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Untergang der "Lusitania" vor 100 Jahren
Die Katastrophe nicht vergessen

Von Paul Stänner |
    "Schwiegers Logbucheintrag für 14.10 Uhr am 7. Mai begann mit dem Wort 'Treffer'. Er schrieb: 'Schuss trifft Steuerbordseite dicht hinter der Brücke. Es erfolgt eine außergewöhnlich große Detonation mit einer sehr starken Sprengwolke. Es muss zur Explosion des Torpedos noch eine zweite hinzugekommen sein (Kessel oder Kohle oder Pulver?)'."
    Das Schiff, das vor ihm in nur 18 Minuten sank, war die "Lusitania". Kapitänleutnant Walther Schwieger wurde von Zeitgenossen beschrieben als ein Mensch, der "keiner Fliege etwas zuleide tun" konnte, aber er war gnadenlos in der Umsetzung des schrankenlosen U-Boot-Krieges. Die internationale Resonanz auf dieses Verbrechen ohne Vorwarnung war blankes Entsetzen. Den deutschen "Hunnen" war nun alles zuzutrauen.
    Erik Larson war Reporter für renommierte Zeitungen und ist ein erprobter Autor historischer Sachbücher. Nun hat er einen dicken Schmöker vorgelegt über die "Lusitania", die 1915 kurz vor der irischen Küste versenkt wurde. Larson holt weit aus: Er beschreibt die Lusitania, die Konstruktion des Schiffes, seine technischen Details und vor allem die illustre Gesellschaft an Bord. Dann schildert er im Gegenschnitt die deutsche Seite, das Leben auf einem U-Boot und die Überlegungen der Entscheidungsträger in der deutschen Kriegsmarine. Natürlich stoppte auch die britische Marine die Schiffe fremder Nationen, aber:
    "Was Deutschland dabei überging, war, dass Großbritannien nur Ladungen konfiszierte, während die eigenen U-Boote Schiffe versenkten und Menschen töteten. (...) Admiral Scheer schrieb: 'Macht es vom rein menschlichen Standpunkt aus irgendwelchen Unterschied, ob die Tausende Ertrinkende Marineuniform tragen oder Angehörige eines Kauffahrteischiffs sind, die dem Feind Munition und Nahrung zuführen, wodurch sie den Krieg verlängern und die Kriegsleiden über ungezählte Frauen und Kinder mitverbreiten helfen?'"
    Erik Larson beschreibt minutengenau und detailreich - bis hin zu den Speisekarten der "Lusitania", bis hin zu den Lebensläufen der Prominenten an Bord, bis hin zu den quälend langen Stunden, die die Überlebenden im Wasser verbringen mussten, immer wieder attackiert von Möwen, die es auf die Augen der Toten und der Lebenden abgesehen hatten. Bei William Turner, dem Kapitän der "Lusitania", hinterließ diese Erfahrung einen so unauslöschlichen Hass, "dass er bis zu seiner Pensionierung stets ein 22er Jagdgewehr bei sich trug, mit dem er jede Möwe erschoss, die er erwischen konnte."
    Larson mischt Fakten und Fiktionen, die dort aushelfen müssen, wo die genauen Details - Stimmungen, Dialoge, Emotionen - nicht mehr zu ermitteln sind. Er malt mit dem breiten Pinsel, über Seiten hinweg erscheinen seine Schilderungen wie Romanhandlungen. Die Fakten stimmen, die Zusätze verdankt er der amerikanischen Erzähltradition des educated guess, der wohlbegründeten Vermutung. Vom Gestank im U-Boot bis zum Gläserklirren an den Tischen der Ersten Klasse ist alles da. Und auch der letzte Blick von Kapitänleutnant Schwieger durch sein Sehrohr:
    "Das Schiff sank mit unglaublicher Schnelligkeit. Auf seinen Decks herrschte grenzenlose Panik. Es war der schrecklichste Anblick, den ich je in meinem Leben hatte. Ich verließ daher den Ort des Schauderns, dessen Anblick ich nicht länger ertragen konnte, und fuhr auf zwanzig Meter Tiefe davon."
