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"Untertauchen in das Innere des Menschen"

Dieses Jahr gedachte die Anthroposophische Gesellschaft ihrer Gründung in Köln am 28. Dezember 1912. Mit ihr begann der Aufstieg einer spirituellen Weltanschauung, die sich im Wesentlichen auf die nicht unumstrittenen Ideen Rudolf Steiners beruft. Bis heute kann sie auf einen festen Kern von Anhängern zählen.

Von Hans-Martin Lohmann |
    Die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft am 28. Dezember 1912 in Köln mit ihren damals 3000 Mitgliedern markiert den Beginn einer weltanschaulichen Bewegung, deren Lehren und spirituelle Weisheiten vor allem im akademischen und bildungsbürgerlichen Milieu eine gewisse Resonanz erfahren haben.

    Rudolf Steiner, ein Zeitgenosse Albert Einsteins und Sigmund Freuds, gilt als die unumstrittene Gründerfigur der Anthroposophie. Geprägt von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, wandte er sich vor allem gegen Kants in der "Kritik der reinen Vernunft" formulierten Erfahrungsbegriff, dem zufolge alle Erkenntnis mit der Erfahrung von Gegenständen beginnt. Bei Steiner heißt es:

    "Ich wollte den Erkenntnisweg ablehnen, der auf die Sinneswelt zielt und der dann nach außen durch die Sinneswelt zu einer wahren Wirklichkeit durchbrechen will. Ich wollte darauf hindeuten, daß nicht in einem solchen Durchbrechen nach außen, sondern in dem Untertauchen in das Innere des Menschen das wahre Wirkliche zu suchen sei."

    Während für Kant das berühmte "Ding an sich", das heißt eine nicht näher bestimmte geistige Welt, unerkennbar ist, insistiert Steiner darauf, dass das menschliche Erkenntnisvermögen sich nicht allein auf die sinnenweltliche Erfahrung stützt, sondern mindestens ebenso sehr auf den "Geist", was immer das sei.

    In anthroposophischer Sicht ist das Geistig-Übersinnliche eine Dimension, die dem Menschen prinzipiell zugänglich ist, sofern er sich auf sie einlässt – dies zu lernen, ist das eigentliche Ziel der Steinerschen Anthroposophie.

    Steiners Lehre, eine Mischung aus philosophischen, naturwissenschaftlichen, religiösen und pädagogischen Zutaten, prägt bis heute ein gesellschaftliches Milieu, das die Optimierung der individuellen Lebensführung im Sinne physischer und psychischer Gesundheit anstrebt. Mit dem biologisch-dynamischen Landbau propagiert die Anthroposophie eine Produktions- und Arbeitsform, die sich bewusst vom agroindustriellen Business der Gegenwart abhebt.

    Die anthroposophische Praxis der Eurythmie vereinigt tänzerische und darstellerische Bewegungskunst mit spirituellen Inhalten und strebt nach einer harmonischen Verbindung von Körper und Geist. Das noch von Steiner selbst initiierte Goetheanum im schweizerischen Dornach, Sitz und Tagungsort der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, manifestiert sich als architektonischer Ausdruck "organischen Gestaltens".

    Am nachhaltigsten und auffälligsten wirkt die Anthroposophie bis heute im pädagogischen Feld. 1919 wandte sich der damalige Direktor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik an Rudolf Steiner, er solle für die Kinder seiner Fabrikarbeiter eine Schule und Lehrinhalte entwickeln, die mit den Grundsätzen der Anthroposophie kompatibel waren – daraus gingen die Waldorfschulen hervor. Helmut Zander, Professor für Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität über die allgemeinen Ziele der Waldorf-Pädagogik:

    "Die meisten Eltern, insbesondere die nichtanthroposophischen, erwarten, dass ihre Kinder auf eine Schule kommen, wo kein Stress herrscht, wo handwerkliche, musische Fähigkeiten gefördert werden, wo sie mit der Natur aufwachsen und wo sie den vermeintlichen oder realen Zwängen der öffentlichen Schule enthoben sind."

    Heute besuchen etwa 80.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland Waldorfschulen, Tendenz steigend.

    Während des "Dritten Reiches" wurde die Anthroposophische Gesellschaft von den nationalsozialistischen Machthabern verboten, wenngleich es Versuche von anthroposophischer Seite gab, ihre Sache mit der des Nationalsozialismus in Einklang zu bringen. Bei den Nazis überwog indes die fixe Idee, Anthroposophen hegten mehr oder minder offene Sympathien mit Juden, Freimaurern und Pazifisten.

    Dabei gab es in der Tat bestimmte Parallelen und Übereinstimmungen, nicht zuletzt in der Auffassung vom Wert und Unwert verschiedener Rassen. Steiner selbst vertrat in seinen Schriften derlei rassentheoretische Anschauungen ziemlich unverblümt. Helmut Zander:

    "In seinem rassentheoretischen Denken ist Steiner ganz klar ein Kind seiner Zeit. Aber man muss auch sagen, dass sein Problembewusstsein begrenzt war. Er hat bis zu seinem Tod an solchen Äußerungen wie 'degenerierte Neger' festgehalten."

    Noch in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es Kontroversen darüber, ob und inwieweit die auf Steiner und seinen Lehren beruhende Anthroposophie als unbedenklich eingestuft werden könne.