Dirk-Oliver Heckmann: Gisela Stuart von der Labour Party, sie war in den vergangenen 20 Jahren bis zur Auflösung Mitglied des Unterhauses, und sie ist eine der wenigen Labour-Abgeordneten, die sich für den Brexit stark gemacht haben. Sie war sogar Chefin der Leave-Kampagne beim EU-Referendum im vergangenen Jahr, die ja schließlich die Oberhand gewonnen hat. Vor der Sendung hatte ich die Gelegenheit, mit Frau Stuart zu sprechen. - Frau Stuart, Ihre Partei, die Labour Party, die hat in einigen Umfragen jedenfalls erheblich zu den Konservativen von Ministerpräsidentin May aufgeschlossen. Hat sich Theresa May insofern möglicherweise verspekuliert?
Gisela Stuart: Das ist wirklich zu früh, um das vorherzusagen, denn für mich ist es die unberechenbarste Wahl, in der ich jemals Zuschauer war oder auch teilgenommen habe. Denn ich glaube, ganz viel wird davon abhängen, wie sich die Städte benehmen, ob die jungen Leute, die im Augenblick sagen, sie unterstützen die Labour-Partei, ob die dann auch wirklich am Wahltag kommen und wählen. Und es kann ja auch mit unserem Wahlsystem manchmal ganz große Schwankungen geben, die sich dann aber nicht in der Zahl der Abgeordneten ausdrücken. Deshalb, glaube ich, wird Donnerstagnacht bis Freitagmorgen ziemlich interessant werden.
"Wahlkampf ist ein Armutszeugnis aller politischen Parteien"
Heckmann: Ein ziemlich kompliziertes Wahlsystem, das Mehrheitswahlsystem, das entsprechende Spezialitäten zu bieten hat. – Aber man konnte ja doch absehen und ablesen an den Umfragewerten, dass es einen gewissen Stimmungswandel gegeben hat, auch zugunsten von Labour. Was hat dabei den Ausschlag gegeben aus Ihrer Sicht?
Stuart: Es war jetzt eine Wahl, wo all die großen Parteien eigentlich ganz wenig über ihr spezifisches Wahlprogramm aussagten. Es ist schwer, wirklich im Voraus zu sagen, was eine May-Regierung wirklich jetzt konkret machen will. Und Jeremy Corbyn hat einen bestimmten Enthusiasmus, dass die Welt ein besserer Platz sein könnte, dass man mehr Geld ausgeben kann, ohne wirtschaftlich dafür Nachteile zu haben, und dieser Idealismus hat eine ganze Schicht in der Bevölkerung angesprochen. Aber ich glaube, für mich ist dieser Wahlkampf ein Armutszeugnis aller politischen Parteien, denn wenn man den Wähler zur Wahlurne bittet, dann müsste man meiner Meinung nach doch etwas konkreter sein, was man für ein Regierungsprogramm haben wird.
Heckmann: Das heißt, Sie werfen Jeremy Corbyn, dem Spitzenkandidaten und Chef der Labour Party, in gewisser Hinsicht Naivität vor?
Stuart: Ich glaube, für die Labour-Partei ist das weniger ein Vorwurf. Wissen Sie, zum ersten Mal glaubten die Politiker, dass die nächste Wahl erst in 2020 sein würde, da wir in der vorherigen Regierungsperiode einen neuen Gesetzesvorschlag abgegeben haben, wo es hieß, wir werden Wahlen nur alle fünf Jahre haben. Deshalb war das jetzt eine Opposition, die plötzlich sich auf eine Neuwahl vorbereiten musste, ohne dass man darauf vorbereitet war. Deshalb kann ich der Opposition den Vorwurf weniger machen. Aber für eine Regierungspartei, die sagt, wir rufen eine Wahl aus und dann so wenig Konkretes zu bieten hat, das, glaube ich, ist nicht richtig.
Heckmann: Frau Stuart, es gab drei Terroranschläge innerhalb von nur drei Monaten. Theresa May, die hat jetzt in den letzten Tagen scharfe Töne angeschlagen. Sie hat gesagt, sie wolle die Menschenrechte womöglich einschränken. Dabei geht es darum, die Bewegungsfreiheit von Terrorverdächtigen einzuschränken. Außerdem will sie den Zeitraum, für den Terrorverdächtige für eine Befragung festgehalten werden können, von 14 auf 28 Tage verdoppeln. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit aus Ihrer Sicht, dass das bei den Wählern verfängt?
"Befürchte, dass wir eine ganz niedrige Wahlbeteiligung haben werden"
Stuart: Meine Erfahrung ist, dass solche Sachen die Wähler eigentlich von der politischen Entscheidung trennen können, dass Terroranschläge zwar sehr erschütternd sind, aber in den Wahlen wenig Ausschlag geben. Vor allem der letzte Anschlag, der ja sowohl qualitativ als auch quantitativ anders war als die, die vorhergehend waren – wir haben hier Terroristen, die die Polizei schon kannte, mit denen die Polizei schon eine Beziehung hatte und dann nicht früh genug eingegriffen hat, und wir haben bis jetzt noch nicht verstanden, warum das passiert ist. Soweit ich es jetzt sehe, ist eigentlich keiner davon überzeugt, dass unsere Gesetzesvorschläge nicht ausreichend waren, um in dieser Situation zu handeln. Aber die Zahl der Polizisten, die man auf der Straße hat – und das ist etwas, wofür Theresa May als frühere Innenministerin eine Verantwortung trägt -, ich glaube, das ist etwas, was für den Wähler doch eigentlich Sinn macht: Wenn man Terroristenanschläge verhindern will, dann braucht man mehr Polizisten auf der Straße. Das war für mich wichtiger als jetzt diese Menschenrechte.
