Die Kanzlei, in der Cedric de Romanet tätig ist, liegt mitten in Paris. Ihre Anwälte gelten als Spezialisten im Bereich Umweltvergiftungen: von Asbest über Pestizide bis hin zu den Atomtests. Morgen Nachmittag vertritt Cedric de Romanet vor dem Sozialgericht in Evry, im Süden von Paris, einen Atomarbeiter. Christian Verronneau war ein Vierteljahrhundert lang als Dekontaminierer im Einsatz. Bei seiner Arbeit kam er regelmäßig mit radioaktiven Partikeln in Kontakt. Aufgrund unzureichender Schutzvorkehrungen und fehlender Schutzkleidung erkrankte der AKW- Arbeiter an Lungenkrebs. Im Sommer 2009 wurde sein Krebs als berufsbedingte Krankheit anerkannt. Eine Premiere in seiner Berufssparte.
Nun verklagt Christian Verronneau seinen Arbeitgeber vor dem Sozialgericht auf Entschädigung. Seine Anklage: Das Subunternehmen, bei dem er beschäftigt war, habe wissentlich seine Gesundheit gefährdet.
Anwalt de Romanet sieht noch einen zweiten Schuldigen: Electricité de France, kurz EDF, den ehemals staatlichen Energiekonzern und Betreiber des Atomstromparks, der das Subunternehmen mit den Wartungsarbeiten beauftragte. Doch nach französischem Recht ist der Konzern gerichtlich nicht zu belangen, bedauert der Jurist.
"Christian Verronneau gehört zu einer kleinen Gruppe von Wartungstechnikern, die man als "Atom-Zwangsarbeiter" bezeichnet. Arbeiter, die im französischen Atom-Park eingesetzt werden aber nicht beim Betreiber EDF angestellt sind. Denn EDF hat beschlossen, seine Angestellten nicht mehr in Bereichen einzusetzen, wo verstärkt radioaktive Strahlung anfällt. Diese Tätigkeiten wurden an Subunternehmen vergeben. EDF hat wohl seine Gründe dafür, die ich leider nicht kenne."
Gründe, die die Verantwortlichen des Stromkonzerns EDF auch nicht nennen wollen. Mehrere schriftliche Interview-Anfragen blieben unbeantwortet. Anwalt de Romanet:
"Wir verlangen Entschädigungszahlungen in vier Bereichen: für das körperliche und das seelische Leid. Für die körperliche Entstellung. Und für all die Freizeitaktivitäten, die wegen der Krankheit nicht mehr ausgeübt werden können. Die Krebserkrankung meines Mandanten ist leider in einem ziemlich fortgeschrittenen Stadium; ihm wurden schon Teile der Lunge entfernt; er ist körperlich sehr angeschlagen."
Anwalt de Romanet beruft sich auf die Strahlenschutzregelung für die in Atomanlagen Beschäftigten aus dem Jahr 1967, die damals erstmals eine zulässige Jahres-Höchstdosis festlegte. Früher wurde mit der Maßeinheit REM gemessen, heute in Milli Sievert. Von 50 Milli Sievert reduzierte die Europäische Union die höchst zulässige Jahres-Strahlenbelastung mittlerweile auf 20. Die Branche bezeichnet dies als "Dosis-Kredit". Cedric de Romanet:
"Leider ist es so, dass in diesem speziellen Atomsektor die Arbeitgeber - statt alles dafür zu tun, ihre Arbeiter so wenig wie möglich radioaktiver Strahlung auszusetzen - davon ausgehen, dass den Beschäftigten jährlich eine bestimmte Dosis Milli Sievert zuzumuten ist. Denn nach ihrer Meinung besteht für AKW-Arbeiter, die unter dem "Dosis-Kredit" bleiben keine gesundheitliche Gefährdung. Leider belegt der Fall von Christian Verronneau das Gegenteil."
Ortswechsel. Fécamp, in der Nähe der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre, unweit der Atomkraftwerke Penly und Paluel, die Anfang der 80er-Jahre in Betrieb gingen. Philippe Billard hat sich mit zwei Kollegen in dem kleinen Büro des örtlichen Vereinshauses verabredet. Wie Christian Verronneau, arbeiten auch sie seit vielen Jahren schon als Wartungsarbeiter für ein Subunternehmen des AKW-Betreibers EDF. 2008 haben die Drei - allesamt aktive Gewerkschafter - einen Selbsthilfeverein für Subatomarbeiter gegründet. Sie haben sich getroffen, um zu beraten, wie sie ihrem Kollegen Christian Verronneau bei seinem Gerichtstermin beistehen können.
