Mario Dobovisek: Etwa zehn Millionen Uiguren sollen in China leben, eine turksprachige, meist muslimische Volksgruppe ist das, gemessen an 1,4 Milliarden Einwohnern im ganzen Land eine verschwindend kleine Gruppe, eine Minderheit. Und genauso werden die Uiguren auch behandelt. Schlimmer noch: Rund eine Million von ihnen sollen in Umerziehungslagern stecken, dort Pein und Folter ausgesetzt sein. So wissen wir es spätestens seit den sogenannten China Cables, einer Recherche, die vor gut drei Wochen bekannt geworden ist.
Auch Ilham Tohti sitzt hinter chinesischen Gittern. Vor fünf Jahren wurde der uigurische Wirtschaftsprofessor zu lebenslanger Haft verurteilt. Separatismus lautet der Vorwurf. In Abwesenheit verleiht ihm das EU-Parlament heute den Sacharow-Preis für Menschenrechte, denn trotz seiner Haft spreche sich Tohti weiter für eine Versöhnung aus, heißt es. – Hören wir, was Tohti vor seiner Verurteilung über die Lage der Uiguren gesagt hat:
O-Ton Ilham Tohti: "Viele Probleme sind nicht über Nacht aufgetaucht, sondern haben sich im Verlauf der Geschichte aufgestaut. Vieles hängt mit rechtlichen Fragen zusammen, mit dem Recht auf Sprache, Religionsfreiheit, mit massiven Menschenrechtsproblemen in Xinjiang, mit der hohen Arbeitslosenrate unter den Uiguren, mit Armut, Ungleichheit, umfassender Diskriminierung."
Dobovisek: Ilham Tohti, der heute den Sacharow-Preis erhält. – Am Telefon begrüße ich Asgar Can. Er ist Vizepräsident des Weltkongresses der Uiguren und lebt seit den 90er-Jahren in Deutschland. Guten Morgen, Herr Can!
Tohti hat sich für Zusammenleben von Uiguren und Chinesen eingesetzt
Asgar Can: Guten Morgen!
Dobovisek: Was bedeutet es Ihnen, dass der Sacharow-Preis in diesem Jahr mit Ilham Tohti an einen Uiguren geht?
Can: Ja, das ist für uns sehr, sehr wichtig, und es ist auch ein starkes Zeichen, dass die Menschenrechtsverletzungen an Uiguren anerkannt werden. Ilham Tohti war ja ein Wirtschaftsprofessor und sitzt jetzt seit 2014 im Gefängnis. So jemand wie Ilham Tohti, der sich eigentlich für das Zusammenleben von Uiguren und Chinesen eingesetzt hat – ihm wird Separatismus vorgeworfen -, wenn so jemand lebenslänglich bestraft wird und im Gefängnis sitzt, dann ist auch zu verstehen, wie groß die Unterdrückung an Uiguren ist.
Dobovisek: Ist Tohti der Nelson Mandela der Uiguren, wie ihn schon einige sehen?
Can: Das könnten wir auch wirklich so sagen. Er sah Probleme und er hat immer versucht, diese Probleme bei der chinesischen Regierung anzusprechen. Aber zu einer Ansprache oder zum Dialog kam es nicht und letztlich wurde er wegen Separatismus verurteilt. Er wollte das natürlich nicht einfach hinnehmen, dass sein Volk dort unterdrückt und benachteiligt wird.
Dobovisek: Tohti kann den Preis nicht persönlich entgegennehmen, weil er seit 2014 in Haft sitzt. Was wissen Sie über seine Haftbedingungen?
Can: Ich weiß nur, dass seine Familie ihn seit zwei Jahren nicht besuchen darf, und auch seine Tochter, die in Amerika lebt, hat mit ihm zuletzt 2017 ein kurzes Telefongespräch geführt. Er lebt in einer Einzelzelle, soviel ich weiß. Das kann ich natürlich nicht nachweisen. Aber wenn man seit zwei Jahren seine Frau nicht sehen darf, das sagt ja schon was, wie die Voraussetzung im Gefängnis ist.
"Man will ein ganzes Volk eigentlich auslöschen"
Dobovisek: Das geht, so habe ich gelesen, ja nicht nur Tohti so, sondern vielen anderen Uiguren, die in Haft sitzen oder in den, von China sogenannten Bildungseinrichtungen, den Lagern. Rund eine Million Uiguren sollen in solchen Lagern sitzen – bei zehn Millionen Uiguren insgesamt in China eine enorm große Zahl. Was hören Sie von Bekannten, Freunden, von Kollegen über die Zustände in diesen Lagern?
Can: Ich hatte die Möglichkeit, jemanden kennenzulernen, der schon acht Monate in diesem Internierungslager war. Er hat uns schreckliche Sachen erzählt. So was kann man wirklich im 21. Jahrhundert sich als Mensch nicht vorstellen, was da vorgeht. Man muss dort von früh bis abends immer regierungslobende Texte lesen, auswendig lernen und dann das auch wieder zurückgeben. Bevor man regierungslobende Gesänge nicht gesungen hat, hat man nichts zum Essen bekommen. Wenn man sich dagegen gewehrt hat, wurde man mit den Füßen an Stühle gefesselt und musste im Einzelzimmer seinen Tag verbringen. Das sind wirklich Sachen, die man sich besonders in Europa nicht vorstellen kann.
