Frau: "Wir haben alles verloren, unsere persönlichen Dinge, unsere Häuser.”"
Diese Frau steht zwischen den Zelten in Mirandola. Hier in der norditalienischen Region Emilia Romagna haben die Erdbeben vor einem Monat die schlimmsten Schäden angerichtet. Die Augen der Frau sind gerötet, sie klammert sich an den Arm ihres Ehemannes. Mit einem so starken Beben hatte weder sie gerechnet, noch sonst jemand hier.
Bisher war diese Gegend nicht als Risikogebiet bekannt, sagt Giovanni Cavallini, Geschäftsführer eines exportorientierten Unternehmens in der Provinz Reggio Emilia. In den Fabrikhallen werden Hochdruckpumpen für den Weltmarkt montiert, die Gebäude sind durch die Erdbeben nicht beschädigt worden.
""Unser Produktionsstandort ist nicht weit entfernt vom Epizentrum, hielt dem Beben aber stand. Wir schauen jetzt, ob es möglich ist, unsere Werkshallen sicherer zu machen. Eines ist allerdings klar. Bei einem Erdbeben gigantischer Stärke gäbe es keine Rettung. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alle immer 100 Prozent Sicherheit wollen, aber die gibt es nicht. Es kann auch mal etwas schiefgehen."
Eine Einstellung, die in Italien weit verbreitet ist. Sie unterscheidet sich zum Beispiel deutlich von der vieler Japaner. Sie lassen nichts unversucht, um ihr Land sicherer und sicherer zu machen. Das betrifft die Konstruktion von Gebäuden, aber auch den allgemeinen Umgang mit dem Risiko. Die Berufsfeuerwehr von Tokio lädt die Bevölkerung regelmäßig in ein "Lebensrettungszentrum" ein, wo Erdbeben simuliert werden, um im Ernstfall auch psychologisch vorbereitet zu sein. In Italien gibt es keine vergleichbaren Vorbereitungskurse oder gar Simulationen von Erdbeben, sagt Michele Novago, der sich ehrenamtlich beim Zivilschutz engagiert.
"Ich weiß davon nichts. Seit ich Nothelfer bin, habe ich noch nie von Kursen gehört, die die Bevölkerung darauf vorbereiten, wie sie sich im Notfall zu verhalten hat. Das müsste man aber machen. Ich erinnere mich an Übungen des Roten Kreuzes. Da ging es um Terrorakte zum Beispiel in der Mailänder U-Bahn, aber ich persönlich habe noch nie von einem Kurs gehört, der das richtige Verhalten bei einem Erdbeben zum Inhalt hatte."
Dabei bebt die Erde in Italien regelmäßig und fast überall. Ob im Friaul ganz im Nordosten, wo 1976 bei einem Erdbeben der Stärke 6 auf der Richter-Skala nahezu tausend Menschen starben, oder auf Sizilien. Das ganze Land vom Norden bis zum Süden liegt eingeklemmt zwischen der afrikanischen und der eurasischen Erdplatte. Durch ihren Zusammenstoß waren einst die Alpen aufgefaltet worden. Im Bereich der Ostalpen schiebt sich die Afrikanische Platte in 15.000 Metern Tiefe unter die Eurasische Platte. Damit nicht genug, gleichzeitig gibt es auch noch unterirdischen Druck von Osten nach Westen. Sichtbarer Ausdruck dessen ist die Bergkette des Apennin, so der Seismologe Paolo Valisa von der Erdbebenmessstation im norditalienischen Varese.
"Die geologische Situation in Italien ist sehr komplex. Auf der einen Seite haben wir eine Erdplatte, die nach Norden Richtung Alpen drängt. Auf der anderen Seite Korsika und Sardinien, die beiden Inseln bewegen sich ostwärts auf das italienische Festland zu. Das Mittelmeer wird so zusammengedrückt und unter den Apennin geschoben."
Der Druck, der dabei entsteht, ist enorm und entlädt sich immer wieder in Erdbeben. 1997 in Umbrien:
ARD-Korrespondent: "Das Dach der Basilika San Francesco in Assisi bricht ein, in den Trümmern sterben zwei Franziskanerbrüder und zwei Restauratoren. Dieser Mann konnte sich retten: "Die beiden waren meine Freunde, wir waren jeden Tag zusammen." Italien trauert um elf Tote und viele Kunstwerke. Was ist mehr wert? Ein Menschenleben oder ein Fresko aus dem 13. Jahrhundert?"
2004 am Gardasee:
ARD-Korrespondent: "Es war das schwerste Erdbeben in der Region seit über hundert Jahren. In ganz Norditalien flüchteten zehntausende Menschen aus ihren Häusern. Rund 30 Sekunden lang hat die Erde rund um den Gardasee gegen Mitternacht gebebt. Die Erschütterungen waren bis nach Venedig und Genua zu spüren."
