Archiv


Unsterblichkeit der Menschheit ist nah

Vor 1800 lag die Lebenserwartung des Menschen noch zwischen 20 und 30. Inzwischen hat sich die Lebenserwartung vervielfacht. In dem Interviewbuch aus der Edition Unseld wird auf wissenschaftlicher Grundlage über die Ausdehnung der Lebensspanne nachgedacht.

Von Matthias Eckoldt |
    Die Unsterblichkeit der Menschheit ist nah, so lautet die fröhliche Botschaft des amerikanischen Erfinders und Futurologen Ray Kurzweil. Was das bedeutet, führt er im zentralen Interview des Bandes "Werden wir ewig leben?" aus. Kurzweil sieht drei Brücken, über die wir Menschen zur Unsterblichkeit gelangen können: Zuerst optimieren wir unseren Stoffwechsel mit Nahrungszusätzen und einem aktiven Lebensstil. So erreichen wir den Zeitpunkt, wo uns die Genetik auf der zweiten Brücke von altersbedingten Krankheiten heilen kann und uns fit macht für die Brücke drei. Hier kommen dann Nanoroboter zum Einsatz, die unseren Körper reparieren und unzuverlässige Teile - sprich Organe - ersetzen können. Auf dieser letzten Stufe vor dem Paradies gleichen wir uns mit der bis dahin ebenbürtigen Künstlichen Intelligenz ab, machen sicherheitshalber hin und wieder ein Backup unseres Bewusstsein und sind unsterblich! Diese ernsthaft und mit breitem naturwissenschaftlichen Hintergrund vorgetragene Brückenmythologie soll bereits in den nächsten dreißig Jahren greifen. Diese überschaubare Zeitspanne wird beredt, wenn man weiß, dass Ray Kurzweil unlängst seinen sechzigsten Geburtstag feierte und sich durch die Einnahme von täglich 200 Nahrungsergänzungspillen bereits auf Brücke eins zu befinden hofft.

    Die beiden Interviewer des Bandes "Werden wir ewig leben?", Tobias Hülswitt und Roman Brinzanik, gingen mit den auf den ersten Blick überspannt wirkenden Thesen des Erfinders der optischen Texterkennung und des Synthesizers zu den führenden Wissenschaftlern jener Fachgebiete, die Kurzweil vor den Karren seiner Unsterblichkeitsvision spannt. Interessant zu beobachten ist es, wie distanziert sich vom Chemie-Nobelpreisträger Jean-Marie Lehn über den Stammzellenforscher Hans Schöler bis zum Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, Peter Gruss, die Befragten zeigen, wenn sie mit den kalifornischen Prognosen von der stufenweisen Abschaffung des Todes konfrontiert werden. Wenn die Wissenschaftler aber aus dem Nähkästchen ihres Spezialgebiets zu plaudern beginnen, wird rasch klar, dass sie längst dabei sind, in Kurzweils Sinne zu forschen. Mit leiseren Tönen zwar, aber mit zählbaren Erfolgen. So spricht der Biogerontologe David Gems vom Altern nicht mehr als einem sinnvollen Prozess, sondern von einer Krankheit, die es zu heilen gilt. Auf die Frage nach der Verlängerung der Lebenspanne sagt Gems:

    "Bei Würmern kann man die Lebensspanne sehr drastisch verlängern, bis um das Zehnfache. Bei den höheren Tieren sind die Effekte kleiner. Bei Fliegen achtzig bis hundert Prozent, und bei Mäusen sind es eher 20 bis 40 Prozent. Die Plastizität der maximalen Lebensspanne ist also vorhanden, und die Gene und zellularen molekularen Netzwerke, die dabei eine Rolle spielen, werden zurzeit erkundet. Hier bieten sich viele mögliche Angriffspunkte für Medikamente. Grundsätzlich kann man sich also Medikamente vorstellen, die das Altern verlangsamen und die Gesundheit alter Menschen verbessern."

    Eine weitgehend unverbrauchte Perspektive auf den Gegenstand liefert der Demograf James Vaupel, indem er größere Zeiträume in seine Betrachtungen einbezieht. So lag die Lebenserwartung des Menschen in den letzten zehntausend Jahren fast durchgängig zwischen 20 und 30. Erst ab 1800 begannen die Menschen kontinuierlich älter zu werden. Extrapoliert man die Entwicklung der letzten 200 Jahre, kommt heraus, dass die Hälfte der ab 2000 in Europa Geborenen ihren 100. Geburtstag erleben werden. Derzeit steigt die Lebenserwartung um drei Monate pro Jahr oder sechs Stunden am Tag. Der Tod, so sagen die Untersuchungen von Vaupel, wird - zumindest in der sogenannten Ersten Welt - tatsächlich aufgeschoben. Die das gesamte Abendland beherrschende Idee des Aristoteles, dass der Alterstod angeboren ist, scheint falsch zu sein.

    So zwingen die steilen Thesen von Ray Kurzweil die Einzelwissenschaftler dazu, selbst pointierte Statements zum Thema Unsterblichkeit abzugeben. Seite um Seite wächst beim Leser das Gefühl, dass möglicherweise doch etwas Ungeheuerliches im Gange ist.

    Noch spektakulärer als die Lebenserwartung nämlich steigt das Niveau des technischen Fortschritts, so macht der Ethik-Professor Bert Gordijn aus Irland deutlich. Wenn man ein Diagramm zeichnen würde, so liefe eine Linie über zweieinhalb Millionen Jahre, vom Moment an, als unsere Urahnen den Faustkeil erfanden, nahe der Null, um dann nach etwa 99 Prozent der Zeit gleichsam vertikal in die Höhe zu schießen.

    "Aktuell sehen wir eine immense und sehr schnelle technologische Entwicklung, so rasant, dass es geradezu atemberaubend ist. Ich denke, dass wir mit unserer Fähigkeit, sowohl die materielle Welt um uns als auch uns selbst zu verändern, neue Horizonte und Gefilde erreichen."

    Einzig aus der Hirn- und der KI-Forschung weht scharfer Gegenwind. Der renommierte Hirnforscher Wolf Singer legt sehr eingängig die komplexe Struktur der Neuronennetzwerke dar. Mit unserer binären Rechnerarchitektur können zwar Raumschiffe gesteuert und Schachweltmeister besiegt werden, aber um die Aktivität einer einzigen Hirnzelle grob vereinfacht zu simulieren, bedarf es eines ganzen Großrechners. In einem Kubikmillimeter Gehirn gibt es nun jedoch 100.000 dieser Zellen, in deren Vernetzungen das eigentliche Funktionsgeheimnis des Gehirns liegt. An Kurzweils Traum, den Gedächtnis- oder gar den Bewusstseinsinhalt auf Festplatte zu speichern - sind wir demnach nicht viel näher dran als es die Neandertaler waren.

    Das Interviewbuch des Autors und Dozenten Tobias Hülswitt und des Genetikers Roman Brinzanik ist uns noch immer Totgeweihten sehr ans Herz zu legen. Mit viel Sachverstand und rhetorischem Geschick wird hier über 300 Seiten gefragt, ob vielleicht die alte, spätestens seit der Antike wirkmächtige Idee, dass letztlich der Tod dem Leben Sinn gibt, überdacht werden muss.

    Tobias Hülswitt und Roman Brinzanik: "Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie"(edition unseld), Suhrkamp Verlag, 307 Seiten, 15 Euro