Dobovisek: Wir sprechen da auch über Gewalt, über Folter?
Can: Ja, ja! Das ist so, auf alle Fälle. Man will ein ganzes Volk eigentlich auslöschen und die Identität wechseln.
Dobovisek: Jetzt müssen wir natürlich auch die andere Seite betrachten: die Chinas. China wehrt sich gegen jedes Streben nach mehr Autonomie, nach Separation, nach Spaltung des Landes. Können Sie das nachvollziehen?
Can: Das kann ich nicht nachvollziehen, weil wir sind nach der chinesischen Verfassung ein autonomes Gebiet. Es stehen uns nach chinesischer Verfassung viele Rechte zu, die eigentlich in der Praxis gar nicht umgesetzt worden sind. Zum Beispiel es steht uns zu, dass wir unsere Sprache parallel zu Chinesisch in unserer Region – wir sagen ja Ostturkistan – als Amtssprache benutzen dürfen und dass wir in unserer Sprache eine Bildung bekommen dürfen, aber das ist nicht der Fall. Jetzt müssen die Uiguren vom Kindergarten bis zum Hochschulabschluss nur Chinesisch lernen.
Das ist nicht die einzige Einschränkung. Wir können unseren Kindern nicht die Namen geben, die wir gerne möchten, zum Beispiel die Namen, die bei Muslimen üblich sind, Ali, Ahmed, Mohammed, oder Aische, Fatma. Die sind verboten.
Das sind ja diese grundlegenden Menschenrechte, die selbstverständlich sind. Wenn selbst diese Rechte verboten sind, dann kann man nicht von einem Separatismus reden. Wir wollen ja als gleichberechtigte Bürger dieses Staates und nach dem Autonomierecht frei leben, um unsere Religion, unsere Sprache und Kultur frei ausüben zu dürfen.
"In den letzten Jahren wurden die Einschränkungen noch stärker"
Dobovisek: Was muss ein Uigure in Xinjiang und dem Gebiet darum herum tun, um mit einer Verhaftung, mit Konsequenzen zu rechnen?
Can: In den letzten Jahren wurden diese Einschränkungen noch stärker und jetzt steht vor einer Moschee eine ganze Tabelle, wer in die Moschee darf und wer nicht darf. Wenn man das liest, dann darf eigentlich niemand in die Moschee rein. Da steht, Studenten dürfen nicht in die Moschee rein, Beamte und Angestellte dürfen in die Moschee nicht ...
Dobovisek: Es gibt starke Repressionen auch in der Religion. – Was fordern Sie konkret von Deutschland und der internationalen Gemeinschaft?
Can: Da muss jetzt wirklich ein starkes Zeichen gesetzt werden. Deutschland muss – und auch nicht nur Deutschland, auch Wirtschaftsverbände – klarmachen, dass über eine Million Menschen in einem Internierungslager, die dort gegen ihren Willen untergebracht werden, um sie chinesisch zu erziehen, um sie zu assimilieren, da muss wirklich was sein, dass man mindestens wirtschaftliche Sanktionen gegen China erhebt. Medien, Menschenrechtsorganisationen, Wirtschaftsverbände und Regierungen müssen klare Worte sagen und das muss nicht nur als Wort bleiben, das muss dann natürlich auch in Praxis umgesetzt werden.
Dobovisek: Klare Worte hat auch Deutschlands früherer Fußball-Nationalspieler Mesut Özil gefunden. Am Freitag kritisierte er per Tweet die Unterdrückung der Uiguren in China, vor allem aber das Schweigen der muslimischen Brüder, wie er schrieb. Helfen solche Bemerkungen, Herr Can?
Can: Ja, das ist das Mindeste. Er hat den Mut, das klar zu sagen. Dadurch wird auch das Problem der Uiguren mehr bekannt. Das ist wie gesagt die Sache von jedem Menschen, der in Menschenwürde leben will, dagegen seine Stimme zu erheben.
Dobovisek: Auf der anderen Seite: Wenn Özil sich zu dem türkischen Präsidenten Erdogan äußert und einsetzt, dann wird das heftig kritisiert. Wenn er aber die chinesische Regierung angreift, dann wird gejubelt. Ist das nicht mit zweierlei Maß gemessen?
Can: Okay, das sind zwei Sachen. Was er jetzt mit Erdogan zu tun hat, damit habe ich natürlich nichts zu tun. Aber wir sind froh, dass er als Sportler seine Stimme erhoben hat und dann auch islamische Länder kritisiert hat, weil alle islamischen Länder sind sehr, sehr stark von China abhängig. In den islamischen Ländern herrscht eigentlich auch keine Demokratie, da gibt es kaum Menschenrechte. Deshalb ist das für die vielleicht einfacher, das stillschweigend alles hinzunehmen. Aber da muss wirklich was gemacht werden und wir sind natürlich mit jeder Unterstützung zufrieden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.