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Untersuchungen im Märchenwald

Die Ausstellung "Expedition Grimm" in den Räumen der documenta in Kassel ist keine klassische Kinderausstellung. Aber es werden viele Werke der Gebrüder Grimm in das digitale Zeitalter übertragen. So zum Beispiel Briefe der Brüder in den heutigen SMS-Jargon übersetzt.

Von Werner Bloch |
    Was wäre die Nachwelt ohne Jakob Grimms Gichtlupe? Viele Werke wären nicht erschienen, andere nicht redigiert worden. Die handtellergroße Lupe mit dem kunstvoll gedrechselten Griff, um den sich die Finger des alten Grimm schmerzhaft gekrallt haben müssen, zeigt, dass auch die Grimms Menschen aus Fleisch und Blut waren - wie hartnäckig sie ihr Werk bis zuletzt vorangetrieben haben.

    In Kassel sind nun alle acht Hauptwerke der Grimms zu besichtigen: von den Märchen über die Deutsche Grammatik, die Rechtsaltersthümer und die deutsche Mythologie bis zum Deutschen Wörterbuch. Der erste Teil dieser Ausstellung ist recht konventionell und widmet sich dem Leben der Brüder in Kassel. Den Vitrinen mit den Werken werden Objekte gegenübergestellt, die das Leben der Grimms und ihre Zeit reflektieren, der Ehering Wilhelm Grimms, der Lehnstuhl der Familie, die reich bestickten, beinahe karnevalesken Anzug im Empire-Stil, den Jakob Grimm trug, als er in Diensten von Napoleons jüngstem Bruder Jerome stand, dem sogenannten König Lustig. Doch auch nach der Restauration und unter radikal veränderten politischen Prämissen setzten die Grimms ihr Schaffen fort. Ein Schaffen – und das ist die Hauptthese der Ausstellung – dessen Wirkung in einer Vielzahl von Bereichen immer noch spürbar ist. Brandaktuell sei das Werk der Grimms, meint der Kurator Thorsten Smidt.

    "Wir versuchen einen ganz neuen Weg mit einer Grimm-Ausstellung, die die Aktualität der Grimms an Stationen sichtbar machen soll, wo man Dinge ausprobieren kann. Das ist keine Kinder-Ausstellung, das ist eine Mitmach-Ausstellung, die sehr schwierige Themen versucht anschaulich zu machen. Für den Laien, für den Fachmann, und das ist ein Versuch, den es in dieser Form noch nicht gegeben hat."

    Ein Langstreckenlauf durch das Universum der Grimms. Acht Pfade mit 33 interaktiven Stationen führen durch die documenta-Halle, der Besucher wird zwangsläufig zum Mit-Spieler. Jede Station behandelt ein Kapitel zu Werk und Wirkung der Brüder. Die Entdeckung des Hildebrandliedes zum Beispiel, eines der ältesten bekannten Werke in deutscher Sprache - sie kann man als Detektivspiel durch den Vergleich verschiedener Manuskripte nachempfinden.

    Gleich nebenan steht man vor einer Peepshow. "Nur ab 18?" steht da –mit einem Fragezeichen.

    "Man ist in einem dunklen Raum. Durch Schlitze kann man hier hinterleuchtete Dinge sehen und das sind Märchenzitate. Wir haben da besonders brutale, aber auch anzügliche stellen aus den Märchen herausgegriffen, die von den Grimms, vor allem von Wilhelm, geglättet worden sind. Rapunzel war in der Erstausgabe schwanger. Bei dem Froschkönig ist es so, dass es heißt: Am Ende sie schliefen vergnügt zusammen ein. Das ist schon so anzüglich in der damaligen Zeit, dass Wilhelm das geglättet hat und das zu einer absolut harmlosen Szene wird. "

    Manche Einträge im Grimm'schen Wörterbuch wirken erstaunlich modern. Das Wort "Börsengesumse" etwa stammt nicht aus dem Insider-Speech des Frankfurter Bankenviertels, sondern aus dem 1838 begonnenen Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm. In Kassel sind einige dieser Einträge als Wortwolken an die Wand gemalt. Die Besucher können selbst neue Wörter erfinden und diese per Computer hinzufügen.
    In Kassel spielen aber auch die Neuen Medien eine Rolle. Die Ausstellungsmacher haben Briefe der Brüder in den heutigen SMS-Jargon mit seinen vielen Abkürzungen übertragen. Und auch eine "Gesichtsbuchseite" ist zu sehen – also Facebook fürs 19. Jahrhundert, denn die Grimms, meint Kurator Smidt, hätten manche ihrer Werke bewusst im Ausland drucken und in Windeseile veröffentlichen lassen - an der Zensur vorbei.

    Die Ausstellung zeigt die Grimms in neuem Licht. Manches an diesen Mitmachstationen ist ein wenig vordergründig, aber vieles auch originell und witzig.

    Am Ende steht der Besucher in der Wohnung der Gebrüder Grimm am Wilhelmshöher Tor. Von dieser Wohnung war vieles unbekannt, sie ist im Kasseler Feuersturm 1943 untergegangen. Doch mittels Computertechnik und der zahlreichen Bilder, die von dem Malerbruder der Grimms Ludwig Emil stammten, hat das Fraunhofer-Institut im Auftrag der Ausstellungsmacher die Wohnung in 3D rekonstruiert. Eine lohnende, spannende Zeitreise und zweifellos Höhepunkt des Grimm-Jahres 2013.