie etwas erfahren."
Vor gut einem Jahr wurde dem 47-jährigen das historische Film-Material zugespielt. Ein Privatmann hatte kurz nach Kriegsende blutige Racheakte an Deutschen in Prag aufgenommen und den Film über Jahrzehnte versteckt.
"Wie in einer Liveübertragung sieht man da die Hinrichtung von Zivilisten, die sich nicht an Kämpfen beteiligt haben. Natürlich hat die SS vorher schlimme Massenmorde verübt. Aber die brutale Suggestivität dieser Bilder erschüttert jeden Zuschauer, der auch nur ein bisschen Gefühl hat, und macht bewusst, was das für eine Zeit war."
Diese Zeit will David Vondracek erforschen. Und so begibt er sich auf Spurensuche in den einst vorwiegend deutschen Dörfern Böhmens und Mährens – er sucht nach Zeitzeugen oder Gräbern, wo die Opfer der Übergriffe verscharrt wurden.
"Natürlich habe ich immer wieder gehört: Lass uns da Gras drüber wachsen. Das ist doch alles schon so lange her. Aber ich habe das Glück, dass ich Mitstreiter habe, die ähnlich über die Sache denken wie ich. Ich bin mir sicher: Um auf die andere Seite des Abgrundes zu kommen, muss man nun mal in die Tiefe schauen."
Doch für viele Tschechen ist der Blick in den Abgrund schwer zu ertragen. Früher schien alles ganz klar – die Deutschen waren die Täter, die Tschechen die Opfer. In dieses Schwarz-Weiß-Schema mischen sich nun erste Grautöne. Vondraceks Film hat dazu auf eine Art und Weise beigetragen, die ihm manche Tschechen übelnehmen. Vor allem das konservativ-nationale Lager, dem auch Präsident Vaclav Klaus angehört, reagiert auf jede neue Volte in der Debatte empfindlich. Einige werfen den eifrigen Aufklärern im eigenen Lande vor, das Unrecht der Nationalsozialisten zu relativieren. Trotzdem hat die hochgradig emotionale Debatte, die David Vondracek mit "Töten auf Tschechisch" ausgelöst hat, den erfahrenen Filmemacher selbst überrascht.
"50 bis 70 Prozent der Mails, die ich bekommen, sind richtig wüst. Dass ich ein Landesverräter bin usw. Die öffne ich erst gar nicht. Aber immerhin gibt es auch 20 bis 30 Prozent der Zuschauer, die nachdenken und einen humanen Blick auf die Zeit werfen. Das ist meiner Meinung nach schon ein Fortschritt."
Für "Töten auf Tschechisch" ist David Vondracek in Frankfurt kürzlich mit dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis ausgezeichnet worden. Und in Tschechien will er bald wieder den Finger in die Wunden legen: Sein nächster Dokumentarfilm ist schon in Planung. Sag mir, wo die Toten sind, soll er heißen.
Im westböhmischen Dekov geht nun ein anstrengender Tag zuende. Zum Abschluss ihres Workshops mit dem Verein Antikomplex feiern die Dekauer in ihrer schmucklosen, bitterkalten Kirche einen Gottesdienst. Danach wird das frisch restaurierte Denkmal auf dem Dorfplatz neu eingeweiht – es ehrt die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Auf der Gedenktafel sind fast nur deutsche Namen zu lesen. Der Kinderchor singt dazu die tschechische Nationalhymne, und einige ältere Leute greifen zum Taschentuch.
"Die Ziele, die wir uns gesetzt haben, da haben wir in etwa die Hälfte erreicht. Aber wichtiger war eigentlich, dass sich die Leute getroffen haben und dass da allgemein eine gute Stimmung geherrscht hat, was eine gute Voraussetzung dafür ist, dass man dann auch weiterhin daran arbeiten möchte."
In den alten Streit über die Vertreibung der Sudetendeutschen und deren juristische Grundlage, die sogenannten Benesdekrete, mischen sich immer versöhnlichere Töne. Das Fundament dafür haben Politiker beider Länder schon 1997 gelegt – mit der deutsch-tschechischen Erklärung. Darin heißt es, dass die beiden Staaten ihre Beziehungen – Zitat – "nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden". Wenn nun Horst Seehofer als erster bayerischer Ministerpräsident und Schirmherr der Sudetendeutschen nach Prag reist, ist die Ausgangslage besser denn je. Von "unseren Deutschen" sprach der tschechoslowakische Staatsgründer Tomas G. Masaryk 1927. Tschechien ist gerade dabei, sich diesem freundlichen Blick auf die Deutschen wieder anzunähern.
