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Unsichere Umfragen
Wahlforscherin: Bundestagswahl bleibt spannend bis zum Schluss

Wahlvorhersagen werden immer unsicherer, Prognosen gehen oft daneben. Auch das Rennen bei der Bundestagswahl ist für die Soziologin Sigrid Roßteutscher noch nicht entschieden. Im Dlf-Interview erläuterte die Wahlforscherin die Gründe dafür, warum Vorhersagen schwieriger geworden sind.

Sigrid Roßteutscher im Gespräch mit Barbara Schmidt-Mattern |
Wahldiagramm
Wahlvorhersagen werden immer schwieriger, auch weil sich die Wahlberechtigten spät entscheiden, sagt Soziologin Sigrid Roßteutscher (imago/U. J. Alexander)
Das Phänomen zeigte sich bereits beim Brexit und bei der US-Wahl im Jahr 2016, zuletzt auch bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt - Wahlvorhersagen werden immer unberechenbarer. Umfrageinstitute, aber auch Medien lagen in der jüngeren Vergangenheit mit ihren Prognosen oft daneben.
So ist auch bei der anstehenden Bundestagswahl zu erwarten, dass die Umfragen nur bedingt tauglich sind. Das hänge natürlich zum einen mit der begrenzten Zahl der Befragten ab, sagte Sigrid Roßteutscher, Soziologin und Politikwissenschaftlerin an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main in den "Informationen am Morgen". Wenn man tausend Leute befrage, könne man damit niemals die gesamte Wählerschaft abbilden. "Dieser Fehler ist schlicht nicht zu vermeiden", so die Wahlforscherin. Dadurch könne eine Prognose um bis zu zwei Prozent daneben liegen - nach oben wie nach unten.
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Die großen Unsicherheiten, mit denen Umfrageinstitute umgehen müssten, seien aber auch auf ein geändertes Wahlverhalten zurückzuführen. "Wir haben immer weniger Leute, die ganz fest mit ihrer Partei verbunden sind und sich gar nichts anderes vorstellen können als SPD oder CDU oder Grüne zu wählen", betonte Roßteutscher. Dies sei nicht nur in Deutschland festzustellen, sondern in Europa oder fast sogar in allen Demokratien weltweit.
Hinzu käme, dass sich immer mehr Wahlberechtigte erst am Wahltag entschieden, wo sie ihr Kreuz machten. 20 Prozent seien dies bei der vergangenen Bundestgaswahl 2017 gewesen. Auch die zunehmende Zahl der Spätentscheider mache genaue Prognosen schwieriger.

Das Interview in voller Länge.

Barbara Schmidt-Mattern: Die SPD frohlockt ja angesichts der Umfragen in diesen Tagen. Ist das Rennen schon gelaufen?
Sigrid Roßteutscher: Das war auch bei Trump und beim Brexit nicht gelaufen, um jetzt mal eine Lanze für die Umfragen zu reden. Wir haben hierbei ein schwieriges Problem, weil wir ungefähr tausend Befragte haben in Umfragen, und da muss geschlossen werden auf die Wählerschaft insgesamt, und da ist schlicht ein Fehler drin und dieser Fehler ist auch statistisch nicht zu vermeiden.
Schmidt-Mattern: Woher kommt das? Können Sie uns ein bisschen genauer erklären, woran das liegt?
Roßteutscher: Sie befragen, sagen wir, tausend Leute und schließen von diesen tausend Leuten darauf, wie die Wählerschaft insgesamt wählt. Das kann nicht korrekt hundertprozentig gehen, sondern wir haben da ungefähr einen Fehler von zwei Prozent.
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Schmidt-Mattern: Aber man hat doch früher zumindest dem Eindruck nach das Gefühl gehabt, dass das früher geklappt hat.
Roßteutscher: Wir hatten bei der Bundestagswahl 2017 ungefähr 35 Prozent, die gesagt haben, ihre Meinung steht bereits ein Jahr vor der Wahl. Solange man solche Wähler in Massen hat, ist eine Prognose ganz einfach. 2017 hatten wir aber auch zirka 20 Prozent, die gesagt haben, sie haben sich erst am Wahltag entschieden, und das ist eine ganz große Unsicherheit, mit der Umfragen umgehen müssen.

Mobileres Wahlverhalten

Schmidt-Mattern: Mit anderen Worten, die Wählerinnen und Wähler werden für die Umfrageinstitute immer unberechenbarer. Woran liegt das?
Roßteutscher: Das liegt daran, dass wir allmählich immer weniger Leute haben, die ganz fest mit ihrer Partei verbunden sind und sich gar nichts anderes vorstellen können als SPD oder CDU oder Grüne zu wählen, sondern mobiler sind und sich anschauen, wer vorne liegt, wo sie strategisch am besten ihr Kreuz machen. Das ist ein allgemeines Phänomen, das nicht nur in Deutschland so ist, sondern in Europa oder fast sogar in allen Demokratien weltweit, und damit bleibt die Sache spannend bis zum Schluss.
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Schmidt-Mattern: Zugleich aber beobachten wir, dass es eine wachsende Politisierung der Gesellschaft gibt, auch eine Polarisierung. Eigentlich müsste das ja dafür sorgen, dass viele Leute dann doch wieder bereit sind, sich eindeutig festzulegen, weil sie polarisiert sind. Ist dieser Trugschluss dann falsch?
Roßteutscher: Nein, der ist nicht falsch. Wir haben eine Polarisierung. Da ist vielleicht gerade Sachsen-Anhalt, was Sie erwähnt haben, ein perfektes Beispiel. Das betrifft aber die AfD und alle anderen als Gegenpartei. Was in Sachsen-Anhalt passiert ist, das ist: Sie haben eine Prognose gehabt, die ein Kopf-an-Kopf Rennen vorausgesagt hat, und das hat dazu geführt, dass dann viele Anhänger, die eigentlich eine andere Partei gewählt hätten, den Amtsinhaber gewählt haben, weil sie genau das vermeiden wollten, dass die AfD stärker wird als eine andere demokratische Partei.