Das schlimmste Erdbeben, das Italien je erlebt hat, liegt etwas mehr als hundert Jahre zurück. Im Dezember 1908 starben bei einem Beben in der Meerenge von Messina rund 80.000 Menschen. Mehr als 400 Dörfer wurden vollständig zerstört. Reggio Calabria auf der kalabrischen Uferseite verlor 15.000 seiner 45.000 Einwohner. Der Dom, die byzantinische Basilika und ein großer Teil des architektonischen Erbes der vergangenen Jahrhunderte waren zerstört. Messina, florierende Handelsstadt auf der sizilianischen Seite, lag in Schutt und Asche. Die sogenannte "Palazzata", eine 1,5 Kilometer lange historische Häuserzeile an der Hafenpromenade, fiel in sich zusammen.
"Hier wurde alles zerstört, kein Stein blieb auf dem anderen."
Stadtführerin Annina Petrasca zeigt auf die Betonbauten an der Hafenpromenade von Messina. Vor mehr als 100 Jahren standen hier elegante Palazzi, dahinter das barocke Rathaus, Banken und Handelshäuser.
Heute ist nichts mehr zu sehen von der Prachtstraße. Messina verlor in einer Nacht drei Viertel seiner Gebäude und fast die Hälfte seiner Einwohner. Die ersten Hilfsmaßnahmen leisteten Besatzungsmitglieder russischer und britischer Marineschiffe, die im Hafen vor Anker lagen. Später trafen Spenden aus ganz Europa und Übersee ein, mit denen Barackenstädte gebaut wurden. Sie dienten den Überlebenden noch jahrzehntelang als Unterkünfte.
1908 – das war wie nach einem verlorenen Krieg, sagt die Historikerin Emanuela Guidoboni vom Nationalen Institut für Geophysik in Bologna. Das Beben von 1908 war aus ihrer Sicht eine tiefe Zäsur in der Geschichte Italiens:
"Dieses Erdbeben war bedeutsam für die Entwicklung von Sicherheitsnormen und auch für die Art und Weise der Berichterstattung. Denn die Massenmedien von damals, also vor allem die Tageszeitungen, nahmen die Maßnahmen der Regierung genau unter die Lupe, begleiteten sie kritisch."
Doch die Erinnerung ist verblasst. Heute weiß längst nicht jeder Italiener Bescheid über das große Beben von Messina oder die Erdbebengefahr im Allgemeinen. Es fehlt an Informationen darüber. Dabei leben nach einer Studie des italienischen Geologenverbandes drei Millionen Italiener in Gebieten mit hohem Erdbebenrisiko, 21 Millionen in Gebieten mit mittlerem Risiko. Als diese Zahlen im vergangenen Jahr veröffentlicht wurden, hielten sie viele für übertrieben. Doch die Bewegungen der tektonischen Erdplatten in 20 bis 25 Kilometern Tiefe finden statt.
Normalerweise werden sie aber nur von Seismologen beobachtet. Mithilfe der Messstationen wird jedes noch so leichte Erzittern der Erdkruste registriert. Mehr als 2000 Mal hat die Erde im vergangenen Jahr in Italien gebebt. Es waren fast immer kaum wahrnehmbare Erdstöße, die keinen Schaden angerichtet haben. Doch das kann sich auf einen Schlag ändern. Denn die Intensität eines Erdbebens lässt sich noch schwerer vorhersagen als der Zeitpunkt, an dem es eintreten kann.
Bisher sind Friaul-Julisch Venetien und die Toskana die einzigen Regionen, wo das Erdbebenrisiko in den Schulen behandelt wird. Mithilfe von Comics werden den Kindern die richtigen Verhaltensweisen während und nach einem Erdbeben erklärt. Von einer flächendeckenden, systematischen Aufklärung der italienischen Bevölkerung kann jedoch keine Rede sein. Der Seismologe Paolo Valisa bedauert das.
"Leider ist das so. Unser Fatalismus bringt es mit sich, dass wir sagen, wie schrecklich, wie schrecklich, aber es wird sicher nicht mehr passieren. Das sind die besten Voraussetzungen für die nächste Katastrophe. Denn das Problem in Italien ist nicht die Stärke der Erdbeben, sie sind meist nicht so wahnsinnig stark. Aber sie ereignen sich relativ nah an der Erdoberfläche und Italien ist dicht besiedelt. Dazu kommen veraltete Bausubstanz oder historische Gebäude, die nur schwer gegen Erdbeben gesichert werden können."
