Benedikt Schulz: Klaus Mertes hat 2010, damals als Leiter des Berliner Canisius-Kollegs die Missbrauchsfälle an seiner Schule öffentlich gemacht und letztlich dadurch Aufklärungsanstrengungen überhaupt erst den Weg bereitet. Sie haben also die Zahlen jetzt auch gelesen, Sie haben auch die Genese dieser Studie sicherlich verfolgt in den vergangenen Jahren. Was lesen Sie jetzt aus dieser Studie?
Mertes: Ich bin über das, was ich lese, jetzt nicht sonderlich überrascht. Die Stärke der Studie ist eben, dass sie jetzt in kompakten noch mal einfach deutlich bestätigt, was wir ja schon seit vielen Jahren wissen oder ahnten oder hochgerechnet haben.
Schulz: Und ist es jetzt nach all den Jahren der große Wurf, diese Studie?
Mertes: Ich finde, sie ist ein großer Schritt, weil hier eben wirklich, mit all den Mängeln, die ja eben gerade auch genannt worden sind, eben doch wirklich sehr seriös gearbeitet ist und die Forscher das, was ihnen möglich war, auch wirklich getan haben. Und die Kirche ja im Übrigen nicht verschonen mit den Informationen, die sie nun valide vorliegen haben, sowie mit ihren Reflexionen sowohl zu den Bedingungen, unter denen sie geforscht haben, als auch über die Konsequenzen, über die sie nachdenken.
"Kein Vorwurf an die Studie, sondern eine grundlegende Frage"
Schulz: Man könnte meinen, dass die katholischen Bischöfe sich von dieser Studie, die ja nun jetzt bald dann auch offiziell veröffentlicht wird, und sie hat ja eine Genese von vier Jahren oder noch länger, je nachdem, wie man es betrachtet, dass Sie sich davon eine Art Befreiungsschlag erhoffen. Wird dieser Befreiungsschlag kommen oder ausbleiben?
Mertes: Ich glaube, dass der Befreiungsschlag deswegen letztlich nicht kommen wird und auch nicht kommen kann, weil die Studie durch die Struktur selbst, durch die sie zustande gekommen ist, eben ein Glaubwürdigkeitsproblem hat. Das ist kein Vorwurf an die Bischöfe, die diese Studie in Auftrag gegeben haben. Ich finde es gut, dass sie diese Studie in Auftrag gegeben haben, und ich kenne ganz viele Kirchen in europäischen und anderen Ländern, die niemals eine solche Studie in Auftrag geben würden. Insofern ist es ein großer Schritt.
Das Problem aber ist und bleibt, dass die Kirche selbst der Auftraggeber ist, und damit stellt sich auf der Rezeptionsseite eine Glaubwürdigkeitsfrage. Die Alternative dazu ist eben letztlich eine Studie, die nicht im Auftrag der Bischofskonferenz gemacht worden ist, wie das in Pennsylvania oder in Irland oder in Australien der Fall war. Das ist die Strukturfrage, die da steht. Das ist aber kein Vorwurf an die Studie, sondern es ist eine grundlegende Frage daran, ob eine Institution überhaupt in der Lage ist, Missbrauch und Machtmissbrauch, der in ihren Reihen stattgefunden hat oder in ihren Reihen vertuscht worden ist, selbst aufzuarbeiten. Dass es ohne sie auch nicht geht, ist klar, und darin liegt das Verdienst dieser Studie und auch der Beauftragung zu dieser Studie.
"Ganz unterschiedlicher Aufklärungswille in den Diözesen"
Schulz: Sie sagen jetzt, es wäre auch kein Vorwurf an die Bischöfe. Aber man kann ja auch böswillig jetzt natürlich vermuten, dass es da einfach gar keinen echten Aufklärungswillen gibt. Wenn man sich die Auswahl der Informationen letztlich doch selbst vorbehält.
Mertes: Ja, das ist eine interessante Information, die ja aus dieser Studie offensichtlich zu kommen scheint. Ich muss hier sagen, dass ich mich natürlich jetzt auch nur auf Artikel beziehe und die Studie selbst noch nicht kenne. Das ist ein Vorbehalt, den ich machen muss. Aber die Studie sagt ja ganz deutlich, dass in den Diözesen ein ganz unterschiedlicher Aufklärungswille ist. Finde ich eine interessante Information. Es gibt offensichtlich Diözesen, die sehr gut kooperiert haben und sehr gründlich gearbeitet haben.