"Ich werde noch einen Rundruf starten, um möglichst viele Unterstützer zusammenzutrommeln. Wir müssen dieses Klageverfahren unbedingt gewinnen, denn das würde unsere Arbeitgeber zu mehr Prävention zwingen und die Sicherheitsnormen zu verschärfen. Wenn Verronneau gewinnt, merken unsere Politiker vielleicht, dass der Atomsektor eine Risiko-Industrie darstellt. Die Industrie müsste einen Teil ihrer Gewinne in mehr Sicherheit am Arbeitsplatz investieren, zum Beispiel in Roboter, die in den Bereichen mit hoher radioaktiver Strahlung eingesetzt werden."
58 Atommeiler sind in Frankreich zurzeit in Betrieb. Deren Wartung wird alljährlich durchgeführt. Dafür werden die Anlagen abgeschaltet, die Brennstäbe in Abklingbecken gelagert, altersmüde Teile ausgetauscht und rund um die Reaktorherzen die radioaktiven Partikel bestmöglich entfernt. 80 Prozent dieser Wartungsarbeiten erledigen heute Arbeiter von Subunternehmen. Sie sind der höchsten Strahlendosis ausgesetzt. "Atom-Nomaden" seien sie, sagen diese Arbeiter, denn sie reisen von Kernkraftwerk zu Kernkraftwerk. Ihr Zeitdruck ist enorm. Dennoch übersteigt der Basislohn kaum den SMIC, den gesetzlich festgelegten Mindestlohn von 1400 Euro brutto, den die rund 30.000 "Atom-Nomaden" für ihre gefährliche Arbeit bekommen.
Einer von ihnen ist Dominique Samson. Anfang der 80er Jahre heuerte er in Fécamp bei einem atomaren Subunternehmen an. Es war der einzige Job, der in der Gegend aufzutreiben war. Den Einsatz im November 2007, bei Wartungsarbeiten im AKW, hat der Schweißer bis heute nicht vergessen. Eigentlich war es ein Routineauftrag. Samson sollte ein Ventil an einer Kühlwasserleitung austauschen, doch er konnte seine Arbeit nicht ausführen, weil er zwei Tage lang auf die vorgeschriebene Absauganlage warten musste - und die benötigte Sicherheitsschleuse wurde überhaupt nicht geliefert. Am dritten Tag machte sein Chef wegen des Verzugs solchen Druck, dass Familienvater Samson um seinen Job fürchtete und mit der Arbeit begann.
"Mein Kollege begann also das Ventil abzuschneiden. Als er fertig war, fing ich an, die Öffnung zu verschweißen. Und während ich so am Schweißen war, hörte ich auf einmal das Geräusch der Absauganlage nicht mehr. Für die hatten wir erst zwei Stock tiefer einen Stromanschluss gefunden. Ein Kollege hatte einfach das Kabel aus der Dose gezogen. Es dauerte bis ich mich aus der Nische, wo ich arbeitete, herauswinden konnte. Ich wurde innerlich kontaminiert, genauso wie mein Kollege. Schlecht wurde mir nicht, aber wir haben beide eine hohe Dosis abbekommen."
Nach diesem Vorfall wurden die Vorschriften zwar verschärft: Ohne ausdrückliche Anweisung darf kein Stecker mehr vom Netz genommen werden. Doch für Dominique Samson ist das kein Trost.
"Mir schwirrt seit diesem Unfall sehr viel im Kopf herum. Ich habe Angst, dass die Verstrahlung irgendwann eine Krebserkrankung auslösen könnte. Mir schwebt ständig das Damoklesschwert über dem Kopf. Die ersten drei Tage nach dem Unfall musste ich auf Anordnung von oben einen weiten Bogen um alle Dosis-Messgeräte im AKW machen. Wäre ich ihnen zu nahe gekommen, hätten sie Alarm geschlagen. Naja, aufgrund der Dosis, die wir so abkriegen, sind wir eh wahre Mini-Atomkraftwerke. Allerdings produzieren wir noch keinen Strom."
Auch Samson hat geklagt. Zunächst mit Erfolg. In erster Instanz wurde der Unfall als Arbeitsunfall anerkannt. Doch sein Arbeitgeber legte erfolgreich Einspruch ein. Seitdem ist Samson zum Kämpfer geworden. Er ist einer der Gründer des Atomarbeiter-Selbsthilfevereins, dem mittlerweile 15 Mitglieder angehören. Mehr sind es bislang nicht, trotz Werbung. Die meisten trauen sich nicht sich öffentlich zu ihrem Schicksal zu bekennen.