Das alles ist bekannt. Auch den italienischen Behörden. Dank der Messstationen im ganzen Land und der Datenauswertung durch das Nationale Institut für Geophysik liegen Statistiken und Risikoeinschätzungen für beinah jeden Kirchturm vor. Ganz Italien ist in unterschiedliche Risikostufen eingeteilt. Die Region Emilia Romagna wurde 2008 von einem Gebiet mit niedrigem Erdbebenrisiko in ein Gebiet mit mittlerem Risiko hochgestuft. Und die Bauvorschriften durch ein landesweites Gesetz entsprechend verschärft. Doch die Umsetzung strengerer Bauvorschriften obliegt den Regionen und Gemeinden. Der Widerstand ist groß, weil die Normen mehr Sicherheit, aber auch mehr Kosten mit sich bringen. So wurde es im Fall der Emilia Romagna jedem selbst überlassen, die neuen, strengeren Bauvorschriften anzuwenden. Viele wollten nicht. Und jetzt stehen sie vor eingestürzten Fabrikhallen. Aus Sicht des Seismologen Paolo Valisa werden Baugenehmigungen in Italien generell zu leichtfertig vergeben.
"Allgemein stehen die Kosten im Vordergrund. Es geht um starke wirtschaftliche Interessen. Das führt dazu, jeden Quadratmeter Land zu nutzen, auch dort, wo das Risiko von Erdrutschen, Erdbeben und Überschwemmungen hoch ist."
Eine gut informierte, kritische Öffentlichkeit könnte das ändern. Kaum jemand erkundigt sich beim Hausbau oder Kauf nach der Risikostufe des Grundstücks. Der Zivilschutz führt zwar Übungen für den Notstand nach einem Erdbeben durch, doch bezieht er dabei kaum die Bevölkerung ein. Zuletzt übten Feuerwehr, Militär und Nothelfer im vergangenen November in Kalabrien.
Diese Region ist hochgradig erdbebengefährdet. Doch gerade im Süden Italiens wimmelt es von Schwarzbauten, die ohne Genehmigung errichtet wurden und in der Mehrheit kein erdbebensicheres Fundament haben. Die Chancen, dass sie bei einem starken Beben intakt bleiben, sind gering. Doch die Gefahr, der sich so Hunderttausende aussetzen, ist in der italienischen Öffentlichkeit bisher selten ein Thema. Jetzt, nach den beiden starken Erdbeben im vergangenen Monat, fragen sich immer mehr Italiener, wie es um die Sicherheit ihrer Häuser, ihrer Schulen, Kirchen, Sportzentren und Bürogebäude bestellt ist.
Beinahe täglich berichten die italienischen Medien derzeit aus der Emilia Romagna. Über das Leben in den Auffangcamps für die obdachlos Gewordenen. Über Familien, die sich nicht mehr zurück in ihre Häuser trauen. Aber auch über Parmesankäseleiber, die vorübergehend in Kirchenkellern vor der Sommerhitze geschützt werden oder über Fabriken, die stillstehen, weil ihre Werkshallen beschädigt wurden und einsturzgefährdet sind. Mancherorts wird trotzdem gearbeitet. Im Freien. Höfe, Parkplätze, sogar Felder sind zu provisorischen Produktionsorten geworden. Bei sengender Hitze schweißen Arbeiter eines kleinen Betriebes auf dem Parkplatz Röhren zusammen. Den Arbeitsschutzrichtlinien entspricht das nicht, aber das spiele jetzt keine Rolle, sagt einer stellvertretend für alle.
"Wir Emilianer können nicht einfach die Hände in den Schoß legen."
Wer kann, arbeitet. Und wer keine Arbeit hat, macht sich auf andere Weise nützlich, sortiert und nummeriert zum Beispiel die Steine eingestürzter Kirchen, in der Hoffnung, sie eines Tages wieder aufbauen zu können. 15 Jahre wird es dauern, bis die Spuren der Zerstörung verschwunden sind, hat ein Minister prophezeit. 15 Jahre – das wäre schnell, meint die Historikerin Emanuela Guidoboni. In anderen Regionen, die von Erdbeben erschüttert wurden, dauerte es Jahrzehnte, bis die Spuren verschwunden waren.
"Der Wiederaufbau von Erdbebengebieten ist in Italien immer problematisch. Die unverhältnismäßig lange Dauer der Aufbauarbeiten zeigt, dass es dabei meist nicht ganz sauber zugeht."
Denn je länger man braucht, desto länger verdienen skrupellose Bauunternehmer und andere daran. Vetternwirtschaft und Korruption sei Dank. So war es 1980 nach einem Erdbeben, das Teile der Regionen Kampanien und Basilikata zerstörte. Es kostete rund 3000 Menschen das Leben. Mehr als 10.000 wurden verletzt, fast 300.000 Menschen verloren ihre Häuser. Viele von ihnen wurden in eilig hochgezogene Wohnblöcke umgesiedelt, die den italienischen Staat viel Geld kosteten.