Ziel sei es, so der junge Historiker, im frisch rekonstruierten Pfarrhaus eine Ausstellung zur Dorfgeschichte aufzubauen. Ein Museum für die Bürger, betont Matejka. Sie sollen es selbst gestalten und deshalb gemeinsam überlegen, was aus ihrer Sicht unbedingt dazugehört.
Ein erstaunlicher Vorgang: Der Vizebürgermeister der 200-Seelen-Gemeinde hat die jungen Leute von Antikomplex sozusagen zu Hilfe gerufen. Kaum jemand wisse etwas über die Geschichte des einst von Deutschen bewohnten Dorfes bei Karlsbad. Das soll sich nun ändern, so Historiker Matejka.
"Wir haben hier ein kulturelles Erbe, das geteilt ist, was zum Teil hier geblieben ist, in Tschechien, und zum Teil mit den Vertriebenen nach Deutschland gegangen ist. Und es bietet sich an, dass man das wieder irgendwie verbindet, nur so können die Überreste davon noch am Leben gehalten werden."
In monatelangen Recherchen haben Matejka und zwei freiwillige Mitarbeiterinnen die Dorf-Geschichte aufgearbeitet: Alte Fotos und Zeichnungen haben sie zu dem Treffen in Dekov mitgebracht, Dokumente aus Archiven, Berichte von Zeitzeugen. Schnell entwickelt sich im Saal eine lebhafte Diskussion, bei der kein Thema ausgespart wird.
Wer hat früher in welchem Haus gewohnt? Wie haben die Menschen hier zusammengelebt; Sport, Kultur, Musik, Theatergruppe - was gab es da alles? Und auch die Vertreibung der Deutschen sei ein wichtiges Thema, meinen einige. Auch das gehöre hinein ins Museum.
Ondrej Matejka ist zufrieden. Vor mehr als zehn Jahren hat er den Verein Anti-Komplex mit Freunden gegründet. Die jungen Studenten hatten sich vorgenommen, Komplexe, Vorurteile, Missverständnisse im deutsch-tschechischen Verhältnis aus dem Weg zu räumen. Der Workshop in Dekov ist einer von vielen Schritten auf diesem mühsamen Weg:
"Wir bewegen uns jetzt heute auf dem Feld der Regionalgeschichte. Aber ich war schon überrascht, dass jetzt auch die Vertreibung ein Thema war, das die eigentlich wissen wollten, wie die Zwangsaussiedlung ausgesehen hat, was für Folgen das hatte. Das haben die selber einfach benannt als ein Thema. Das hat mich schon überrascht."
Man könnte meinen, die Dekauer hätten andere Probleme, als sich mit Nachkriegsgeschichte zu befassen. Die Arbeitslosenquote liegt bei 15 Prozent. Der einst wohlhabende Ort ist völlig heruntergekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die deutschsprachigen Einwohner vertrieben. Später wurde das Dorf neu besiedelt. Ein Bruch, der bis heute zu sehen und zu spüren ist.
"Die Leute müssen erst überhaupt einen Bezug zum Ort finden, sonst wird sich nichts bewegen. Also, wenn sie sich da nicht zu Hause fühlen, tun sie auch gar nichts. Also, ich bin zwar vom Beruf her Historiker, aber die Geschichte hat für mich nur dann den Sinn, wenn sie heute uns einen Dienst leistet. Und hier macht sie den konkreten Dienst, dass sie die Leute irgendwie zusammenbringt und dass sie auch hilft, die Leute zu animieren und zu aktivieren."
An erster Stelle stehe der Blick auf sich selbst und die eigenen Probleme, sagt Matejka. Damit gehe aber zwangsläufig die Auseinandersetzung mit den schwierigen Kapiteln der deutsch-tschechischen Geschichte einher. Viele Bürger in Dekov spüren, dass ihnen etwas abhandengekommen ist. Was genau, das wollen sie nun erfahren.
"Dieser Ort ist durch die Vertreibung der Deutschen quasi verstümmelt worden. Die Menschen, die heute hier leben, sind hier einfach nicht verwurzelt. Davon zeugt nicht nur, wie die Häuser und der Ort insgesamt aussehen, sondern auch wie die Leute miteinander umgehen. Deshalb müssen wir zusammenkommen und darüber reden, wie man das Dorf voranbringen kann."
