Ein guter Reiseliterat muss sich durch drei Eigenschaften auszeichnen: Geist, Stil und Beobachtungsgabe. Auf allen drei Gebieten agiert unser Autor als Souverän. Christian Schmidt, Jahrgang 56, verfügt über einen weiten Bildungshorizont, mit dem er seinen Text intellektuell grundiert; seine Erzählung pulsiert im stimmungsvollem Rhythmus; seine Beobachtungen bestechen durch Originalität, Einfühlungsvermögen und Witz.
Wirklich große Reiseliteratur mit nachhaltiger Bedeutung entsteht aber nur dann, wenn auch das Sujet das Interesse der Zeitgenossen weckt, wenn man also zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Auch in dieser Hinsicht liegt Christian Schmidt goldrichtig: Kaum ein anderes Land steht derzeit so sehr im Mittelpunkt des Weltinteresses wie das Wirtschaftwunderland in Fernost, in dem Schmidt seit nunmehr drei Jahren mit seiner chinesischen Frau lebt. China gehöre die Zukunft, erklärt der Autor in der Einleitung, um dann ein verschlagen-keckes Bekenntnis nachzureichen: "Ich wollte mich einfach nur auf die Seite der Gewinner schlagen."
Schmidt ist ein Meister ironischer Selbstreflexion. So auch, wenn er auf seine Zeit als, wie er selbst sagt, "glühender Maoist" zurückblickt und seine Begeisterung für die chinesische Kulturrevolution beschreibt.
Die Roten Garden gingen sogar gegen alte, bourgeoise Sofas vor, indem sie diese auf die Straße zerrten und für ihre reaktionäre Existenz bestraften. Am allerbesten gefiel mir aber, wie mit den Lehrern umgesprungen wurde. Schüler, die in meinem Alter waren, durften sie kritisieren, beschimpfen, ihnen spitze Schandhüte aus Papier auf den Kopf setzen und sie so durch die Stadt treiben. Ich träumte davon, das auch mit meinen Lehrern zu machen. Natürlich wusste ich damals noch nichts von den Prügelexzessen und Morden, zu denen es während der Kulturrevolution auch kam, und wahrscheinlich hätte ich auch nichts davon wissen wollen. Ich war in dem Alter, in dem man ein Recht auf eine gewisse Blödheit hat. Und niemand kam auf die Idee, mir mal das Programm der Pekinger Roten Garden von '66 vor die Nase zu halten, in dem es unter anderem hieß: "Die Verbreitung von Fotografien von so genannten Hübschen Mädchen soll eingestellt werden." – Vielleicht wäre dann schon damals meine Einstellung zur Kulturrevolution differenzierter ausgefallen.
Neben den Schlaglichtern in die chinesische Geschichte lebt das Buch vor allem von Christian Schmidts Gespür für das Absurde und Komische. Auf seiner Reise über die Nationalstraße 318, die "chinesische Route 66", entwirft er so ein facettenreiches Panoptikum der größten Nation der Erde. Mit nur wenigen Pinselstrichen zeichnet Schmidt markante Porträts der so genannten "Expat"-Gemeinden westlicher Ausländer in Peking: wie amerikanische Medienfuzzis in den Enklaven der Kaffeehausketten im Internet surfen und Caffè Latte schlürfen; wie Berliner Installationskünstler erbärmlich abgegriffene Provokationen bemühen, um die Kunstwelt der chinesischen Hauptstadt zu schockieren; wie abgehalfterte Punk-Bands aus New York noch einmal mit letzter Kraft versuchen, den Schalter von Post-Garde auf Avant-Garde umzulegen.
Christian Schmidt pflegt einen lakonischen Stil: Er beschreibt Landschaften, die "flach sind und öde wie in Holland oder Niedersachsen". Anqing, die dritte Station seiner Reise, beschreibt er als Stadt ohne Eigenschaften. Doch Vorsicht – bei Schmidt lauert hinter jeder Ecke die Burleske.