Zu viel, weiß man heute. Denn die Qualität des Baumaterials ließ zu wünschen übrig und manche Häuser wurden nur halb so hoch gebaut wie auf den Rechnungen angegeben. Neben korrupten Kommunalpolitikern, die sich an den Hilfsgeldern für die Erdbebenopfern bereicherten, zweigte auch die örtliche Mafia, die Camorra, Geld für sich ab. Mithilfe fingierter Bauprojekte oder über Schutzgeldzahlungen, die sie von Bauunternehmen und Hilfsorganisationen erpressten. Nur etwa ein Viertel der Hilfsgelder erreichte die eigentlichen Opfer des Erdbebens.
Ähnlich war es auch 2009 in den Abruzzen. 287 Menschen starben, das historische Zentrum von L`Aquila wurde komplett zerstört - zwei Bauunternehmer freuten sich am Telefon über die gute Gelegenheit, abzukassieren.
Das Telefongespräch wurde abgehört und führte zu Ermittlungen wegen Korruption. Schockiert war die italienische Öffentlichkeit nach dem Erdbeben von L`Aquila aber nicht nur über diesen Zynismus, sondern auch über die Scherze ihres damaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Er riet den Menschen zu mehr Gelassenheit, obwohl sie Haus und Habe verloren hatten und um Angehörige, Freunde und Bekannte trauerten.
"Hier fehlt es doch an nichts. Es gibt eine erstklassige medizinische Versorgung, warmes Essen und ein Zeltdach über dem Kopf. Man muss das nehmen wie einen Campingurlaub."
Berlusconis amtierender Nachfolger, Regierungschef Mario Monti hat sich den Erdbebenopfern in der Emilia Romagna gegenüber mitfühlender geäußert. Doch Geld für den Wiederaufbau kommt kaum aus Rom. Im Falle der Region Emilia Romagna ist das eine ökonomische Katastrophe, weil sie für die gesamte italienische Volkswirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Die Emilia Romagna ist ein Global Player auf dem Weltmarkt. Die stark zerstörte Stadt Mirandola gilt als eines der Zentren der europäischen Medizintechnik. Zwei Prozent des italienischen Bruttoinlandsproduktes werden in der Region Emilia Romagna erwirtschaftet, mehr als 80.000 Unternehmen haben hier ihren Sitz. Die Produktion steht derzeit vielerorts still, weil die Fabriken nicht erdbebensicher gebaut worden waren. Giovanni Cavallini beklagt das:
"Natürlich ist hier nicht erdbebensicher gebaut worden, man hielt das nicht für nötig. Das Ganze ist wirklich beunruhigend."
Aus heiterem Himmel, wie viele glauben oder glauben möchten, kam das Erdbeben allerdings nicht. Unter der Padanischen Tiefebene rumort es seit Langem. Seit Millionen von Jahren, sagt Paolo Valisa, Seismologe von der Erdbebenmessstation in Varese.
"Die Beben, die die Padanische Tiefebene erschüttern, werden durch unterirdische Ausläufer des Apennin ausgelöst, die unter die Ebene geschoben wurden und immer weiter Richtung Alpen gedrückt werden, einen Millimeter pro Jahr. Dadurch sammelt sich Druck an, der durch Erdbeben abgebaut wird."
Nur ist ihre Häufigkeit wesentlich geringer als in anderen Teilen Italiens. Und dadurch gerät das potenzielle Risiko allzu leicht in Vergessenheit.
"Das Risiko wird errechnet, indem man sich ansieht, in welchem Gebiet wie oft Erdbeben aufgetreten sind und wie stark sie waren. Auf dieser Erfahrungsbasis schätzt man die Wahrscheinlichkeit eines Erdbeben und seiner voraussichtlichen Stärke ein. Wir wissen zum Beispiel, dass in der Provinz von Avellino in Kampanien etwa alle 30 Jahre die Erde bebt. Statistisch gesehen ist die Zeit reif für ein weiteres großes Erdbeben in Italien. Das kann noch zehn Jahre dauern, es kann aber auch im nächsten Moment passieren."
Italien scheint darauf nicht vorbereitet zu sein. Doch der Wille, umzudenken, wächst in diesen Tagen. Das Beispiel der Emilia Romagna hat gezeigt, dass Erdbeben nicht nur Menschenleben gefährden, sondern auch die Wirtschaft. Wo Unternehmen ihre Produktion auf unbestimmte Zeit einstellen müssen, weil ihre Werkshallen nicht sicher sind, gehen Marktanteile verloren. Möglicherweise für immer. Die internationale Konkurrenz schläft nicht. Erdbebensicheres Bauen würde sich also auch aus wirtschaftlichen Gründen lohnen. So zynisch das klingt, vielleicht verhilft diese Erkenntnis Italien zu einem neuen Umgang mit der Bedrohung durch Erdbeben.
