Archiv


Unverwüstlich durch die Zeit

Adolf Born ist der große alte Mann der tschechischen Illustrationskunst. Er hat sich nun an die Märchen der Gebrüder Grimm gewagt. Schon das Format des Buches ist beeindruckend: dicker als das Alte Testament, größer als der Shellatlas, illustrer als das Familienfotoalbum. Borns Figuren sind so lebendig, so unverwüstlich gestrig und gegenwärtig zugleich, als hätten sie Jahrhunderte überlebt.

Von Siggi Seuß |
    Märchenerzähler: Der Junge ging auch seines Wegs und fing wieder an, vor sich hin zu reden: "Ach, wenn mir's nur gruselte! Ach, wenn mir's nur gruselte!" Das hörte ein Fuhrmann, der hinter ihm her schritt und fragte: "Wer bist du?" - "Ich weiß nicht", antwortete der Junge. Der Fuhrmann fragte weiter: "Wo bist du her?" - Ich weiß nicht." - "Wer ist dein Vater?" - "Das darf ich nicht sagen." - "Was brummst du beständig in den Bart hinein?" - "Ei", antwortete der Junge, "ich wollte, dass mir's gruselte, aber niemand kann mir's lehren."

    Seuss: Doch, die Märchen der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm können es, und wenn der, der auszog, das Fürchten zu lernen, sämtlichen Lebewesen leibhaftig begegnete, die Adolf Born über die 550 Seiten und durch 50 Märchen der eben erschienenen vollständigen "Kleinen Ausgabe" wandern lässt, dann könnte ihn das schon das Fürchten lehren vor den Schauerlichkeiten des wirklichen Lebens. - Am Format des Buches hat sich gegenüber dem in ähnlicher Aufmachung vor drei Jahren erschienenen, von Born illustrierten Fabeln Jean de la Fontaines nichts geändert: Dicker als das Alte Testament, größer als der Shellatlas, illustrer als das Familienfotoalbum. Mit dem Praktischen Hausschatz der Heilkunde kann es diese Prachtausgabe im Schuber allemal aufnehmen. - Adolf Born ist der große alte Mann der tschechischen Illustrationskunst, der seinen speziellen Sinn für Humor und die eigenartigen Charakteristika seiner ins Bild gesetzten Lebewesen in jahrzehntelanger teilnehmender Beobachtung des sozialistischen Realismus entwickeln konnte:

    Adolf Born: Zum Beispiel, ich habe auch Grafiken gemacht, wo - z.B. das war eine Inspiration: der 1. Mai - alle mussten eben durch Wenzelsplatz marschieren und fesche Polizisten und Milizionäre - und ich habe eben so ein Blatt gemacht, wo Tiere so auf meine Weise so marschieren. Nicht mit roten Flaggen, mit so Flaggen. Und einer wie Polizist, der andere wieder - ich habe gesagt: das ist die Chefin von der Frauenbewegung, so korpulent, dabei ein bisschen Tier, ein bisschen Mensch. Und das hab ich normal eben irgendwie in den Galerien gezeigt und verkauft. "Ist das etwas Schlimmes? Soll man es irgendwie das nicht unter die Leute fließen lassen?" Ein politischer Spezialist für diese Sachen, hätte er so was gesagt, dann würden auch die Kollegen zu ihm sagen: "Du bist ein Idiot. Das kann man nicht sagen. Diese Tiere - das der Born macht, dass das ein Polizist ist oder eine Chefin von einer Frauenbewegung. Das sind doch Tiere!"

    Seuss: Seine Figuren - Tiere, Menschen, Zwitterwesen, Geistergestalten - sind so lebendig, so unverwüstlich gestrig und gegenwärtig zugleich, als hätten sie Jahrhunderte in jenem Biotop der Hausmärchen überlebt, das Jacob und Wilhelm Grimm beschwören.

    Märchenerzähler: Die Plätze am Ofen, der Küchenherd, Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem die ungetrübte Fantasie sind die Hecken gewesen, die sie -

    Seuss: - des Volkes Lieder, Bücher, Sagen und Hausmärchen -

    Märchenerzähler: - gesichert und einer Zeit aus der andern überliefert haben.

    Seuss: Selbst wenn die Plätze am Ofen heute anders aussehen als in der Blütezeit des Märchenerzählens und die Küchenherde Ceranplatten tragen: Borns Lebewesen kümmern sich nicht um moderne Haushaltsführung. Ob Mensch, ob Tier, ob Geist, ob Zwitterwesen -

    Born: Ich glaube, man kann, wenn man will - ich übertreibe, sagen wir, einen Hund oder halb Hund, halb Mensch - kann man, wenn man will, in eine exakte Polizeiuniform irgendwie hineinschmuggeln. Damals musste man, sagen wir, so die Uniform irgendwie ein bisschen vertuschen, aber sonst - der halbe Hund und der halbe Mensch bleiben immer eben in derselben - naja - die Realität bleibt immer so.
    Seuss: Ob Mensch, ob Tier, ob Geist, ob Zwitterwesen - sie marschieren über die Seiten, als sei in Jahrhunderten keine Zeit vergangen und als gäbe es nichts Selbstverständlicheres als dem Leser zu sagen: "Wir sind ganz anders als man dich uns geschildert hat. Aber fürchte uns trotzdem."