Ich mag diese Durchschnittlichkeit. Ich fühle mich sofort zuhause, was vielleicht daran liegt, dass ich in Bielefeld aufgewachsen bin, dem Anqing Deutschlands. Nach einigem Suchen stehe ich plötzlich vor einer Neues-China-Buchhandlung versteckt neben dem McDonald's. Davor spielt gerade eine Band auf der Straße. Die Musiker sind allesamt Behinderte, die sich zusammengetan haben, um irgendwie an Geld zu kommen. Sie sind allerdings mehr behindert, als dass sie Musiker sind. Dementsprechend schaurig klingen die fett elektrisch verstärkte Gitarre und die Orgel. Ein Sänger mit contergankurzen Armen singt dazu lauter als der Verkehrslärm. "Ma ma bu yao wu" - Mama will mich nicht. Gerade nähert sich der Band ein Trupp Polizisten, die schon von weitem verlangen, man möge mit dem Krach aufhören. Und wie immer bei solchen Gelegenheiten bildet sich eine große Menschentraube, die gespannt die Diskussion zwischen den Behinderten und der Polizei verfolgt.
Momentaufnahmen wie diese sind typisch für das Chinareisetagebuch. Der Text führt den Leser in die Hinterhöfe der Volksrepublik. Schmidt beschreibt, wie ein furioser Restaurantbesitzer auf offener Straße mit vollen Bierflaschen nach seiner Frau wirft. Wie auf dem Monitor des Reisebusses ein chinesischer Musiker "Guten Abend, Gute Nacht" auf der Mundharmonika spielt und zwei Chinesen im Latino-Rhythmus zu "Eviva Espana" tanzen. Wie ihn ein verrückter Alter auf einer Busreise lachend bedrängt, doch bitte den unansehnlichen Schorf an seinem Schienbein zu fotografieren. Wie er in Wuhan in einer belgischen Bar den deutschen Türken Ahmed aus Solingen trifft, der vor Ort eine eigene Firma für Hitzeschutztechnik aufgebaut hat. Christian Schmidt beschreibt den skurrilen Humor der Chinesen, aber auch den haltlosen Materialismus einer Nation, die sich am eigenen wirtschaftlichen Aufschwung berauscht.
Zu Beginn der Reise äußert Schmidt den Wunsch, selbst Chinese werden zu wollen. Zwischendurch prüft er immer wieder seine Fortschritte. Am Ende der Tour ist es dann so weit: Als er die Grenze nach Tibet und später nach Nepal überquert, blickt er nicht mehr als Deutscher auf die asiatische Fremde, sondern als naturalisierter Chinese auf das fremde Tibet und Nepal. Dabei mokiert er sich mit kultur-chauvinistisch angehauchtem Gestus über die Rückständigkeit der beiden Länder, um schließlich den Nepalesen nahe zu legen, sich doch näher an China anzubinden. "Das ist ja ekelhaft", entgegnet ihm der Gesprächspartner, "Du redest schon wie ein Chinese!" Eine Riposte, die Schmidt genüsslich aufgreift. Ein Chinese, sagt er. Ich bin am Ziel.
Diese Pointe wirkt neben der spöttelnden, aber stets gewissenhaft reflektierten Haltung des Erzählers regelrecht krude und hat einen bitteren Nachgeschmack. Würde man sich als weltanschaulicher Richter aufspielen wollen, könnte man dem Autor zur Last legen, dass er das Vertrauen seiner Leser missbraucht, indem er sie gegen Ende der Lektüre ohne Vorwarnung mit Rechtfertigungen für die post-maoistische Doktrin der chinesischen KP überrumpelt. Angesichts einer verheerenden Menschenrechtslage und der unrühmlichen Rolle Chinas in der internationalen Politik werden die Schlusskapitel dem politisch gebildeten Leser unangenehm aufstoßen. Andererseits erinnert Christian Schmidt daran, dass sich der Westen in der Begegnung mit 'dem großen Drachen' auf handfeste Auseinandersetzungen einstellen muss und es nicht ausreicht, sich selbstgefällig auf den eigenen politischen und kulturellen Errungenschaften auszuruhen. Schmidt verweigert sich einem rührselig einlullenden Exotismus. Im Großen und Ganzen ist dem Autor so ein großes Stück Reiseliteratur gelungen, das das Potenzial hat, auch über den deutschen Sprachraum hinaus Interesse zu wecken.