Diese Frau steht zwischen den Zelten in Mirandola. Hier in der norditalienischen Region Emilia Romagna haben die Erdbeben vor einem Monat die schlimmsten Schäden angerichtet. Die Augen der Frau sind gerötet, sie klammert sich an den Arm ihres Ehemannes. Mit einem so starken Beben hatte weder sie gerechnet, noch sonst jemand hier.
Bisher war diese Gegend nicht als Risikogebiet bekannt, sagt Giovanni Cavallini, Geschäftsführer eines exportorientierten Unternehmens in der Provinz Reggio Emilia. In den Fabrikhallen werden Hochdruckpumpen für den Weltmarkt montiert, die Gebäude sind durch die Erdbeben nicht beschädigt worden.
""Unser Produktionsstandort ist nicht weit entfernt vom Epizentrum, hielt dem Beben aber stand. Wir schauen jetzt, ob es möglich ist, unsere Werkshallen sicherer zu machen. Eines ist allerdings klar. Bei einem Erdbeben gigantischer Stärke gäbe es keine Rettung. Wir leben in einer Gesellschaft, in der alle immer 100 Prozent Sicherheit wollen, aber die gibt es nicht. Es kann auch mal etwas schiefgehen."
Eine Einstellung, die in Italien weit verbreitet ist. Sie unterscheidet sich zum Beispiel deutlich von der vieler Japaner. Sie lassen nichts unversucht, um ihr Land sicherer und sicherer zu machen. Das betrifft die Konstruktion von Gebäuden, aber auch den allgemeinen Umgang mit dem Risiko. Die Berufsfeuerwehr von Tokio lädt die Bevölkerung regelmäßig in ein "Lebensrettungszentrum" ein, wo Erdbeben simuliert werden, um im Ernstfall auch psychologisch vorbereitet zu sein. In Italien gibt es keine vergleichbaren Vorbereitungskurse oder gar Simulationen von Erdbeben, sagt Michele Novago, der sich ehrenamtlich beim Zivilschutz engagiert.
"Ich weiß davon nichts. Seit ich Nothelfer bin, habe ich noch nie von Kursen gehört, die die Bevölkerung darauf vorbereiten, wie sie sich im Notfall zu verhalten hat. Das müsste man aber machen. Ich erinnere mich an Übungen des Roten Kreuzes. Da ging es um Terrorakte zum Beispiel in der Mailänder U-Bahn, aber ich persönlich habe noch nie von einem Kurs gehört, der das richtige Verhalten bei einem Erdbeben zum Inhalt hatte."
Dabei bebt die Erde in Italien regelmäßig und fast überall. Ob im Friaul ganz im Nordosten, wo 1976 bei einem Erdbeben der Stärke 6 auf der Richter-Skala nahezu tausend Menschen starben, oder auf Sizilien. Das ganze Land vom Norden bis zum Süden liegt eingeklemmt zwischen der afrikanischen und der eurasischen Erdplatte. Durch ihren Zusammenstoß waren einst die Alpen aufgefaltet worden. Im Bereich der Ostalpen schiebt sich die Afrikanische Platte in 15.000 Metern Tiefe unter die Eurasische Platte. Damit nicht genug, gleichzeitig gibt es auch noch unterirdischen Druck von Osten nach Westen. Sichtbarer Ausdruck dessen ist die Bergkette des Apennin, so der Seismologe Paolo Valisa von der Erdbebenmessstation im norditalienischen Varese.
"Die geologische Situation in Italien ist sehr komplex. Auf der einen Seite haben wir eine Erdplatte, die nach Norden Richtung Alpen drängt. Auf der anderen Seite Korsika und Sardinien, die beiden Inseln bewegen sich ostwärts auf das italienische Festland zu. Das Mittelmeer wird so zusammengedrückt und unter den Apennin geschoben."
Der Druck, der dabei entsteht, ist enorm und entlädt sich immer wieder in Erdbeben. 1997 in Umbrien:
ARD-Korrespondent: "Das Dach der Basilika San Francesco in Assisi bricht ein, in den Trümmern sterben zwei Franziskanerbrüder und zwei Restauratoren. Dieser Mann konnte sich retten: "Die beiden waren meine Freunde, wir waren jeden Tag zusammen." Italien trauert um elf Tote und viele Kunstwerke. Was ist mehr wert? Ein Menschenleben oder ein Fresko aus dem 13. Jahrhundert?"
2004 am Gardasee:
ARD-Korrespondent: "Es war das schwerste Erdbeben in der Region seit über hundert Jahren. In ganz Norditalien flüchteten zehntausende Menschen aus ihren Häusern. Rund 30 Sekunden lang hat die Erde rund um den Gardasee gegen Mitternacht gebebt. Die Erschütterungen waren bis nach Venedig und Genua zu spüren."