Heckmann: Die Attentäter, die waren zum Teil der Polizei bekannt. Sie haben es gerade erwähnt. Theresa May – auch das haben Sie angesprochen – wird vorgeworfen, als Innenministerin damals 20.000 Polizeistellen abgebaut zu haben. Aber wenn man auf die andere Partei guckt, auf die Labour Party, auf Jeremy Corbyn, der hat gegen sämtliche Anti-Terror-Gesetze gestimmt. Wird das nicht auch Labour dann schaden?
Stuart: Ich glaube, es wird beiden Parteien schaden, und das ist diese große Gefahr dieses Wahlkampfes, dass keine von den Parteien irgendein Thema anschneiden kann, mit dem sie sich auch selber etwas schädigt. Deshalb ist meine schlimmste Befürchtung für den Wahltag, dass wir eine ganz niedrige Wahlbeteiligung haben werden, und wenn das der Fall ist, dann hilft das historisch immer den Konservativen, weil die Gruppe von Wählern, die immer konservativ wählen, was immer sich abspielt, die ist historisch für sich schon immer größer. Deshalb hoffe ich nur, dass diese Wahl nicht dem demokratischen Prozess schadet. Das wäre nämlich tragisch.
Heckmann: Dabei gibt es ja genug zu entscheiden. Die Brexit-Verhandlungen stehen vor der Tür, das zweite große Thema neben dem Terror jetzt bei diesen Wahlen. Die Europäische Union, die fordert Milliarden von Großbritannien. Sie haben ja die Leave-Kampagne in Großbritannien organisiert. Wird das Ganze für die Briten jetzt eine teure Veranstaltung aus Ihrer Sicht?
Stuart: Was mich erstaunt ist, obwohl die Volksbefragung 52 Prozent dafür stimmten, aus der EU auszusteigen, und 48 dafür, dass man drin bleiben sollte: Es hat sich viel schneller, als man glauben würde, wenn man nur die Zeitungen liest, der Großteil der Bevölkerung, ich würde sagen zu etwa um die 75 Prozent sagen jetzt, wie immer ich auch abgestimmt habe, jetzt sollen wir den Prozess so reibungslos über die Bühne bringen. In der Hinsicht hat sich das Land wieder zusammengebracht.
Was diese Wahl aber macht ist, dass in den letzten zwei Jahren das politische Feld etwas verwirrend ist. Es gab Konservative, die für Leave stimmten, und Labour-Leute, die für Leave stimmten, und es gab dasselbe auch aus den anderen Parteien. Man geht wieder jetzt auf Parteipolitik zurück, unabhängig davon, wie man in der Volksabstimmung abgestimmt hat. Das war ein wichtiger Prozess und das ist der Prozess, den Theresa May mit dieser Wahl überwinden wollte, damit sie eine Amtsperiode hat, wo die Abstimmungen wieder auf das Parteisystem zurückgehen.
"Wir sollten wirklich zusammenarbeiten"
Heckmann: Frau Stuart, hier in Deutschland, in Europa ist oft zu lesen, Europa sitze am längeren Hebel bei diesen Verhandlungen, denn wenn es keine Übereinkunft mit London gebe, dann gäbe es einen harten Brexit und damit auch kein Freihandelsabkommen. Haben sich die Briten am Ende verspekuliert?
Stuart: Ich glaube, es wäre ein ganz großer Fehler auf beiden Seiten, der Meinung zu sein, dass wir mit unseren Bevölkerungen oder Wirtschaften hier Spiele spielen könnten. Es ist weder im Sinne Europas, noch im Sinne des Vereinigten Königreiches, kein Abkommen zu treffen, sondern eines, das beiden Seiten hilft. Es würde doch beiden Seiten schaden, wenn wir kein Übereinkommen haben. Ich kann zwar sehen, dass am Ende von der Abstimmung einige Leute sich darüber ärgerten und meinten, jetzt sollten die Briten mal den Preis dafür zahlen, aber im Endeffekt schadet es doch Europa genauso wie dem Vereinigten Königreich und wir sollten wirklich zusammenarbeiten.
Heckmann: Wir werden das weiter verfolgen. Sie selber treten einstweilen nicht mehr an bei dieser Wahl. Ich darf fragen, weshalb nicht? Haben Sie sich ins Abseits manövriert in Ihrer eigenen Partei wegen Ihrer Haltung zum Brexit?
Stuart: Nein. Ich hatte in 2015 vor der Volksabstimmung mich entschlossen, dass das mein letzter Wahlkampf wäre. Meine Kalkulation zu dem Punkt war 2020. Da war ich dann 23 Jahre im Unterhaus. Ich werde 65 und das ist ein guter Abschnitt. Jetzt 20 Jahre, ich glaube, das ist lang genug. Ich werde weiterhin daran arbeiten, dass wir ein gut verhandeltes Abkommen haben. Ich verlasse nicht die Politik, ich verlasse lediglich das Unterhaus.
Heckmann: Gisela Stuart war das hier im Deutschlandfunk, 20 Jahre lang Abgeordnete für die Labour-Partei im britischen Unterhaus. Frau Stuart, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Stuart: Gerne.
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