Die entscheidende Frage, vor der ja jede Studie steht, die auch den Anspruch hat, veröffentlicht zu werden, ist die Frage nach den Persönlichkeitsrechten, die zu schützen sind, bei allen Personen, um die es geht, insbesondere auch bei den Opfern im Übrigen. Und diese Frage muss jede Instanz, die einen Bericht veröffentlicht, klären, auch die Berichte in Pennsylvania, die von einer unabhängigen Kommission gemacht worden sind, haben Namen anonymisiert.
Schulz: Aber das hätte man ja hier auch machen können, das hätte doch eine totale Akteneinsicht geben können.
Mertes: Aber trotzdem wäre es immer noch eine Studie, die im Auftrag der Bischofskonferenz gegeben worden wäre, und damit wäre die letzte Verantwortung wieder bei der Bischofskonferenz, und damit auch die Letztverantwortung für den Umgang mit den Daten bei der Bischofskonferenz. Deswegen funktioniert es ja nicht.
Es muss eine Struktur gefunden werden, in der eine Kommission aus eigener Vollmacht Einblick in die Akten verlangen kann und diesen Einblick auch durchsetzen kann und dann selbst auch die volle Verantwortung für die Veröffentlichung übernimmt.
Schulz: Jetzt zeigt aber doch im Prinzip, so, wie es jetzt nun gelaufen ist, ein bisschen für Außenstehende davon, dass sich innerhalb der katholischen Kirche an dieser Mauermentalität letztlich nicht so viel geändert hat in den vergangenen acht Jahren.
Mertes: Es bröckelt schon einiges, finde ich. Aber es gibt eben auch Kreise, die resistent sind und bleiben.
"Kann die Kirche sich selbst aufklären?"
Schulz: Der Papst beruft ja jetzt eine weltweite Bischofskonferenz ein, ein relativ einmaliger Vorgang. Das Ganze findet statt im Februar. Wie finden Sie einen solchen Vorschlag? Hilft das was, wird das was bringen?
Mertes: Was war der Vorschlag, sagen Sie es mir noch mal ganz genau?
Schulz: Dass er eine weltweite Bischofskonferenz zum Thema Missbrauch in der katholischen Kirche einberufen möchte jetzt im Februar im Vatikan.
Mertes: Ich wüsste jetzt keinen Grund, den ich dagegen haben könnte. Aber auch diese Bischofskonferenz wird sich dann mit der Frage beschäftigen können, kann die Kirche, die Institution selbst, die ja Teil des Problems ist, sich selbst aufklären und aufarbeiten und das Problem lösen? Ich würde mir von einer solchen Bischofskonferenz die Einsicht wünschen, wir schaffen es nicht. Und zwar nicht, weil wir zu wenig Willen haben – das mag ja bei einigen auch der Fall sein –, sondern weil es von der Struktur her nicht klappt.
Es muss in der Kirche selbst, auch auf weltkirchlicher Ebene, eine Gewaltenteilung irgendeiner Art eingeführt werden, in der Instanzen dann vorgesehen sind, die aus eigener Vollmacht an die Aufklärung herangehen können und von der Kirche und den Institutionen nicht im Auftrag der Hierarchie, sondern in eigener Vollmacht Aufarbeitung beginnen können.
"Die strukturellen Hintergründe aufarbeiten"
Schulz: Die Studie benennt kirchenspezifische Risikofaktoren. Einen Faktor haben Sie letztlich jetzt auch gerade schon genannt, nämlich die Hierarchie, die hierarchischen Strukturen und eben die fehlende Gewaltenteilung. Und es gibt noch den anderen, es gibt noch den priesterlichen Zölibat, überhaupt, die Machtstrukturen in der Kirche. Das fordert alles Konsequenzen, Konsequenzen, die eigentlich schon seit Jahren von vielen Seiten gefordert werden. Wird diese Studie zu echten Konsequenzen führen?
Mertes: Ich glaube, dass die Studie dazu einen Beitrag leisten kann, weil es ja inzwischen auch so ist, dass auch, wie soll ich sagen, 98 Prozent der Katholiken, die in der Kirche leben, darin ihre Heimat haben, auch im Auftrag der Kirche und im Geist der Kirche in Gesellschaft und Politik und in Lehrberufen und Krankenhausberufen Verantwortung übernehmen, irgendwann auch den Anspruch haben, dass mehr kommt als nur die Bitte um Verzeihung, sondern dass auch wirklich Entscheidungen getroffen werden, die die oft benannten strukturellen Hintergründe, sozusagen den katholischen Geschmack am Missbrauch endlich aufarbeiten und durch Entscheidungen da eben auch tätig werden.