Die Atomarbeiter sind unsichtbar, sagt Annie Thébaud-Mony. Seit Ende der 80er-Jahre studiert die Arbeitssoziologin, die dem staatlichen Institut für Gesundheitsforschung angehört, die Arbeitsbedingungen der "Atom-Nomaden". 2000 veröffentlichte Thébaud-Mony einen 272-Seiten-Bericht zur Atomindustrie, in dem es um die Vergabe von Unteraufträgen und die "Servitude" geht. "Servitude" lässt sich übersetzen mit "Dienstbarkeit" oder auch mit "Knechtschaft".
"Den Begriff Servitude habe nicht ich eingebracht, sondern die Atomindustrie, als sie begann, den entstehenden Atom-Park zu organisieren. Sie bezeichnet damit Dekontaminierungsarbeiten oder auch das Verlegen von Bleidecken zum Strahlenschutz. Im Begriff Servitude steckt also, dass gewisse Arbeiter Tätigkeiten, bei denen sie radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind, erledigen, um alle anderen vor der Strahlung zu schützen. Leider sind auch heute noch, fünfzig Jahre nach Beginn der Atomstromproduktion, gewisse Arbeiter in der Servitude im Sklaventum, damit andere Arbeiter nicht verstrahlt werden. Vor allem aber: damit das Image der Atomindustrie nicht befleckt wird. Seit zwanzig Jahren arbeite ich dafür, diese Sub-Arbeiter und ihre gesundheitlichen Probleme sichtbar zu machen.
40 Sub-Atomarbeiter befragt Annie Thébaud-Mony regelmäßig zu deren Arbeitsalltag, danach, wie viel Strahlung sie abbekommen haben und wie es um ihren allgemeinen Gesundheitszustand bestellt ist.
""Während der zehnjährigen Studie konnte ich verfolgen, welche gesundheitlichen Probleme bei denen auftreten, die als Sub-Arbeiter im AKW tätig sind. An erster Stelle sind das Krebserkrankungen: Lunge, Knochen, Leukämie. Als Berufskrankheit wurde der Krebs nur bei denen anerkannt, die früher im Uranabbau tätig gewesen waren. Das zweite Gesundheitsproblem: tödliche Unfälle im Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen, die für viel Druck sorgen. Ein Beispiel. Nach einer anstrengenden Arbeitswoche im Schichtdienst in einem südfranzösischen AKW muss jemand am folgenden Montag in Nordfrankreich antreten, 800 Kilometer entfernt. In meiner Studiengruppe gab es mehrere Fälle tödlicher Auto-Unfälle, weil die Arbeiter völlig übermüdet am Steuer saßen. Drittes Problem: ein Selbstmord. Der steht nach meinen Untersuchungen im Zusammenhang mit der sogenannten Dosis-Verwaltung. Dazu muss man wissen: Um die Strahlendosis, die ein Sub-Atomarbeiter im laufenden Jahr abbekommen hat zu überprüfen, wurde eine Dosimeter-Überwachung für alle Arbeitnehmer von Subunternehmen eingeführt. Das erlaubt jederzeit und in jeder Atomanlage, diejenigen herauszufiltern, die knapp an der höchst zulässigen Jahresdosis sind. Der Selbstmörder in meiner Untersuchungsgruppe war ein Leiharbeiter, der wegen seiner hohen Strahlendosis nicht mehr im AKW arbeiten durfte.
Die medizinische Betreuung der "Atom-Nomaden" bezeichnet Soziologin Thébaud-Mony als "sehr schlecht". Zwar müssen die Arbeiter regelmäßig zum Betriebsarzt, doch vielfach treffen sie auf Mediziner, die mit Strahlenfolgen nicht vertraut sind. Dabei, sagt Thébaud-Mony, ist die monatliche Strahlenbelastung der "Atom-Nomaden" durchschnittlich fünfzehnfach höher als die eines EDF-Angestellten im AKW.
""Diese Politik, bei der die Strahlendosis auf zwei verschiedene Arbeitergruppen fragmentiert wird, ist keinesfalls eine französische Eigenheit. Zu meiner Studie zählen Atomarbeiter, die in der Schweiz und in Belgien im Einsatz waren. Ich weiß, dass in Deutschland nach demselben Modell gearbeitet wird. Der japanische AKW-Betreiber Tepco setzte auf Subunternehmen, ebenso bei der regelmäßigen Wartung wie auch beim GAU in Fukushima. Auch in Schweden obliegt die Wartung ausschließlich Subunternehmen."
Die wissenschaftliche Studie listet zahlreiche Beispiele aus dem Arbeitsalltag auf, die haarsträubend sind, sagt Frau Thébaud-Mony. Vor allem skandalös sei die Kluft zwischen den vorgegebenen Auftrags-Arbeiten und denen, die laut den Wartungstechnikern eigentlich notwendig wären, aber aus Zeitmangel unterbleiben.