"Meine Frau und ich leben erst seit zehn Jahren hier. Wir sind wegen der Wohnung hierhergezogen - und weil die Gegend schön ruhig ist. Aber je älter wir werden, desto klarer wird uns, dass es eben nicht nur ums Wohnen geht, sondern auch um die Wahrnehmung seiner selbst und dieses Ortes. Die Schicksale der Menschen hier waren wirklich tragisch, zu Kriegszeiten und danach muss es hier wirklich schrecklich gewesen sein."
Als "Sudetenland" wurden nach 1918 die vorwiegend deutsch besiedelten Landstriche Böhmens und Mährens bezeichnet. Mit dem Münchener Abkommen holte Hitler diese Gebiete 1938 "heim ins Reich", so die Nazi-Propaganda. Nach dem Einmarsch der Deutschen wurden die Tschechen brutal unterdrückt, Juden wurden verfolgt und deportiert. Die "Sudetendeutsche Partei", die spätestens von 1937 an den Nazis in Berlin hörig war, verzeichnete begeisterten Zulauf unter der deutschsprachigen Bevölkerung. Noch heute ist es vor allem das, was die Tschechen mit dem vergifteten Begriff "Sudetendeutsche" verbinden. Die Wut auf die Besatzer entlud sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Etwa drei Millionen Deutsche wurden vertrieben, an vielen Orten kam es zu Massakern an deutschen Zivilisten. Nun wird in Tschechien auch dieser Teil der Geschichte intensiv diskutiert. Die Zeit sei reif, sagt Miroslav Kunstat, Mitglied der deutsch-tschechischen Historiker-Kommission:
"Wir sind 20 Jahre nach der Wende. Die unmittelbare Aufbauzeit ist vorbei – jetzt, nach einer Phase der gewissen Stabilisierung des tschechischen Staates, der tschechischen Gesellschaft. Angesichts der vielen Krisensymptome, die hier da sind, ist die Frage nach der Identität dieses Staatswesens und dieser Nation an der Schwelle des 21. Jahrhunderts so dringend. Und da muss man über die Deutschen und auch über ihre Vertreibung sprechen, natürlich."
Und so ist das, was in dem kleinen Dorf Dekov geschieht, längst kein Einzelfall mehr. Eine Art Aufbruchstimmung hat das Land erfasst – die Tschechen werfen einen neuen, einen kritischen Blick auf ihre Geschichte. In Postelberg, wo nach dem Krieg mehr als 700 Deutsch-Böhmen getötet wurden, steht heute, nach jahrelangem Streit, ein Denkmal für die Ermordeten. In Novy Bor, dem früheren Haida, erinnert ein kleiner Gedenkstein an deutsche Opfer eines Nachkriegs-Massakers. Tschechische Kulturschaffende setzen sich in Filmen, Büchern, Theaterstücken und Dokumentationen mit den Übergriffen gegen die deutsche Minderheit auseinander. Das große Tabuthema der vergangenen Jahrzehnte ist keines mehr. – Oder doch?
Der kleine Seminarraum in der Universität Brünn ist an diesem kalten Winterabend voll besetzt. Viele junge Leute sind zur Autorenlesung von Katerina Tuckova gekommen. Sie quetschen sich in die engen Bankreihen und warten - neugierig, gespannt.
Mit ihrem Buch "Die Vertreibung der Gerta Schnirch" hat die junge Schriftstellerin Katerina Tuckova ins Zentrum der aktuellen Debatte getroffen. Der Roman schildert jene Ereignisse im Mai und Juni 1945, die als "Brünner Todesmarsch" in die Geschichte eingingen. Mehrere Zehntausend Deutsche werden aus der Stadt gejagt. Es sind vorwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen, die von Bewaffneten Richtung österreichische Grenze getrieben werden. Einige Tausend sterben an Hunger, Durst oder Entkräftung.
"Ich bin gebürtige Brünnerin. Aber von der Vertreibung der Brünner Deutschen habe ich rein zufällig erfahren, und das erst mit 26 Jahren. Mich hat schockiert, dass ich so lange ahnungslos war. Erst an der Uni habe ich Historiker kennengelernt, die ich genauer zu den damaligen Ereignissen befragen konnte, als wir zufällig auf das Thema gestoßen sind. - Das ist eben so merkwürdig daran: Die normalen Menschen wissen fast nichts über dieses Thema."
Während ihres Studiums in Brünn hat die junge Autorin akribisch recherchiert. In ihrem Roman verschmelzen die historischen Fakten zu einer dramatischen Lebensgeschichte. Um die Ereignisse noch authentischer schildern zu können, hat Katerina Tuckova den Todesmarsch mit Freunden, Historikern und Zeitzeugen nachgestellt.
