Boas verlässt seine Frau Osnat und zieht zu seiner neuen Geliebten Ariela. - Kein Drama, das sich aus der Vielzahl ähnlicher Beziehungskisten herausheben würde, wenn nicht das soziale Umfeld für diesen Dreiecks-Plot von besonderer Art wäre und das Ereignis durch die spezielle Handschrift eines Autors in eine Prosa verwandelt würde, die an moderne Existenziale rührt.
Amos Oz, der israelische Schriftsteller, lässt uns mit schnörkellos erzählten Geschichten wie dieser auch an den Gründungsmythen des Staates Israel teilhaben, und er tut dies ohne Rücksicht auf Tabus, die diese Mythen schier unangreifbar zu machen scheinen.
Jeder kennt jeden
Die Trennungsgeschichte von Boas, Osnat und Ariela spielt sich nämlich im Kibbuz ab, einer Kommunität, die zumindest in den 1950er-Jahren wohl mehr an ein kommunistisches Utopia erinnerte als all die Experimente seit der Oktoberrevolution. Im Kibbuz kennt jeder jeden, alles wird geteilt und besprochen, Arbeit und Privatleben sind auf das Ziel ausgerichtet, eine Gemeinschaft zu sichern gegen die arabischen Anfeindungen von außen und individuelle Turbulenzen im Inneren. Geht so etwas gut?
Amoz Oz, der selbst in einem dieser Kibbuze aufwuchs, liefert zahlreiche Beispiele für die Beschädigungen, die das utopische Konzept in den Bewohnern anrichtete, vor allem denen der ersten und zweiten Generation. Alles im Camp wird von Prinzipien der Zurichtung auf Gemeinschaftlichkeit geleitet. Sie bestimmen den Takt des Lebens bis in das Liebes- und Trennungsverhalten hinein. So begegnet Osnat dem Weggang ihres Mannes zu Ariela mit einer Gleichmut, die erst verständlich wird durch den allseits herrschenden Grundsatz: Gemeinschaft steht vor Privatheit - wobei dieser Kommunismus in den engen Grenzen des Kibbuzes durchaus private Raubzüge erlaubt.
Geradezu perfide praktiziert das Alphatier der Kommunität, David Dagan, diese Doppelstrategie. Mit der Suggestionskraft eines Sektenführers holt er sich die Tochter seines besten Freundes ins Bett und erklärt gleichzeitig dem verwirrten Vater die wunderbare Ordo des Gemeinwesens.
Es war wohl kein Zufall, dass in den 1950er-Jahren die Utopie des Kibbuzes auch nach Europa ausstrahlen konnte: Junge israelische Mädchen mit kniefreien Shorts bei der Weinernte oder erotisierend wehrhaft mit der Knarre in der Hand: Das reizte auch die, die später mit dem Palästinenserschal ideologisch ins andere Lager übersiedelten.
Amos Oz ist unverdächtig solcher ideologischer Quantensprünge. Er hat in seinen Geschichten einfach nur genau hingeschaut und das Innenleben der Kibbuze durchleuchtet - jene Mischung aus zwanghaft verordneter Utopie und dem Selbstbehauptungswillen der Bewohner, die aber ihre Wünsche gegen das Kollektiv nicht durchsetzen können. So durchzieht die Geschichten ein Hauch von Vergeblichkeit Einsamkeit und Lethargie: Die Menschen bleiben Gefangene eines schier unauflösbaren Widerspruchs zwischen der bedrückenden jüdischen Vorgeschichte aus der Shoah, dem beschworenen Mythos des Neuanfangs und der tristen Realität des Alltags. Henja eine sechzigjährige Witwe, die noch die ersten Jahre im Kibbuz positiv in Erinnerung hat, sieht inzwischen nichts als Verfall am Werk:
"Am Anfang, in der ersten Zeit nach der Gründung des Kibbuz, waren alle eine Familie. Es stimmte, auch damals gab es zuweilen Zerwürfnisse, aber wir standen uns nahe. Jeden Abend saßen wir zusammen und sangen bis tief in die Nacht Lieder voller Leidenschaft und Sehnsucht. Und in den Nächten schliefen wir gemeinsam in Zelten. Und wenn jemand im Schlaf sprach, hörten wir alle, was er sagte. Heute wohnen wir in getrennten Wohnungen und einer krallt die Fingernägel in den anderen. Wenn du im Kibbuz von heute noch auf den Beinen stehst, warten alle darauf, dass du hinfällst, und wenn du hingefallen bist, dann stürzen sie herbei und wollen dir hochhelfen."