    Märchenerzähler: ... da kamen aus allen Ecken und Enden schwarze Katzen und schwarze Hunde an glühenden Ketten, immer mehr und mehr, dass er sich nicht mehr bergen konnte - die schrien gräulich, traten ihm auf sein Feuer, zerrten es auseinander und wollten es ausmachen. Das sah er ein Weilchen ruhig mit an; als es ihm aber zu arg ward, fasste er sein Schnitzmesser und rief: "Fort mit dir, du Gesindel" und haute auf sie los. Ein Teil sprang weg, die andern schlug er tot und warf sie hinaus in den Teich.

    Seuss: Wenn man sich allein den großen bösen Wolf auf dem Cover besieht, wie er mit Schlafhaube, Nachthemd und karierten Filzpantoffeln in Großmutters Bett liegt - hätte man da nicht Lust, mit ihm eine Konversation über vegetarische Kost zu beginnen? Selbst die bösesten Bösewichter erscheinen lächerlich linkisch und die Guten nicht minder. Dem Froschkönig wünscht man schon beim ersten Anblick "Glück auf", Helden nehmen Reißaus, Geisterkatzen huschen durch die flimmernde Nacht, die gute Mutter Geiß hat mal wieder keine Ahnung, das Lumpengesindel zieht seiner Wege und treibt weiter seinen Schabernack, Fischers Fru blustert sich immer wieder von neuem auf - bis die Welt aus den Nähten platzt. - Bei aller Lächerlichkeit ihres Auftretens nimmt Born seine Wesen ernst. Schließlich erfuhr er auf der Wanderschaft durch das reale Panoptikum des großen Schreckens und des kleinen Glücks, wohin Dummheit und Anmaßung führen. Und er hat gelernt, sich den Tatsachen mit einem Augenzwinkern zu stellen.

    Born: Ich muss Ihnen eine kurze Story sagen. Das hat mich irgendwie gefreut. Ein tschechischer Sinn für Humor. Ich habe einmal im Rundfunk bei einem Interview gesagt: In einer jeden Nation sind achtzig Prozent von Leuten bei denen kein großer Intelligenzquotient ist. Und zwanzig Prozent in einer jeden Nation, die sich über Kunst und über alles mögliche kümmern, mit denen man sich unterhalten kann. - Und dann bei einer Vernissage kamen zu mir Leute und haben zu mir gesagt: "Herr Born, Sie müssen doch wissen, dass mehr Idioten sind als achtzig Prozent, überall, in jeder Nation." - Aber, ich habe gesagt, das könnte ich in unserem Fernsehen nicht sagen, denn 80 Prozent, das ist schon ein heikler Punkt, nicht wahr. - Aber das hat mich gefreut, dass normale so Leute kommen und so was sagen. Also, dieser tschechische Sinn für Humor ist immer noch lebendig.

    Seuss: Die Wirklichkeit ist verrückt und nicht selten tragisch. Gegen die bedrohlichen Geschöpfe der Finsternis und des hellerlichten Tages, gegen Dummheit und Idiotie, hilft nur eins: Man stelle sich die Geschöpfe in Grimms Märchen und anderswo als Bornsche Wesen vor, wie sie durch die gekleckste und gesprenkelte Wirklichkeit tappsen, schleichen, stolzieren, stolpern und marschieren. Wie sie kokettieren und sich präsentieren, schmeicheln und schleimen, lachen und grinsen, sich lieben und hassen. Man stelle sich vor, man wäre eines dieser Wesen. Oh Schreck! Vielleicht kommt man dann halbwegs geläutert durch 365 Tage und fühlt sich am Ende wie der inzwischen zum König avancierte furchtlose junge Mann in "Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen:

    Märchenerzähler: Nachts, als der junge König schlief, musste seine Gemahlin ihm die Decke wegziehen und den Eimer voll kalt Wasser mit den Gründlingen über ihn herschütten, dass die kleinen Fische um ihn herumzappelten. Da wachte er auf und rief: "Ach, was gruselt mir, was gruselt mir, liebe Frau! Ja, nun weiß ich, was Gruseln ist!

    Jacob und Wilhelm Grimm: Märchen. Vollständige "Kleine Ausgabe". Mit Bildern von Adolf Born. cbj, München 2004, 544 Seiten, 39 Euro