Christian Y. Schmidt: Allein unter 1,3 Milliarden
Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Rowohlt, Hamburg 2008, 317 Seiten, 19,90 Euro
Wirklich große Reiseliteratur mit nachhaltiger Bedeutung entsteht aber nur dann, wenn auch das Sujet das Interesse der Zeitgenossen weckt, wenn man also zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Auch in dieser Hinsicht liegt Christian Schmidt goldrichtig: Kaum ein anderes Land steht derzeit so sehr im Mittelpunkt des Weltinteresses wie das Wirtschaftwunderland in Fernost, in dem Schmidt seit nunmehr drei Jahren mit seiner chinesischen Frau lebt. China gehöre die Zukunft, erklärt der Autor in der Einleitung, um dann ein verschlagen-keckes Bekenntnis nachzureichen: "Ich wollte mich einfach nur auf die Seite der Gewinner schlagen."
Schmidt ist ein Meister ironischer Selbstreflexion. So auch, wenn er auf seine Zeit als, wie er selbst sagt, "glühender Maoist" zurückblickt und seine Begeisterung für die chinesische Kulturrevolution beschreibt.
Die Roten Garden gingen sogar gegen alte, bourgeoise Sofas vor, indem sie diese auf die Straße zerrten und für ihre reaktionäre Existenz bestraften. Am allerbesten gefiel mir aber, wie mit den Lehrern umgesprungen wurde. Schüler, die in meinem Alter waren, durften sie kritisieren, beschimpfen, ihnen spitze Schandhüte aus Papier auf den Kopf setzen und sie so durch die Stadt treiben. Ich träumte davon, das auch mit meinen Lehrern zu machen. Natürlich wusste ich damals noch nichts von den Prügelexzessen und Morden, zu denen es während der Kulturrevolution auch kam, und wahrscheinlich hätte ich auch nichts davon wissen wollen. Ich war in dem Alter, in dem man ein Recht auf eine gewisse Blödheit hat. Und niemand kam auf die Idee, mir mal das Programm der Pekinger Roten Garden von '66 vor die Nase zu halten, in dem es unter anderem hieß: "Die Verbreitung von Fotografien von so genannten Hübschen Mädchen soll eingestellt werden." – Vielleicht wäre dann schon damals meine Einstellung zur Kulturrevolution differenzierter ausgefallen.
Neben den Schlaglichtern in die chinesische Geschichte lebt das Buch vor allem von Christian Schmidts Gespür für das Absurde und Komische. Auf seiner Reise über die Nationalstraße 318, die "chinesische Route 66", entwirft er so ein facettenreiches Panoptikum der größten Nation der Erde. Mit nur wenigen Pinselstrichen zeichnet Schmidt markante Porträts der so genannten "Expat"-Gemeinden westlicher Ausländer in Peking: wie amerikanische Medienfuzzis in den Enklaven der Kaffeehausketten im Internet surfen und Caffè Latte schlürfen; wie Berliner Installationskünstler erbärmlich abgegriffene Provokationen bemühen, um die Kunstwelt der chinesischen Hauptstadt zu schockieren; wie abgehalfterte Punk-Bands aus New York noch einmal mit letzter Kraft versuchen, den Schalter von Post-Garde auf Avant-Garde umzulegen.
Christian Schmidt pflegt einen lakonischen Stil: Er beschreibt Landschaften, die "flach sind und öde wie in Holland oder Niedersachsen". Anqing, die dritte Station seiner Reise, beschreibt er als Stadt ohne Eigenschaften. Doch Vorsicht – bei Schmidt lauert hinter jeder Ecke die Burleske.