Das schlimmste Erdbeben, das Italien je erlebt hat, liegt etwas mehr als hundert Jahre zurück. Im Dezember 1908 starben bei einem Beben in der Meerenge von Messina rund 80.000 Menschen. Mehr als 400 Dörfer wurden vollständig zerstört. Reggio Calabria auf der kalabrischen Uferseite verlor 15.000 seiner 45.000 Einwohner. Der Dom, die byzantinische Basilika und ein großer Teil des architektonischen Erbes der vergangenen Jahrhunderte waren zerstört. Messina, florierende Handelsstadt auf der sizilianischen Seite, lag in Schutt und Asche. Die sogenannte "Palazzata", eine 1,5 Kilometer lange historische Häuserzeile an der Hafenpromenade, fiel in sich zusammen.
"Hier wurde alles zerstört, kein Stein blieb auf dem anderen."
Stadtführerin Annina Petrasca zeigt auf die Betonbauten an der Hafenpromenade von Messina. Vor mehr als 100 Jahren standen hier elegante Palazzi, dahinter das barocke Rathaus, Banken und Handelshäuser.
Heute ist nichts mehr zu sehen von der Prachtstraße. Messina verlor in einer Nacht drei Viertel seiner Gebäude und fast die Hälfte seiner Einwohner. Die ersten Hilfsmaßnahmen leisteten Besatzungsmitglieder russischer und britischer Marineschiffe, die im Hafen vor Anker lagen. Später trafen Spenden aus ganz Europa und Übersee ein, mit denen Barackenstädte gebaut wurden. Sie dienten den Überlebenden noch jahrzehntelang als Unterkünfte.
1908 – das war wie nach einem verlorenen Krieg, sagt die Historikerin Emanuela Guidoboni vom Nationalen Institut für Geophysik in Bologna. Das Beben von 1908 war aus ihrer Sicht eine tiefe Zäsur in der Geschichte Italiens:
"Dieses Erdbeben war bedeutsam für die Entwicklung von Sicherheitsnormen und auch für die Art und Weise der Berichterstattung. Denn die Massenmedien von damals, also vor allem die Tageszeitungen, nahmen die Maßnahmen der Regierung genau unter die Lupe, begleiteten sie kritisch."
Doch die Erinnerung ist verblasst. Heute weiß längst nicht jeder Italiener Bescheid über das große Beben von Messina oder die Erdbebengefahr im Allgemeinen. Es fehlt an Informationen darüber. Dabei leben nach einer Studie des italienischen Geologenverbandes drei Millionen Italiener in Gebieten mit hohem Erdbebenrisiko, 21 Millionen in Gebieten mit mittlerem Risiko. Als diese Zahlen im vergangenen Jahr veröffentlicht wurden, hielten sie viele für übertrieben. Doch die Bewegungen der tektonischen Erdplatten in 20 bis 25 Kilometern Tiefe finden statt.
Normalerweise werden sie aber nur von Seismologen beobachtet. Mithilfe der Messstationen wird jedes noch so leichte Erzittern der Erdkruste registriert. Mehr als 2000 Mal hat die Erde im vergangenen Jahr in Italien gebebt. Es waren fast immer kaum wahrnehmbare Erdstöße, die keinen Schaden angerichtet haben. Doch das kann sich auf einen Schlag ändern. Denn die Intensität eines Erdbebens lässt sich noch schwerer vorhersagen als der Zeitpunkt, an dem es eintreten kann.
Bisher sind Friaul-Julisch Venetien und die Toskana die einzigen Regionen, wo das Erdbebenrisiko in den Schulen behandelt wird. Mithilfe von Comics werden den Kindern die richtigen Verhaltensweisen während und nach einem Erdbeben erklärt. Von einer flächendeckenden, systematischen Aufklärung der italienischen Bevölkerung kann jedoch keine Rede sein. Der Seismologe Paolo Valisa bedauert das.
"Leider ist das so. Unser Fatalismus bringt es mit sich, dass wir sagen, wie schrecklich, wie schrecklich, aber es wird sicher nicht mehr passieren. Das sind die besten Voraussetzungen für die nächste Katastrophe. Denn das Problem in Italien ist nicht die Stärke der Erdbeben, sie sind meist nicht so wahnsinnig stark. Aber sie ereignen sich relativ nah an der Erdoberfläche und Italien ist dicht besiedelt. Dazu kommen veraltete Bausubstanz oder historische Gebäude, die nur schwer gegen Erdbeben gesichert werden können."