"Wir sind um zehn Uhr Abends am Mendelplatz aufgebrochen und die ganze Nacht durchgelaufen. Ich hatte einen Kinderwagen dabei und viel Gepäck, sodass ich am eigenen Leib spüren konnte, wie das damals gewesen sein muss. Bei unserer Aktion haben ungefähr 50 Leute mitgemacht, und es war sehr berührend."
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten mehr als fünfzigtausend Deutsche in Brünn, heute sind es nur noch ein paar Hundert. Das Schicksal der Brünner Deutschen wurde im Kommunismus verschwiegen. Und noch immer ist das für viele Tschechen ein heikles Thema:
"Ich musste in verschiedenen Internetforen üble Beschimpfungen über mich ergehen lassen. Warum ich diese Sache wieder aufwirbeln musste, wurde ich gefragt. Einige Leute haben behauptet, dass ich von der Sudetendeutschen Landsmannschaft bezahlt werde. Die meisten Drohungen waren anonym. Einer nannte sich Penicillin und hat wirklich schlimme Behauptungen über mich verbreitet."
Applaus nach einer einstündigen Debatte. Für viele Zuhörer war der Abend eine Bereicherung:
"Mich hat das Thema sehr beeindruckt, weil bei uns kaum darüber gesprochen wird. Nicht einmal in den Schulbüchern wird das behandelt. Ich selbst wusste überhaupt nichts darüber, deswegen bin ich gekommen. Ich finde es wichtig, darüber zu sprechen. Wir müssen über dieses Kapitel unserer Geschichte Bescheid wissen."
"Ich bin gekommen, weil ich darüber im Grunde nichts wusste. Ich wollte mehr erfahren. Wir sollten offen mit diesem Thema umgehen. Es ist wirklich gut, dass jemand darüber schreibt."
Das tun sie, die tschechischen Autoren – an der Seite von Künstlern, Intellektuellen, Wissenschaftlern und Aktivisten wie den jungen Leuten von Antikomplex. Doch es wird noch lange dauern, bis das Thema wirklich eines unter vielen anderen ist. Wer sich in die Debatte einschaltet, muss auch heute noch damit rechnen, wüst attackiert zu werden. Die Autorin Katerina Tuckova wurde im Internet bedroht. Und Ondrej Matejka vom Verein Antikomplex muss sich seit vielen Jahren dieselben Vorwürfe anhören – aber, das sei die gute Nachricht, immer seltener:
"Also, frustrierend war wirklich diese Fernsehdebatte, wo einer, also, wirklich schon ein bekannter tschechischer Journalist, ohne sich anzuschauen, was wir eigentlich machen, dann meinte, wir wären jetzt nur diejenigen, die immer wieder sinnlos die alten Wunden aufreiben und die tschechischen Opfer des Nationalsozialismus vergessen und so weiter. Wir haben schon tausend Mal erklärt, was wir eigentlich wollen und dass wir nicht von der Landsmannschaft bezahlt werden und so weiter. Dass das heute noch kommt, ist ärgerlich, aber es ist eigentlich doch die Ausnahme, die die Regeln bestätigt. Heute ist es nicht mehr die Regel, dass wir so angegriffen werden."
Dass die alten Wunden nicht verheilt sind, hat zuletzt die Debatte über einen neuen Dokumentarfilm gezeigt:
Es fängt scheinbar harmlos an. Zunächst sehen die Zuschauer Regisseur David Vondracek im Zug – eine Reise in die tschechische Provinz.
"Wir sind auf dem Weg nach Nordböhmen, von wo nach dem Krieg die alteingesessene deutsche Bevölkerung vertrieben wurde."
Schon hier wird klar – es geht nicht um eine böhmische Reisereportage. "Töten auf Tschechisch" heißt der Film, in dem David Vondracek die Vertreibung der Sudetendeutschen und Übergriffe gegen deutsche Zivilisten aufarbeitet.
"Ich bin selbst im Grenzgebiet aufgewachsen, in der Nähe von Marienbad. Als ich unter den Kommunisten zur Schule ging, war die Geschichte der Gegend überhaupt kein Thema. Wir haben erfahren, dass 1935 der erste Autobus in Marienbad gefahren ist und dass es 1950 die erste Straßenbahn dort gab. Aber dass Menschen von dort verschwunden sind, davon haben wir nie etwas erfahren."
