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"Unsterbliches Regiment" in Russland
Privates oder verordnetes Gedenken?

Jedes Jahr am 9. Mai wird auf dem Roten Platz in Moskau mit einer Militärparade an den Sieg im Zweiten Weltkrieg erinnert. Eine Waffenschau mit Panzern, Interkontinentalraketen und Militärflugzeugen. Inzwischen leben viele Veteranen nicht mehr. Ihre Angehörigen erinnern durch Gedenkmärsche an sie. Was unpolitisch und fern von staatlichem Einfluss begann, wird immer größer - und damit immer offizieller.

Von Gesine Dornblüth |
    Gedenkmarsch des Unsterblichen Regiments im Jahr 2015
    Gedenkmarsch des Unsterblichen Regiments im Jahr 2015 (picture alliance / dpa - Vladimir Vyatkin)
    Die Rentnerin Ljudmila nimmt zwei schwarz-weiß Fotos aus einer Plastiktüte. Sie zeigen einen alten Mann und eine alte Frau, beide etwas füllig, mit gutmütigem Gesichtsausdruck. Beide tragen Orden.
    "Das sind meine Eltern. Der Krieg hat sie völlig unerwartet gepackt. Meine Mutter hatte gerade die Schwesternschule in Charkow absolviert und musste direkt an die Front, ins Feldlazarett. Dort hat sie meinen Vater kennengelernt. Er war Offizier und verwundet. Daraus wurde eine Verbindung fürs Leben."
    Fotos verstorbener Angehöriger für Gedenkmärsche
    Die Rentnerin steht im Büro der Organisation "Unsterbliches Regiment Russlands" in Moskau. Seit Wochen wird hier der Gedenkmarsch für die Veteranen des "Großen Vaterländischen Krieges" vorbereitet. Fünf Mitarbeiter sitzen in Telefonkabinen, bedienen eine Hotline, geben Auskunft zum Ablauf. Junge Freiwillige helfen beim Anfertigen von Plakaten. Ljudmila will die Fotos ihrer Eltern für den Gedenkmarsch vergrößern lassen.
    "Ich habe auch früher schon am 9. Mai meiner Eltern gedacht. Zuhause, intim, mit Fotoalben. Aber letztes Jahr passierte etwas Unglaubliches. Ich war erst in der Kirche gewesen, hatte mich dann zuhause hingesetzt und schon die Alben geöffnet. Nebenbei lief der Fernseher. Dort war dann der Umzug zu sehen mit all den Menschen. Und ich habe mich gefragt, warum sitze ich noch hier, in diesem kleinen Zimmer?"
    Rund 500.000 Menschen zogen letztes Jahr im "Unsterblichen Regiment" durch Moskau. Auch Präsident Wladimir Putin lief eine Weile mit. Er trug ein Foto seines Vaters.
    Entstanden ist die Idee des "Unsterblichen Regiments" rund 3.500 Kilometer östlich von Moskau, im sibirischen Tomsk, als eine Graswurzelinitiative. Der Journalist Sergej Lapenkow hatte die Idee, gemeinsam mit zwei Freunden. Sie wollten eine Form finden, die Erinnerung an die Veteranen auch über deren Tod hinaus lebendig zu halten. 2012 riefen sie erstmals in Tomsk zu einem Gedenkmarsch auf. Sie erwarteten ein paar hundert Teilnehmer. Es kamen 6.000. Seitdem haben mehr als hundert Städte in Russland das Konzept übernommen. Lapenkow:
    "Im 'Unsterblichen Regiment', so wie wir es verstehen, ging und geht es vor allem um persönliches Gedenken eines konkreten Menschen. Deshalb ist es auch völlig unwichtig, wie viele Menschen teilnehmen."
    Ursprünglich als fern von staatlichem Einfluss
    Die Tomsker Erfinder des "Unsterblichen Regiments" hielten sich bewusst von Behörden fern und verzichteten darauf, Strukturen aufzubauen. Die Veranstaltung sollte überparteilich, unpolitisch und fern von staatlichem Einfluss sein - eine Herzensangelegenheit eben. Sie wurden längst von der russischen Wirklichkeit eingeholt. In Moskau gründete sich die russlandweite Organisation "Unsterbliches Regiment Russlands" mit dem Planungsstab. Ihr Vorsitzender, Nikolaj Semzow, saß eine Zeitlang für die Kommunistische Partei in einem Moskauer Bezirksparlament. Ihm werden Ambitionen für die diesjährige Duma-Wahl nachgesagt. Den Zweck des Gedenkmarsches formuliert Semzow so:
    "Das Hauptkriterium, beim "Regiment" mitzumachen, ist Liebe zur Heimat und das Verständnis dafür, dass deine Familie Kinder gebiert für den Dienst an der Heimat."
    In Saratow an der Wolga ordnete der regionale Bildungsminister in diesem Jahr an, eine bestimmte Zahl von Schülern im "Unsterblichen Regiment" mitlaufen zu lassen. In Moskau gab es bereits letztes Jahr Hinweise darauf, dass wohl nicht alle Teilnehmer aus freien Stücken bei dem Umzug mitmachten. Sie entsorgten Plakate mit Veteranenporträts in der Mülltonne. Das tut niemand mit den Fotos seiner Eltern oder Großeltern. In diesem Jahr wurde sogar in den Moskauer städtischen Bussen in Durchsagen zur Teilnahme an dem Gedenkmarsch aufgerufen. Für die Rentnerin Ljudmila spielt es keine Rolle, wer das "Unsterbliche Regiment" organisiert. Sie hat es letztes Jahr noch rechtzeitig zum Umzug auf den Roten Platz geschafft, mit den Fotos ihrer Eltern.
    "Diese innere Feierlichkeit, die Gesichter, und ich mitten drin. Meiner Eltern zu gedenken, ist mir wichtig, denn sie leben noch in meinem Herzen. Diese Menschen sind Teil unserer Geschichte, und das sind mehr als Worte."