"Wenn man den Arbeitern nicht den nötigen Spielraum lässt, ihren Job so zu erledigen, wie es eigentlich sein müsste, dann können sie nicht sauber arbeiten. Immer häufiger gibt es deshalb Störfälle, wie es offiziell genannt wird. Ich nenne das Unfälle. Angesichts der Häufung der Störfälle in französischen Atomkraftwerken fürchte ich, dass eines Tages aus einem solchen Störfall ein GAU wird."
Zurück nach Paris. Thomas Houdré sichtet Akten im Pariser Hauptsitz der Autorité de Sûreté Nucléaire, kurz: ASN. Houdré ist Direktor der Abteilung Atomkraftwerke beim Atomgendarm ASN, der 2006 per staatlichem Dekret gegründeten unabhängigen Überwachungseinrichtung. Die Akten enthalten Inspektions-Unterlagen. Bei AKW-Wartungsarbeiten überprüft die ASN regelmäßig die Einsatzbedingungen der Subunternehmen und meldet EDF dann für alle Wartungsarbeiten akribisch, welche Regelwidrigkeiten abzustellen sind, erläutert Thomas Houdré.
"Was die Überwachung der an Subunternehmen ausgelagerten Wartungsarbeiten anbelangt, ist die ASN der Ansicht, dass EDF noch Fortschritte machen muss. Gemeinsam mit dem Umweltminister haben wir kürzlich einen Erlass veröffentlicht, mit dem die anzuwendenden Regeln verschärft werden wie auch die Anforderungen betreffs der Überwachung ausgelagerter Arbeiten, die die Sicherheit der Anlagen angehen. Im Stresstest-Bericht halten wir beispielsweise fest, dass EDF gewisse Fragen nicht ausreichend beantwortet hat. Bislang hapert es am Garantie-Nachweis, dass EDF - auch bei den ausgelagerten Arbeiten - jederzeit die volle Verantwortung für die Sicherheit der Atomanlage tragen muss."
Als Reizwort gilt: "sous-traitance en cascade". Das bedeutet: EDF hat in den letzten Jahren massiv Arbeiten an Subunternehmen ausgelagert, die ihrerseits wiederum Arbeiten an Unterfirmen weitergeben. Diese kaskadenhafte Auslagerung erschwert die Kontrolle der durchgeführten Arbeiten oder macht sie gar unmöglich.
Ein Café in Paris. Gilles Compagnat sitzt vor einer Tasse Espresso. Der Techniker war Jahrzehnte lang für EDF in einer AKW- Kommandozentrale tätig. Nun ist er Rentner und vertritt die Gewerkschaft CFDT im "Hohen Komitee für die Transparenz der Information zur Atom-Sicherheit". Frankreich sei das einzige Land, das bei den europäischen Stresstests auch die Lage der Atomarbeiter berücksichtige, sagt er. Allerdings müssten die französischen Kernkraftwerke umfangreich nachgerüstet werden, um im Ernstfall einem GAU - wie vor einem Jahr in Fukushima - vorzubeugen.
"EDF hat in letzter Zeit enorme finanzielle Mittel aufgebracht, um das Arbeitsumfeld der Wartungsarbeiter der Subunternehmen zu verbessern. Campingplätze wurden komfortabler ausgestattet, Kantinen eingerichtet und Ruheecken in den Atomzentralen. Auch die Dosimeter-Überwachung wurde strenger reglementiert. Aber es mangelt weiterhin an kompetenten Betriebsärzten. Zudem ist noch manches zu regeln, was die Verträge, die EDF mit den Subunternehmen abschließt, anbelangt. Hinzu kommt, dass die Einsatzzeiten für die Wartungsarbeiten aus wirtschaftlichen Gründen immer mehr verkürzt werden und somit der Druck auf die Sub-Arbeiter steigt."
Zurück in die Normandie. Philippe Billard ist unterwegs zum Leuchtturm, von Fécamp von welchem man in der Ferne die mächtigen Atommeiler sehen kann. In den Algen zu Füßen des Leuchtturms lagert sich Tritium aus dem AKW-Betrieb an, berichtet Billard. Fünf Jahre - und letztendlich erfolgreich - kämpfte der Arbeiter gerichtlich gegen seine Kündigung. Seine Firma, ein großes Subunternehmen, hatte ihn kaltstellen wollen. Billard kritisierte zu lautstark die Arbeitsbedingungen. Mit seinem kleinen Verein will Billard den Kampf fortsetzen, auch wenn David gegen Goliath kämpft, wie er sagt. Die meiste Unterstützung erhält er dabei von Atomkraftgegnern. Auch Philippe Billard plädiert heute für einen Atomausstieg.