Ich mag diese Durchschnittlichkeit. Ich fühle mich sofort zuhause, was vielleicht daran liegt, dass ich in Bielefeld aufgewachsen bin, dem Anqing Deutschlands. Nach einigem Suchen stehe ich plötzlich vor einer Neues-China-Buchhandlung versteckt neben dem McDonald's. Davor spielt gerade eine Band auf der Straße. Die Musiker sind allesamt Behinderte, die sich zusammengetan haben, um irgendwie an Geld zu kommen. Sie sind allerdings mehr behindert, als dass sie Musiker sind. Dementsprechend schaurig klingen die fett elektrisch verstärkte Gitarre und die Orgel. Ein Sänger mit contergankurzen Armen singt dazu lauter als der Verkehrslärm. "Ma ma bu yao wu" - Mama will mich nicht. Gerade nähert sich der Band ein Trupp Polizisten, die schon von weitem verlangen, man möge mit dem Krach aufhören. Und wie immer bei solchen Gelegenheiten bildet sich eine große Menschentraube, die gespannt die Diskussion zwischen den Behinderten und der Polizei verfolgt.
Momentaufnahmen wie diese sind typisch für das Chinareisetagebuch. Der Text führt den Leser in die Hinterhöfe der Volksrepublik. Schmidt beschreibt, wie ein furioser Restaurantbesitzer auf offener Straße mit vollen Bierflaschen nach seiner Frau wirft. Wie auf dem Monitor des Reisebusses ein chinesischer Musiker "Guten Abend, Gute Nacht" auf der Mundharmonika spielt und zwei Chinesen im Latino-Rhythmus zu "Eviva Espana" tanzen. Wie ihn ein verrückter Alter auf einer Busreise lachend bedrängt, doch bitte den unansehnlichen Schorf an seinem Schienbein zu fotografieren. Wie er in Wuhan in einer belgischen Bar den deutschen Türken Ahmed aus Solingen trifft, der vor Ort eine eigene Firma für Hitzeschutztechnik aufgebaut hat. Christian Schmidt beschreibt den skurrilen Humor der Chinesen, aber auch den haltlosen Materialismus einer Nation, die sich am eigenen wirtschaftlichen Aufschwung berauscht.
Zu Beginn der Reise äußert Schmidt den Wunsch, selbst Chinese werden zu wollen. Zwischendurch prüft er immer wieder seine Fortschritte. Am Ende der Tour ist es dann so weit: Als er die Grenze nach Tibet und später nach Nepal überquert, blickt er nicht mehr als Deutscher auf die asiatische Fremde, sondern als naturalisierter Chinese auf das fremde Tibet und Nepal. Dabei mokiert er sich mit kultur-chauvinistisch angehauchtem Gestus über die Rückständigkeit der beiden Länder, um schließlich den Nepalesen nahe zu legen, sich doch näher an China anzubinden. "Das ist ja ekelhaft", entgegnet ihm der Gesprächspartner, "Du redest schon wie ein Chinese!" Eine Riposte, die Schmidt genüsslich aufgreift. Ein Chinese, sagt er. Ich bin am Ziel.
Diese Pointe wirkt neben der spöttelnden, aber stets gewissenhaft reflektierten Haltung des Erzählers regelrecht krude und hat einen bitteren Nachgeschmack. Würde man sich als weltanschaulicher Richter aufspielen wollen, könnte man dem Autor zur Last legen, dass er das Vertrauen seiner Leser missbraucht, indem er sie gegen Ende der Lektüre ohne Vorwarnung mit Rechtfertigungen für die post-maoistische Doktrin der chinesischen KP überrumpelt. Angesichts einer verheerenden Menschenrechtslage und der unrühmlichen Rolle Chinas in der internationalen Politik werden die Schlusskapitel dem politisch gebildeten Leser unangenehm aufstoßen. Andererseits erinnert Christian Schmidt daran, dass sich der Westen in der Begegnung mit 'dem großen Drachen' auf handfeste Auseinandersetzungen einstellen muss und es nicht ausreicht, sich selbstgefällig auf den eigenen politischen und kulturellen Errungenschaften auszuruhen. Schmidt verweigert sich einem rührselig einlullenden Exotismus. Im Großen und Ganzen ist dem Autor so ein großes Stück Reiseliteratur gelungen, das das Potenzial hat, auch über den deutschen Sprachraum hinaus Interesse zu wecken.
Christian Y. Schmidt: Allein unter 1,3 Milliarden
Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Rowohlt, Hamburg 2008, 317 Seiten, 19,90 Euro