Die Stimmung an Bord soll besonders ausgelassen gewesen sein. Wer nicht seekrank in der Kabine lag, feierte in der Karaoke-Bar auf der Steuerbordseite der "Estonia". Die Ostseefähre, 1980 in Deutschland gebaut, war mit über 1.000 Passagieren am Abend des 27. September 1994 aus dem estnischen Tallinn ausgelaufen. Ziel war Stockholm. Der Alkohol an Bord war günstig, die Gäste nutzten die Gunst der Stunde, unter ihnen der Schwede Kent Härstedt.
"Natürlich spürten wir inzwischen, dass da draußen ein heftiger Sturm tobte. Aber keiner von uns hat sich ernsthaft Sorgen gemacht. Wir fingen an herum zu witzeln. Wir sagten: "Es ist fast wie auf der Titanic, bald spendieren sie Champagner! Wir lachten ein bisschen und bauten dadurch unsere latente Nervosität ab. Denn inzwischen war der Seegang ziemlich heftig." Jetzt haben wir den Eisberg gerammt, scherzten die Partygäste. Es soll noch gelacht worden sein, als die "Estonia" kippte, weil sie Schlagseite bekam.
"Der Kapitän gab das Signal zum Sprung in das kalte Wasser"
Mehrere Schiffe empfingen den Notruf der "Estonia", aber ihr Funker, hörbar in Angst, konnte die Position nicht klar benennen. Die Empfänger verstanden den Ernst der Lage nicht - und die Rettungskoordinatoren im finnischen Turku waren nicht sofort erreichbar. "Estonia", what’s going on? Can you reply?" "This is Estonia" Nach wenigen Minuten verstummte der Funker. Im Bereich des Autodecks drangen über eintausend Tonnen Wasser ein, das Schiff rollte hin und her.
Unter denen, die nach draußen gelangten, war Kent Härstedt. Er kletterte auf die Brücke. "Ich schätze, es war ein Sprung aus 15-20 m Höhe. Also für jeden eine ziemliche Herausforderung. Aber dann ließ der Kapitän drei Mal das Horn ertönen."
Der Kapitän gab den Überlebenden an Deck das Signal zum Sprung in das kalte Wasser. Dann ging er selbst mit seinem Schiff unter. Am 28. September 1994 um 1 Uhr 48 versank die "Estonia" vor der finnischen Insel Utö. Die meisten Opfer starben im Schiffsbauch. Aber auch von denen, die sich in der eisigen Ostsee an Rettungsinseln klammerten, ertranken und erfroren viele, bevor Hilfe eintraf. Mindestens 852 Menschen starben, 137 überlebten. Nur 94 Leichen konnten geborgen werden. Es war das schwerste Unglück der zivilen Schifffahrt in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.
Verschwörungstheorien um den Untergang
Statt das Wrack zu bergen, erklärte es die schwedische Regierung zu einem Unterwasserfriedhof – und verbot Tauchgänge dorthin. Dies geschah gegen den Willen der Mehrheit der Hinterbliebenen und führte dazu, dass die Stimmen, die nicht an einen Unfall glaubten, nicht verstummten. Die Staatsanwaltschaft ermittelte bis 1998, dann nicht mehr.
Als im Jahr 2004 ein schwedischer Zollbeamter Journalisten in den Block diktierte, auf der "Estonia" seien Waffen und Kriegselektronik geschmuggelt worden, schossen krude Theorien wieder ins Kraut. Die These eines Anschlags, etwa durch Geheimdienste, hat die Journalistin Jutta Rabe intensiv verfolgt. Ihr zufolge könnte das Schiff gesprengt worden sein.
"Da sind also Taucher mit Videokameras runter. Und die Löcher, die wir gefunden haben, waren ganz klar Explosionslöcher."
"Die 'Estonia' hätte nicht auslaufen dürfen"
Experten wie Stefan Krüger, Ingenieur am Institut für das Entwerfen von Schiffen und Schiffssicherheit an der TU Hamburg-Harburg, bezweifeln dies. Die "Estonia", sagt er, war defekt und hätte niemals auslaufen dürfen.
"Das Visier war, obwohl es den damaligen Bauvorschriften entsprach, derartig unterdimensioniert, dass es den Belastungen nicht gewachsen war. Es traten eben durch Unvorsichtigkeit der Besatzung, die dagegen angefahren sind wie die Wilden, riesige Belastungen auf das Visier auf, das war extrem schlecht gewartet. Dann sind in kurzer Zeit bis zu 1.500 Tonnen Wasser auf das Fahrzeugdeck gelaufen, und das Ding ist im Prinzip dann nach einer gewissen Zeit versunken mit den vielen Toten. Das heißt, es gibt eine einwandfreie technische Kausalkette."
Überlebende und Angehörige prozessieren bis heute. Erst im Juli 2019 wies ein französisches Gericht Entschädigungsansprüche erneut zurück. Es hatte kein vorsätzliches Verhalten der französischen Prüfungsstelle "Bureau Veritas" feststellen können. Da die Schuldfrage immer noch ungeklärt ist, dürfte es nicht das letzte Mal gewesen sein, dass die "Estonia" die Gerichte beschäftigt.