"Warum ich weitermache? Zum einen für meine Kollegen und zum anderen für meine Kinder. Ich will nicht, dass sie später einmal so ausgebeutet werden, wie ich es wurde. Und ich bin wütend, weil meine Kinder gefährdet sind, weil ich lange Zeit radioaktiver Strahlung ausgesetzt war. Vielleicht werden sie irgendwann einmal krank, ohne je selbst radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen zu sein."
Nun verklagt Christian Verronneau seinen Arbeitgeber vor dem Sozialgericht auf Entschädigung. Seine Anklage: Das Subunternehmen, bei dem er beschäftigt war, habe wissentlich seine Gesundheit gefährdet.
Anwalt de Romanet sieht noch einen zweiten Schuldigen: Electricité de France, kurz EDF, den ehemals staatlichen Energiekonzern und Betreiber des Atomstromparks, der das Subunternehmen mit den Wartungsarbeiten beauftragte. Doch nach französischem Recht ist der Konzern gerichtlich nicht zu belangen, bedauert der Jurist.
"Christian Verronneau gehört zu einer kleinen Gruppe von Wartungstechnikern, die man als "Atom-Zwangsarbeiter" bezeichnet. Arbeiter, die im französischen Atom-Park eingesetzt werden aber nicht beim Betreiber EDF angestellt sind. Denn EDF hat beschlossen, seine Angestellten nicht mehr in Bereichen einzusetzen, wo verstärkt radioaktive Strahlung anfällt. Diese Tätigkeiten wurden an Subunternehmen vergeben. EDF hat wohl seine Gründe dafür, die ich leider nicht kenne."
Gründe, die die Verantwortlichen des Stromkonzerns EDF auch nicht nennen wollen. Mehrere schriftliche Interview-Anfragen blieben unbeantwortet. Anwalt de Romanet:
"Wir verlangen Entschädigungszahlungen in vier Bereichen: für das körperliche und das seelische Leid. Für die körperliche Entstellung. Und für all die Freizeitaktivitäten, die wegen der Krankheit nicht mehr ausgeübt werden können. Die Krebserkrankung meines Mandanten ist leider in einem ziemlich fortgeschrittenen Stadium; ihm wurden schon Teile der Lunge entfernt; er ist körperlich sehr angeschlagen."
Anwalt de Romanet beruft sich auf die Strahlenschutzregelung für die in Atomanlagen Beschäftigten aus dem Jahr 1967, die damals erstmals eine zulässige Jahres-Höchstdosis festlegte. Früher wurde mit der Maßeinheit REM gemessen, heute in Milli Sievert. Von 50 Milli Sievert reduzierte die Europäische Union die höchst zulässige Jahres-Strahlenbelastung mittlerweile auf 20. Die Branche bezeichnet dies als "Dosis-Kredit". Cedric de Romanet:
"Leider ist es so, dass in diesem speziellen Atomsektor die Arbeitgeber - statt alles dafür zu tun, ihre Arbeiter so wenig wie möglich radioaktiver Strahlung auszusetzen - davon ausgehen, dass den Beschäftigten jährlich eine bestimmte Dosis Milli Sievert zuzumuten ist. Denn nach ihrer Meinung besteht für AKW-Arbeiter, die unter dem "Dosis-Kredit" bleiben keine gesundheitliche Gefährdung. Leider belegt der Fall von Christian Verronneau das Gegenteil."
Ortswechsel. Fécamp, in der Nähe der nordfranzösischen Hafenstadt Le Havre, unweit der Atomkraftwerke Penly und Paluel, die Anfang der 80er-Jahre in Betrieb gingen. Philippe Billard hat sich mit zwei Kollegen in dem kleinen Büro des örtlichen Vereinshauses verabredet. Wie Christian Verronneau, arbeiten auch sie seit vielen Jahren schon als Wartungsarbeiter für ein Subunternehmen des AKW-Betreibers EDF. 2008 haben die Drei - allesamt aktive Gewerkschafter - einen Selbsthilfeverein für Subatomarbeiter gegründet. Sie haben sich getroffen, um zu beraten, wie sie ihrem Kollegen Christian Verronneau bei seinem Gerichtstermin beistehen können.
"Ich werde noch einen Rundruf starten, um möglichst viele Unterstützer zusammenzutrommeln. Wir müssen dieses Klageverfahren unbedingt gewinnen, denn das würde unsere Arbeitgeber zu mehr Prävention zwingen und die Sicherheitsnormen zu verschärfen. Wenn Verronneau gewinnt, merken unsere Politiker vielleicht, dass der Atomsektor eine Risiko-Industrie darstellt. Die Industrie müsste einen Teil ihrer Gewinne in mehr Sicherheit am Arbeitsplatz investieren, zum Beispiel in Roboter, die in den Bereichen mit hoher radioaktiver Strahlung eingesetzt werden."