Vor gut einem Jahr wurde dem 47-jährigen das historische Film-Material zugespielt. Ein Privatmann hatte kurz nach Kriegsende blutige Racheakte an Deutschen in Prag aufgenommen und den Film über Jahrzehnte versteckt.
"Wie in einer Liveübertragung sieht man da die Hinrichtung von Zivilisten, die sich nicht an Kämpfen beteiligt haben. Natürlich hat die SS vorher schlimme Massenmorde verübt. Aber die brutale Suggestivität dieser Bilder erschüttert jeden Zuschauer, der auch nur ein bisschen Gefühl hat, und macht bewusst, was das für eine Zeit war."
Diese Zeit will David Vondracek erforschen. Und so begibt er sich auf Spurensuche in den einst vorwiegend deutschen Dörfern Böhmens und Mährens – er sucht nach Zeitzeugen oder Gräbern, wo die Opfer der Übergriffe verscharrt wurden.
"Natürlich habe ich immer wieder gehört: Lass uns da Gras drüber wachsen. Das ist doch alles schon so lange her. Aber ich habe das Glück, dass ich Mitstreiter habe, die ähnlich über die Sache denken wie ich. Ich bin mir sicher: Um auf die andere Seite des Abgrundes zu kommen, muss man nun mal in die Tiefe schauen."
Doch für viele Tschechen ist der Blick in den Abgrund schwer zu ertragen. Früher schien alles ganz klar – die Deutschen waren die Täter, die Tschechen die Opfer. In dieses Schwarz-Weiß-Schema mischen sich nun erste Grautöne. Vondraceks Film hat dazu auf eine Art und Weise beigetragen, die ihm manche Tschechen übelnehmen. Vor allem das konservativ-nationale Lager, dem auch Präsident Vaclav Klaus angehört, reagiert auf jede neue Volte in der Debatte empfindlich. Einige werfen den eifrigen Aufklärern im eigenen Lande vor, das Unrecht der Nationalsozialisten zu relativieren. Trotzdem hat die hochgradig emotionale Debatte, die David Vondracek mit "Töten auf Tschechisch" ausgelöst hat, den erfahrenen Filmemacher selbst überrascht.
"50 bis 70 Prozent der Mails, die ich bekommen, sind richtig wüst. Dass ich ein Landesverräter bin usw. Die öffne ich erst gar nicht. Aber immerhin gibt es auch 20 bis 30 Prozent der Zuschauer, die nachdenken und einen humanen Blick auf die Zeit werfen. Das ist meiner Meinung nach schon ein Fortschritt."
Für "Töten auf Tschechisch" ist David Vondracek in Frankfurt kürzlich mit dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis ausgezeichnet worden. Und in Tschechien will er bald wieder den Finger in die Wunden legen: Sein nächster Dokumentarfilm ist schon in Planung. Sag mir, wo die Toten sind, soll er heißen.
Im westböhmischen Dekov geht nun ein anstrengender Tag zuende. Zum Abschluss ihres Workshops mit dem Verein Antikomplex feiern die Dekauer in ihrer schmucklosen, bitterkalten Kirche einen Gottesdienst. Danach wird das frisch restaurierte Denkmal auf dem Dorfplatz neu eingeweiht – es ehrt die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Auf der Gedenktafel sind fast nur deutsche Namen zu lesen. Der Kinderchor singt dazu die tschechische Nationalhymne, und einige ältere Leute greifen zum Taschentuch.
"Die Ziele, die wir uns gesetzt haben, da haben wir in etwa die Hälfte erreicht. Aber wichtiger war eigentlich, dass sich die Leute getroffen haben und dass da allgemein eine gute Stimmung geherrscht hat, was eine gute Voraussetzung dafür ist, dass man dann auch weiterhin daran arbeiten möchte."
In den alten Streit über die Vertreibung der Sudetendeutschen und deren juristische Grundlage, die sogenannten Benesdekrete, mischen sich immer versöhnlichere Töne. Das Fundament dafür haben Politiker beider Länder schon 1997 gelegt – mit der deutsch-tschechischen Erklärung. Darin heißt es, dass die beiden Staaten ihre Beziehungen – Zitat – "nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden". Wenn nun Horst Seehofer als erster bayerischer Ministerpräsident und Schirmherr der Sudetendeutschen nach Prag reist, ist die Ausgangslage besser denn je. Von "unseren Deutschen" sprach der tschechoslowakische Staatsgründer Tomas G. Masaryk 1927. Tschechien ist gerade dabei, sich diesem freundlichen Blick auf die Deutschen wieder anzunähern.