    Eine gute Stunde später hatte sich Kapitän Schwieger wieder erholt und versuchte, einen Frachtdampfer zu versenken. Das Schiff konnte entkommen.
    Ganz anders ist der Ansatz, den Willi Jasper in seinem Buch verfolgt. Der emeritierte Professor für Germanistik und Jüdische Studien an der Universität Potsdam beschreibt die Kulturgeschichte der Katastrophe, die der deutsche U-Boot-Kommandant ausgelöst hatte. Im Wesentlichen geht es ihm um die Reaktion in den Köpfen dieser Zeit. Er zitiert Thomas Mann, der die Meinung vertrat, das deutsche Volk habe nicht nur "die Vernichtung jenes frechen Symbols der englischen Seeherrschaft und einer immer noch komfortablen Zivilisation, des Riesenlustschiffes 'Lusitania' (gebilligt). (...) Den uneingeschränkten Unterseebootskrieg aber hat es nicht nur gebilligt, es hat danach geschrien und bis zur Auflehnung mit den Führern gehadert, die zögerten, ihn walten zu lassen."
    Wohlgemerkt - uneingeschränkter U-Boot-Krieg schloss die Versenkung von Passierschiffen ohne Vorwarnung ein. Es ist unglaublich: Gerade einmal zwei Jahre zuvor hatte die Welt, Deutschland eingeschlossen, in Trauer und Entsetzen zusammengestanden, als die Titanic untergegangen war und nahezu 1.500 Menschen starben. Und nun bejubelten Intellektuelle - Jasper zitiert mehrere von ihnen - den Tod von wiederum fast 1.200 Menschen. Jasper geht der Denkschule nach, die zu solchen Verzerrungen verführen konnte und legt dar, dass der Kampf Deutschlands gegen England verstanden wurde als ein Ringen des tiefen deutschen Geistes wider die westliche Zivilisation. Jasper zitiert den Soziologen und Nationalökonomen Werner Sombart, der schrieb:
    "Nicht aber wer die Meere beherrschen soll, ist die wichtige Menschheitsfrage, die jetzt zur Entscheidung steht; viel wichtiger und alles Menschenschicksal in sich fassend ist die Frage: welcher Geist sich als der stärkere erweist: der händlerische oder heldische."
    Zur Klärung dieser Frage war jedes Mittel recht, dafür wurde der Krieg schon 1915 ein totaler Krieg. Jasper über die Torpedierung der Lusitania:
    "Es war der Beginn einer industrialisierten Entgrenzung der Gewalt, die ihren grauenvollen Höhepunkt in 'Auschwitz' finden sollte, aber auch mit symbolträchtigen Stationen und Orten wie 'Stalingrad' und 'Hiroshima' verbunden war."
    Während Eric Larson das Faktenbuch zum Geschehen vorgelegt hat - mit romanhaften Erweiterungen - hat Willi Jasper die einen viel größeren Zeitrahmen umfassende Geistesgeschichte dieses Kriegsverbrechens geschildert. Seine Analyse reicht bis zu der Diskussion aus dem vergangenen Jahr, ob die Herrschenden damals wirklich wie "Schlafwandler" in den Krieg hineingestolpert seien. Jasper widerspricht:
    "Aber immer noch gilt: In Kriege schliddert man nicht hinein - sie werden nicht zufällig von Technologien provoziert, sondern von Menschen organisiert und von Ideologien und kulturhistorischen Traditionen vorbereitet."
    Weswegen Willi Jasper das ungleich zukunftsträchtigere Buch geschrieben hat. Die Kriegsführung des Ersten Weltkriegs wird sich nicht wiederholen. Aber vor der Wiederkehr des Denkens jener Zeit muss man sich hüten.
    Willi Jasper: "Lusitania. Kulturgeschichte einer Katastrophe." be.bra verlag, 208 Seiten, 19,95 Euro, ISBN: 978-3-89809-112-1
    Erik Larson: "Der Untergang der Lusitania. Die größte Schiffstragödie des Ersten Weltkriegs". (Übersetzung: Regina Schneider, Katrin Harlaß), Hoffmann und Campe Verlag, 464 Seiten, 25 Euro, ISBN: 978-3-45550-305-0