58 Atommeiler sind in Frankreich zurzeit in Betrieb. Deren Wartung wird alljährlich durchgeführt. Dafür werden die Anlagen abgeschaltet, die Brennstäbe in Abklingbecken gelagert, altersmüde Teile ausgetauscht und rund um die Reaktorherzen die radioaktiven Partikel bestmöglich entfernt. 80 Prozent dieser Wartungsarbeiten erledigen heute Arbeiter von Subunternehmen. Sie sind der höchsten Strahlendosis ausgesetzt. "Atom-Nomaden" seien sie, sagen diese Arbeiter, denn sie reisen von Kernkraftwerk zu Kernkraftwerk. Ihr Zeitdruck ist enorm. Dennoch übersteigt der Basislohn kaum den SMIC, den gesetzlich festgelegten Mindestlohn von 1400 Euro brutto, den die rund 30.000 "Atom-Nomaden" für ihre gefährliche Arbeit bekommen.
Einer von ihnen ist Dominique Samson. Anfang der 80er Jahre heuerte er in Fécamp bei einem atomaren Subunternehmen an. Es war der einzige Job, der in der Gegend aufzutreiben war. Den Einsatz im November 2007, bei Wartungsarbeiten im AKW, hat der Schweißer bis heute nicht vergessen. Eigentlich war es ein Routineauftrag. Samson sollte ein Ventil an einer Kühlwasserleitung austauschen, doch er konnte seine Arbeit nicht ausführen, weil er zwei Tage lang auf die vorgeschriebene Absauganlage warten musste - und die benötigte Sicherheitsschleuse wurde überhaupt nicht geliefert. Am dritten Tag machte sein Chef wegen des Verzugs solchen Druck, dass Familienvater Samson um seinen Job fürchtete und mit der Arbeit begann.
"Mein Kollege begann also das Ventil abzuschneiden. Als er fertig war, fing ich an, die Öffnung zu verschweißen. Und während ich so am Schweißen war, hörte ich auf einmal das Geräusch der Absauganlage nicht mehr. Für die hatten wir erst zwei Stock tiefer einen Stromanschluss gefunden. Ein Kollege hatte einfach das Kabel aus der Dose gezogen. Es dauerte bis ich mich aus der Nische, wo ich arbeitete, herauswinden konnte. Ich wurde innerlich kontaminiert, genauso wie mein Kollege. Schlecht wurde mir nicht, aber wir haben beide eine hohe Dosis abbekommen."
Nach diesem Vorfall wurden die Vorschriften zwar verschärft: Ohne ausdrückliche Anweisung darf kein Stecker mehr vom Netz genommen werden. Doch für Dominique Samson ist das kein Trost.
"Mir schwirrt seit diesem Unfall sehr viel im Kopf herum. Ich habe Angst, dass die Verstrahlung irgendwann eine Krebserkrankung auslösen könnte. Mir schwebt ständig das Damoklesschwert über dem Kopf. Die ersten drei Tage nach dem Unfall musste ich auf Anordnung von oben einen weiten Bogen um alle Dosis-Messgeräte im AKW machen. Wäre ich ihnen zu nahe gekommen, hätten sie Alarm geschlagen. Naja, aufgrund der Dosis, die wir so abkriegen, sind wir eh wahre Mini-Atomkraftwerke. Allerdings produzieren wir noch keinen Strom."
Auch Samson hat geklagt. Zunächst mit Erfolg. In erster Instanz wurde der Unfall als Arbeitsunfall anerkannt. Doch sein Arbeitgeber legte erfolgreich Einspruch ein. Seitdem ist Samson zum Kämpfer geworden. Er ist einer der Gründer des Atomarbeiter-Selbsthilfevereins, dem mittlerweile 15 Mitglieder angehören. Mehr sind es bislang nicht, trotz Werbung. Die meisten trauen sich nicht sich öffentlich zu ihrem Schicksal zu bekennen.
Die Atomarbeiter sind unsichtbar, sagt Annie Thébaud-Mony. Seit Ende der 80er-Jahre studiert die Arbeitssoziologin, die dem staatlichen Institut für Gesundheitsforschung angehört, die Arbeitsbedingungen der "Atom-Nomaden". 2000 veröffentlichte Thébaud-Mony einen 272-Seiten-Bericht zur Atomindustrie, in dem es um die Vergabe von Unteraufträgen und die "Servitude" geht. "Servitude" lässt sich übersetzen mit "Dienstbarkeit" oder auch mit "Knechtschaft".