Versteckte Gefühle, im Keim erstickte Kritik
In dieser bedrückenden Ambivalenz sieht sich in einer anderen Geschichte auch Roni Schindlin: Gegenüber seiner prinzipienfesten Frau zeigt er sich als unterwürfig, während er seine rührende Fürsorge für seinen hochsensiblen Sohn zu verbergen sucht. Gefühle werden in der Gemeinschaft versteckt, offene Kritik in den zahlreich anberaumten Zusammenkünften im Keim erstickt. Für Roni bleiben zuletzt nur Zynismus und Klatschmäuligkeit, mit denen er dem Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Kibbuz begegnet.
"Das Leben der anderen verfolgte er mit unermüdlicher Neugier und großer Spottlust. Je höher die Ideale, davon war er überzeugt, desto lächerlicher würden unsere Schwächen und Widersprüchlichkeiten. Oft zitierte er lächelnd den Ausspruch von Levi Eschkol: 'Ein Mensch ist eben nur ein Mensch, und das auch nur selten'.
Gibt es aus dieser Lage kein Entrinnen? In einer anderen Geschichte erhält Jotam ein junger Mann von seinem Cousin Arthur in Mailand das Angebot, dort als Techniker zu arbeiten. Soll er das Angebot annehmen? Und wenn ja, soll er zurückkommen, um seine erworbenen Kompetenzen dem Kibbuz zur Verfügung zu stellen? Um sich darüber Klarheit zu verschaffen sucht er fast nach biblischem Vorbild die Wüste auf.
Auf einmal verstand er, dass es in Wirklichkeit nicht um Arthurs Einladung ging, sondern um die Frage, ob er mutig genug war, den Kibbuz zu verlassen, seine Mutter und seinen Bruder, um allein und mit leeren Händen in die Welt zu ziehen. Auf diese Frage fand er keine Antwort. Dornen und trockene Blätter klebten an seiner Hose ..."
Amos Oz hat in zahlreichen Romanen hinreichend beschrieben, wie sehr die Sogkräfte des israelischen Gründungsmythos, Gemeinschaftlichkeit nach innen und Feindbestimmung aus der Erfahrung des Holocausts, selbst bis heute noch wirksam sind. Sie dynamisieren, aber lähmen auch die Gesellschaft. - Damals, also noch vor dem Sechstagekrieg, ist es allein eine junge Frau, Nina, die den Horizont öffnet für eine freiere Sicht auf das Projekt Kibbuz:
"'In zehn oder zwanzig Jahren', sagte Nina, 'wird sich der Kibbuz in einen Ort von größerer Ruhe und Gelassenheit verwandelt haben. Jetzt sind alle Sprungfedern noch bis zum Äußersten gespannt, und der ganze Apparat zittert vor Anstrengung. Die Veteranen aus der Gründergeneration sind eigentlich fromme Menschen. Marx ist ihr Talmud, die Vollversammlung ist ihre Synagoge. Aber die Zeiten werden sich ändern.'"
Amos Oz: Unter Freunden.
Roman (aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler)
Suhrkamp Verlag 2013/2014, 170 Seiten, Preis: 7,99 Euro
Roman (aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler)
Suhrkamp Verlag 2013/2014, 170 Seiten, Preis: 7,99 Euro