Das alles ist bekannt. Auch den italienischen Behörden. Dank der Messstationen im ganzen Land und der Datenauswertung durch das Nationale Institut für Geophysik liegen Statistiken und Risikoeinschätzungen für beinah jeden Kirchturm vor. Ganz Italien ist in unterschiedliche Risikostufen eingeteilt. Die Region Emilia Romagna wurde 2008 von einem Gebiet mit niedrigem Erdbebenrisiko in ein Gebiet mit mittlerem Risiko hochgestuft. Und die Bauvorschriften durch ein landesweites Gesetz entsprechend verschärft. Doch die Umsetzung strengerer Bauvorschriften obliegt den Regionen und Gemeinden. Der Widerstand ist groß, weil die Normen mehr Sicherheit, aber auch mehr Kosten mit sich bringen. So wurde es im Fall der Emilia Romagna jedem selbst überlassen, die neuen, strengeren Bauvorschriften anzuwenden. Viele wollten nicht. Und jetzt stehen sie vor eingestürzten Fabrikhallen. Aus Sicht des Seismologen Paolo Valisa werden Baugenehmigungen in Italien generell zu leichtfertig vergeben.
"Allgemein stehen die Kosten im Vordergrund. Es geht um starke wirtschaftliche Interessen. Das führt dazu, jeden Quadratmeter Land zu nutzen, auch dort, wo das Risiko von Erdrutschen, Erdbeben und Überschwemmungen hoch ist."
Eine gut informierte, kritische Öffentlichkeit könnte das ändern. Kaum jemand erkundigt sich beim Hausbau oder Kauf nach der Risikostufe des Grundstücks. Der Zivilschutz führt zwar Übungen für den Notstand nach einem Erdbeben durch, doch bezieht er dabei kaum die Bevölkerung ein. Zuletzt übten Feuerwehr, Militär und Nothelfer im vergangenen November in Kalabrien.
Diese Region ist hochgradig erdbebengefährdet. Doch gerade im Süden Italiens wimmelt es von Schwarzbauten, die ohne Genehmigung errichtet wurden und in der Mehrheit kein erdbebensicheres Fundament haben. Die Chancen, dass sie bei einem starken Beben intakt bleiben, sind gering. Doch die Gefahr, der sich so Hunderttausende aussetzen, ist in der italienischen Öffentlichkeit bisher selten ein Thema. Jetzt, nach den beiden starken Erdbeben im vergangenen Monat, fragen sich immer mehr Italiener, wie es um die Sicherheit ihrer Häuser, ihrer Schulen, Kirchen, Sportzentren und Bürogebäude bestellt ist.
Beinahe täglich berichten die italienischen Medien derzeit aus der Emilia Romagna. Über das Leben in den Auffangcamps für die obdachlos Gewordenen. Über Familien, die sich nicht mehr zurück in ihre Häuser trauen. Aber auch über Parmesankäseleiber, die vorübergehend in Kirchenkellern vor der Sommerhitze geschützt werden oder über Fabriken, die stillstehen, weil ihre Werkshallen beschädigt wurden und einsturzgefährdet sind. Mancherorts wird trotzdem gearbeitet. Im Freien. Höfe, Parkplätze, sogar Felder sind zu provisorischen Produktionsorten geworden. Bei sengender Hitze schweißen Arbeiter eines kleinen Betriebes auf dem Parkplatz Röhren zusammen. Den Arbeitsschutzrichtlinien entspricht das nicht, aber das spiele jetzt keine Rolle, sagt einer stellvertretend für alle.
"Wir Emilianer können nicht einfach die Hände in den Schoß legen."
Wer kann, arbeitet. Und wer keine Arbeit hat, macht sich auf andere Weise nützlich, sortiert und nummeriert zum Beispiel die Steine eingestürzter Kirchen, in der Hoffnung, sie eines Tages wieder aufbauen zu können. 15 Jahre wird es dauern, bis die Spuren der Zerstörung verschwunden sind, hat ein Minister prophezeit. 15 Jahre – das wäre schnell, meint die Historikerin Emanuela Guidoboni. In anderen Regionen, die von Erdbeben erschüttert wurden, dauerte es Jahrzehnte, bis die Spuren verschwunden waren.
"Der Wiederaufbau von Erdbebengebieten ist in Italien immer problematisch. Die unverhältnismäßig lange Dauer der Aufbauarbeiten zeigt, dass es dabei meist nicht ganz sauber zugeht."
Denn je länger man braucht, desto länger verdienen skrupellose Bauunternehmer und andere daran. Vetternwirtschaft und Korruption sei Dank. So war es 1980 nach einem Erdbeben, das Teile der Regionen Kampanien und Basilikata zerstörte. Es kostete rund 3000 Menschen das Leben. Mehr als 10.000 wurden verletzt, fast 300.000 Menschen verloren ihre Häuser. Viele von ihnen wurden in eilig hochgezogene Wohnblöcke umgesiedelt, die den italienischen Staat viel Geld kosteten.