Kampagne passt nicht zu Laschet

Schmidt-Mattern: Greifen wir uns ein konkretes Beispiel raus. Das bürgerlich-konservative Lager warnt ja in diesen Tagen vor einer Rote-Socken-Regierung, könnte man sagen. SPD und Linke rümpfen auch weiterhin die Nase über Rot-Grün. Liegen wir denn alle miteinander richtig, dass eine Mehrheit in Deutschland tatsächlich sich überzeugen lässt von so einer Rote-Socken-Kampagne der Union?
Roßteutscher: Das ist überraschend und wundert mich auch, passt auch gar nicht zu dem Kandidaten Laschet. Vielleicht würde es zu Söder passen, so eine Kampagne zu fahren – vor allen Dingen, da Scholz, aber auch Baerbock alles getan haben, um eigentlich ohne direkt Nein zu sagen mit ihren Bedingungen es faktisch ausgeschlossen haben. Wenn die Bedingung ein klares Ja zur NATO ist – und das hat Scholz ja ganz eindeutig so gesagt -, dann läuft eigentlich eine Rote-Socken-Kampagne ins Leere. Ich glaube nicht, dass die CDU/CSU damit Wähler erschreckt und zu sich bindet.
Schmidt-Mattern: Übersehen wir denn auf der anderen Seite gerade etwas, dass vielleicht Armin Laschet, der Kanzlerkandidat der Unions-Parteien, doch besser ankommt als gedacht?
Roßteutscher: Ich hatte das ganz am Anfang mit dem Fehler gesagt. Wenn jetzt eine Situation ist, dass Stand heute die SPD, sagen wir, bei 23 Prozent liegt, dann kann mit diesem zwei Prozent Fehler es sein, dass sie eigentlich bei 25 liegt oder aber auch bei 21. Wenn die CDU, Stand heute, bei 20 liegt, kann sie auch bei 22 liegen, natürlich auch bei 18. Das heißt aber, in sämtlichen Prognosen, die wir im Moment sehen, ist immer die Möglichkeit noch drin, dass die CDU eigentlich stärker ist als die SPD.

Klare Beschreibung des Nicht-Wählers

Schmidt-Mattern: Kommen wir noch auf einen anderen Aspekt zu sprechen. Wir haben schon die Polarisierung in der Gesellschaft analysiert. Das betrifft ja auch beispielsweise die Schere von Arm und Reich. Nun ist belegt, dass gerade arme Menschen weniger oft wählen gehen, als es vielleicht besser betuchte Menschen tun. Inwieweit sorgt auch das für Unsicherheit in den Wahlprognosen? Oder sind das alles Nichtwähler?
Roßteutscher: Es gibt eine klare, wenn man so will, Beschreibung des Nichtwählers, und der ist genauso wie Sie sagen. Er ist eher niedrig gebildet, er hat eher ein geringeres Einkommen und kommt eher aus einer geringeren sozialen Schicht.
Schmidt-Mattern: Was würde dabei helfen, diese Menschen wieder mehr zur Beteiligung an Wahlen zu bringen oder sie zu motivieren?
Roßteutscher: Wer viele Wahlen nicht wählen gegangen ist, wird wahrscheinlich kaum noch zu mobilisieren sein. Zentral ist das, weil die Schere geht gerade bei jungen Menschen auf. Abiturienten wählen heute so häufig wie eh und je. Es sind die Niedriggebildeten, die man wirklich mobilisieren muss, diese Hürde zu schaffen, wählen zu gehen, um dann auch eine Gewohnheit des Wählens zu erreichen. Das heißt, man muss an die Erstwähler heran, an die Jungwähler. Das ist die Klientel, um zu versuchen, dass die Demokratie und das Wahlverhalten wieder ein bisschen politisch gleicher wird, als es in letzter Zeit gewesen ist.

AfD kann Nichtwähler mobilisieren

Schmidt-Mattern: Welche Rolle spielt die AfD in diesem Zusammenhang?
Roßteutscher: Die AfD kann Nichtwähler mobilisieren. Das ist völlig richtig. Aber bei jeder Wahl, die wir bisher hatten, auch bei den Landtagswahlen, ist genau aus diesem Aspekt der Polarisierung heraus es den Amtsinhabern meist gelungen, drei bis fünfmal so viele Nichtwähler zu rekrutieren, als es die AfD schafft. Die AfD trägt dazu bei, wenn man es positiv wendet, dass eine gewisse Gruppe der Nichtwähler wieder an die Wahlurne kommt, aber vor allen Dingen noch mehr als sie selbst profitieren dann andere Parteien und vor allen Dingen meist die Partei der Amtsinhaberin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.