"Den Begriff Servitude habe nicht ich eingebracht, sondern die Atomindustrie, als sie begann, den entstehenden Atom-Park zu organisieren. Sie bezeichnet damit Dekontaminierungsarbeiten oder auch das Verlegen von Bleidecken zum Strahlenschutz. Im Begriff Servitude steckt also, dass gewisse Arbeiter Tätigkeiten, bei denen sie radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind, erledigen, um alle anderen vor der Strahlung zu schützen. Leider sind auch heute noch, fünfzig Jahre nach Beginn der Atomstromproduktion, gewisse Arbeiter in der Servitude im Sklaventum, damit andere Arbeiter nicht verstrahlt werden. Vor allem aber: damit das Image der Atomindustrie nicht befleckt wird. Seit zwanzig Jahren arbeite ich dafür, diese Sub-Arbeiter und ihre gesundheitlichen Probleme sichtbar zu machen.
40 Sub-Atomarbeiter befragt Annie Thébaud-Mony regelmäßig zu deren Arbeitsalltag, danach, wie viel Strahlung sie abbekommen haben und wie es um ihren allgemeinen Gesundheitszustand bestellt ist.
""Während der zehnjährigen Studie konnte ich verfolgen, welche gesundheitlichen Probleme bei denen auftreten, die als Sub-Arbeiter im AKW tätig sind. An erster Stelle sind das Krebserkrankungen: Lunge, Knochen, Leukämie. Als Berufskrankheit wurde der Krebs nur bei denen anerkannt, die früher im Uranabbau tätig gewesen waren. Das zweite Gesundheitsproblem: tödliche Unfälle im Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen, die für viel Druck sorgen. Ein Beispiel. Nach einer anstrengenden Arbeitswoche im Schichtdienst in einem südfranzösischen AKW muss jemand am folgenden Montag in Nordfrankreich antreten, 800 Kilometer entfernt. In meiner Studiengruppe gab es mehrere Fälle tödlicher Auto-Unfälle, weil die Arbeiter völlig übermüdet am Steuer saßen. Drittes Problem: ein Selbstmord. Der steht nach meinen Untersuchungen im Zusammenhang mit der sogenannten Dosis-Verwaltung. Dazu muss man wissen: Um die Strahlendosis, die ein Sub-Atomarbeiter im laufenden Jahr abbekommen hat zu überprüfen, wurde eine Dosimeter-Überwachung für alle Arbeitnehmer von Subunternehmen eingeführt. Das erlaubt jederzeit und in jeder Atomanlage, diejenigen herauszufiltern, die knapp an der höchst zulässigen Jahresdosis sind. Der Selbstmörder in meiner Untersuchungsgruppe war ein Leiharbeiter, der wegen seiner hohen Strahlendosis nicht mehr im AKW arbeiten durfte.
Die medizinische Betreuung der "Atom-Nomaden" bezeichnet Soziologin Thébaud-Mony als "sehr schlecht". Zwar müssen die Arbeiter regelmäßig zum Betriebsarzt, doch vielfach treffen sie auf Mediziner, die mit Strahlenfolgen nicht vertraut sind. Dabei, sagt Thébaud-Mony, ist die monatliche Strahlenbelastung der "Atom-Nomaden" durchschnittlich fünfzehnfach höher als die eines EDF-Angestellten im AKW.
""Diese Politik, bei der die Strahlendosis auf zwei verschiedene Arbeitergruppen fragmentiert wird, ist keinesfalls eine französische Eigenheit. Zu meiner Studie zählen Atomarbeiter, die in der Schweiz und in Belgien im Einsatz waren. Ich weiß, dass in Deutschland nach demselben Modell gearbeitet wird. Der japanische AKW-Betreiber Tepco setzte auf Subunternehmen, ebenso bei der regelmäßigen Wartung wie auch beim GAU in Fukushima. Auch in Schweden obliegt die Wartung ausschließlich Subunternehmen."
Die wissenschaftliche Studie listet zahlreiche Beispiele aus dem Arbeitsalltag auf, die haarsträubend sind, sagt Frau Thébaud-Mony. Vor allem skandalös sei die Kluft zwischen den vorgegebenen Auftrags-Arbeiten und denen, die laut den Wartungstechnikern eigentlich notwendig wären, aber aus Zeitmangel unterbleiben.
"Wenn man den Arbeitern nicht den nötigen Spielraum lässt, ihren Job so zu erledigen, wie es eigentlich sein müsste, dann können sie nicht sauber arbeiten. Immer häufiger gibt es deshalb Störfälle, wie es offiziell genannt wird. Ich nenne das Unfälle. Angesichts der Häufung der Störfälle in französischen Atomkraftwerken fürchte ich, dass eines Tages aus einem solchen Störfall ein GAU wird."