Zu viel, weiß man heute. Denn die Qualität des Baumaterials ließ zu wünschen übrig und manche Häuser wurden nur halb so hoch gebaut wie auf den Rechnungen angegeben. Neben korrupten Kommunalpolitikern, die sich an den Hilfsgeldern für die Erdbebenopfern bereicherten, zweigte auch die örtliche Mafia, die Camorra, Geld für sich ab. Mithilfe fingierter Bauprojekte oder über Schutzgeldzahlungen, die sie von Bauunternehmen und Hilfsorganisationen erpressten. Nur etwa ein Viertel der Hilfsgelder erreichte die eigentlichen Opfer des Erdbebens.
Ähnlich war es auch 2009 in den Abruzzen. 287 Menschen starben, das historische Zentrum von L`Aquila wurde komplett zerstört - zwei Bauunternehmer freuten sich am Telefon über die gute Gelegenheit, abzukassieren.
Das Telefongespräch wurde abgehört und führte zu Ermittlungen wegen Korruption. Schockiert war die italienische Öffentlichkeit nach dem Erdbeben von L`Aquila aber nicht nur über diesen Zynismus, sondern auch über die Scherze ihres damaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Er riet den Menschen zu mehr Gelassenheit, obwohl sie Haus und Habe verloren hatten und um Angehörige, Freunde und Bekannte trauerten.
"Hier fehlt es doch an nichts. Es gibt eine erstklassige medizinische Versorgung, warmes Essen und ein Zeltdach über dem Kopf. Man muss das nehmen wie einen Campingurlaub."
Berlusconis amtierender Nachfolger, Regierungschef Mario Monti hat sich den Erdbebenopfern in der Emilia Romagna gegenüber mitfühlender geäußert. Doch Geld für den Wiederaufbau kommt kaum aus Rom. Im Falle der Region Emilia Romagna ist das eine ökonomische Katastrophe, weil sie für die gesamte italienische Volkswirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Die Emilia Romagna ist ein Global Player auf dem Weltmarkt. Die stark zerstörte Stadt Mirandola gilt als eines der Zentren der europäischen Medizintechnik. Zwei Prozent des italienischen Bruttoinlandsproduktes werden in der Region Emilia Romagna erwirtschaftet, mehr als 80.000 Unternehmen haben hier ihren Sitz. Die Produktion steht derzeit vielerorts still, weil die Fabriken nicht erdbebensicher gebaut worden waren. Giovanni Cavallini beklagt das:
"Natürlich ist hier nicht erdbebensicher gebaut worden, man hielt das nicht für nötig. Das Ganze ist wirklich beunruhigend."
Aus heiterem Himmel, wie viele glauben oder glauben möchten, kam das Erdbeben allerdings nicht. Unter der Padanischen Tiefebene rumort es seit Langem. Seit Millionen von Jahren, sagt Paolo Valisa, Seismologe von der Erdbebenmessstation in Varese.
"Die Beben, die die Padanische Tiefebene erschüttern, werden durch unterirdische Ausläufer des Apennin ausgelöst, die unter die Ebene geschoben wurden und immer weiter Richtung Alpen gedrückt werden, einen Millimeter pro Jahr. Dadurch sammelt sich Druck an, der durch Erdbeben abgebaut wird."
Nur ist ihre Häufigkeit wesentlich geringer als in anderen Teilen Italiens. Und dadurch gerät das potenzielle Risiko allzu leicht in Vergessenheit.
"Das Risiko wird errechnet, indem man sich ansieht, in welchem Gebiet wie oft Erdbeben aufgetreten sind und wie stark sie waren. Auf dieser Erfahrungsbasis schätzt man die Wahrscheinlichkeit eines Erdbeben und seiner voraussichtlichen Stärke ein. Wir wissen zum Beispiel, dass in der Provinz von Avellino in Kampanien etwa alle 30 Jahre die Erde bebt. Statistisch gesehen ist die Zeit reif für ein weiteres großes Erdbeben in Italien. Das kann noch zehn Jahre dauern, es kann aber auch im nächsten Moment passieren."
Italien scheint darauf nicht vorbereitet zu sein. Doch der Wille, umzudenken, wächst in diesen Tagen. Das Beispiel der Emilia Romagna hat gezeigt, dass Erdbeben nicht nur Menschenleben gefährden, sondern auch die Wirtschaft. Wo Unternehmen ihre Produktion auf unbestimmte Zeit einstellen müssen, weil ihre Werkshallen nicht sicher sind, gehen Marktanteile verloren. Möglicherweise für immer. Die internationale Konkurrenz schläft nicht. Erdbebensicheres Bauen würde sich also auch aus wirtschaftlichen Gründen lohnen. So zynisch das klingt, vielleicht verhilft diese Erkenntnis Italien zu einem neuen Umgang mit der Bedrohung durch Erdbeben.