Und das betrifft eben Fragestellungen, die Sie genannt haben: Das Verständnis des Priestertums, den Umgang mit autoritär-elitären Gruppen in der katholischen Kirche, das betrifft das Feld Homosexualität, die Männerbündischkeit des Klerus und die Zugangsbedingungen zum Klerus, die Machtverteilung in der Kirche und so weiter, und so fort. Es muss an diese Themen herangegangen werden, und ich glaube, die Studie macht einen Beitrag dazu, dass der Druck auf diese Fragestellungen deutlicher wird.
"Nicht-Vorkommen von Frauen besonders problematisch"
Schulz: Und was ist mit dem Zölibat? Den haben Sie jetzt ausgelassen in Ihrer Aufzählung.
Mertes: Ja, ich habe den bewusst ausgelassen, weil ich finde, dass es beim Zölibat zu kurz gegriffen ist. Ich denke, dass das Thema der Männerbündischkeit in diesem Kontext mit gesagt werden muss.
Schulz: Das eine schließt ja das andere nicht aus.
Mertes: Ja, das eine schließt das andere nicht aus. Ich bin auch dadurch für diese Fragestellung durchaus offen. Aber ich finde, dass es eine Fixierung gibt auf den Zölibat, die nicht tief genug greift. Für viel problematischer halte ich zum Beispiel das Nicht-Vorkommen von Frauen innerhalb des Klerus. Wenn jetzt bloß für die Männer der Zölibat aufgelöst wird, haben wir noch nicht viel geschafft.
Schulz: Die Studie benennt letztlich keinen einzigen Verantwortlichen. Und es ist auch gar nicht im Sinne der Studienautoren gewesen, das zu tun. Täter, Mitwisser, Vertuscher taucht alles nicht auf. Ungeachtet jetzt des Persönlichkeitsschutzes – ist es nicht jetzt mal an der Zeit, auch über persönliche Verantwortung zu sprechen? Es wird ja niemand zur Rechenschaft gezogen. Es wird immer nur kollektiv gesagt, es tut uns leid.
Mertes: Genau das müsste geschehen, und genau das müsste eben eine – könnte letztlich nur eine unabhängige Kommission leisten, die eben nicht im Auftrag der Hierarchie arbeitet, die dann zugleich der Gegenstand eben von Anklage ist, bis hin zur persönlich genannten Aufforderung, zurückzutreten, et cetera pp. Das ist in der Anlage dieser Studie nicht vorgesehen, und das ist eben tatsächlich ihre strukturell bedingte Schwäche.
"Innerhalb des Kirchenvolkes eine tiefe Spaltung"
Schulz: Lassen Sie uns in die Kirche noch mal selbst gehen. Das ist mit den vielen Priestern, die sich nichts unmittelbar haben zu Schulden kommen lassen, wo ist denn deren Aufschrei? Das Kirchenpersonal ist erschreckend schweigsam, wenn nicht gar passiv.
Mertes: Das ist nicht meine Erfahrung, sondern ich habe das Gefühl, dass es - mich ja selbst eingeschlossen, wobei ich auch etwas dagegen habe, sozusagen mich jetzt einfach hier auf eine Good-Guy-Seite zu schlagen -, ich habe das Gefühl, dass die Empörung und Erschütterung innerhalb der katholischen Kirche selbst sehr groß ist.
Es gibt aber einen ganz wichtigen Punkt. Es gibt ein tiefes Gefühl von ganz vielen Katholiken in der katholischen Kirche, dass die eigentlichen Opfer des kirchlichen Versagens ja zunächst einmal die Missbrauchsopfer sind und nicht die Kirche selbst. Und insofern ist der Hinweis darauf, dass zunächst einmal die Opfer dieser ganzen Entwicklungen die Betroffenen selbst sind, ganz wichtig.
Dann aber gibt es auch den Aufstand aus dem Kirchenvolk selbst. Schauen Sie nach Irland, da ist es ja ganz deutlich gewesen. Schauen Sie, was in Amerika läuft, da wird es auch ganz deutlich. In Chile gab es einen ganz klaren Aufstand. Und ich bin auch gespannt, wann es hier in Deutschland losgeht.
Es gibt übrigens auch noch einen Gegenaufstand dagegen, den finden Sie in anderen Ländern. Wenn Sie mit Katholiken in osteuropäischen Ländern oder gar in Indien oder Afrika sprechen, die schimpfen auf die katholische Kirche und sagen, sie hat eben den Glauben verloren und ist völlig verweltlicht, vergendert und verschwult, und das ist der eigentliche Grund. Es gibt also auch innerhalb des Kirchenvolkes eine tiefe Spaltung über die Interpretation dessen, was da geschehen ist.
Schulz: Die Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland. Seit gestern sind die Zahlen also bekannt. Darüber habe ich gesprochen mit Klaus Mertes, Leiter des Jesuitenkollegs St. Blasien. Er hat 2010 die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich gemacht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.