Zurück nach Paris. Thomas Houdré sichtet Akten im Pariser Hauptsitz der Autorité de Sûreté Nucléaire, kurz: ASN. Houdré ist Direktor der Abteilung Atomkraftwerke beim Atomgendarm ASN, der 2006 per staatlichem Dekret gegründeten unabhängigen Überwachungseinrichtung. Die Akten enthalten Inspektions-Unterlagen. Bei AKW-Wartungsarbeiten überprüft die ASN regelmäßig die Einsatzbedingungen der Subunternehmen und meldet EDF dann für alle Wartungsarbeiten akribisch, welche Regelwidrigkeiten abzustellen sind, erläutert Thomas Houdré.
"Was die Überwachung der an Subunternehmen ausgelagerten Wartungsarbeiten anbelangt, ist die ASN der Ansicht, dass EDF noch Fortschritte machen muss. Gemeinsam mit dem Umweltminister haben wir kürzlich einen Erlass veröffentlicht, mit dem die anzuwendenden Regeln verschärft werden wie auch die Anforderungen betreffs der Überwachung ausgelagerter Arbeiten, die die Sicherheit der Anlagen angehen. Im Stresstest-Bericht halten wir beispielsweise fest, dass EDF gewisse Fragen nicht ausreichend beantwortet hat. Bislang hapert es am Garantie-Nachweis, dass EDF - auch bei den ausgelagerten Arbeiten - jederzeit die volle Verantwortung für die Sicherheit der Atomanlage tragen muss."
Als Reizwort gilt: "sous-traitance en cascade". Das bedeutet: EDF hat in den letzten Jahren massiv Arbeiten an Subunternehmen ausgelagert, die ihrerseits wiederum Arbeiten an Unterfirmen weitergeben. Diese kaskadenhafte Auslagerung erschwert die Kontrolle der durchgeführten Arbeiten oder macht sie gar unmöglich.
Ein Café in Paris. Gilles Compagnat sitzt vor einer Tasse Espresso. Der Techniker war Jahrzehnte lang für EDF in einer AKW- Kommandozentrale tätig. Nun ist er Rentner und vertritt die Gewerkschaft CFDT im "Hohen Komitee für die Transparenz der Information zur Atom-Sicherheit". Frankreich sei das einzige Land, das bei den europäischen Stresstests auch die Lage der Atomarbeiter berücksichtige, sagt er. Allerdings müssten die französischen Kernkraftwerke umfangreich nachgerüstet werden, um im Ernstfall einem GAU - wie vor einem Jahr in Fukushima - vorzubeugen.
"EDF hat in letzter Zeit enorme finanzielle Mittel aufgebracht, um das Arbeitsumfeld der Wartungsarbeiter der Subunternehmen zu verbessern. Campingplätze wurden komfortabler ausgestattet, Kantinen eingerichtet und Ruheecken in den Atomzentralen. Auch die Dosimeter-Überwachung wurde strenger reglementiert. Aber es mangelt weiterhin an kompetenten Betriebsärzten. Zudem ist noch manches zu regeln, was die Verträge, die EDF mit den Subunternehmen abschließt, anbelangt. Hinzu kommt, dass die Einsatzzeiten für die Wartungsarbeiten aus wirtschaftlichen Gründen immer mehr verkürzt werden und somit der Druck auf die Sub-Arbeiter steigt."
Zurück in die Normandie. Philippe Billard ist unterwegs zum Leuchtturm, von Fécamp von welchem man in der Ferne die mächtigen Atommeiler sehen kann. In den Algen zu Füßen des Leuchtturms lagert sich Tritium aus dem AKW-Betrieb an, berichtet Billard. Fünf Jahre - und letztendlich erfolgreich - kämpfte der Arbeiter gerichtlich gegen seine Kündigung. Seine Firma, ein großes Subunternehmen, hatte ihn kaltstellen wollen. Billard kritisierte zu lautstark die Arbeitsbedingungen. Mit seinem kleinen Verein will Billard den Kampf fortsetzen, auch wenn David gegen Goliath kämpft, wie er sagt. Die meiste Unterstützung erhält er dabei von Atomkraftgegnern. Auch Philippe Billard plädiert heute für einen Atomausstieg.
"Warum ich weitermache? Zum einen für meine Kollegen und zum anderen für meine Kinder. Ich will nicht, dass sie später einmal so ausgebeutet werden, wie ich es wurde. Und ich bin wütend, weil meine Kinder gefährdet sind, weil ich lange Zeit radioaktiver Strahlung ausgesetzt war. Vielleicht werden sie irgendwann einmal krank, ohne je selbst radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen zu sein."