Wer glaubt, dass zum evangelischen Pfarrhaus eigentlich schon alles gesagt sei, wird von Christine Eichels im Quadriga Verlag erschienenem Buch "Das deutsche Pfarrhaus" überrascht sein. Denn die 1959 geborene Pfarrerstochter lenkt ihren Blick weit über die bisher dominierende geisteswissenschaftliche Perspektive hinaus. Der französische Germanist Robert Minder skizzierte ja in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts "Das Bild des Pfarrhauses in der deutschen Literatur von Jean Paul bis Gottfried Benn" mit dem Ziel, das evangelische Pfarrhaus französischen Lesern als eine "Urzelle" deutschen Geisteslebens vorzustellen. Und zu Beginn dieses Jahrhunderts spitzte der deutsche Germanist Heinz Schlaffer Minders Hypothese mit der Behauptung zu, deutsche Literatur habe überhaupt nur während zweier Jahrhunderte, und dies unter protestantischer Führung, Weltrang besessen.
Nach einer Epoche, in der die Pfarrerssöhne Bodmer, Gottsched, Gellert, Lessing, Wieland, Schubart, Claudius, Lichtenberg, Bürger, Hölty, Lenz, Jean Paul, August Wilhelm und Friedrich Schlegel die Szene beherrscht hatten, hätte sogar der Nicht-Pfarrerssohn Goethe 1818 in seinem Gedicht "Um Mitternacht" sein lyrisches Ich zum Pfarrerssohn werden lassen. Dass sich diese Linie seitdem über Friedrich Nietzsche, C. G. Jung, Albert Schweitzer, Hermann Hesse, Gottfried Benn bis F. C. Delius weit ins 20. Jahrhundert verlängern lässt, hat diese verengende Fokussierung des Blicks auf das deutsche Pfarrhaus als Bildungshort und Musentempel verstärkt.
Wenn nun Christine Eichel den Bogen von Luthers Wittenberger Familiengründung bis zur Präsidentschaft des Pfarrers Gauck schlägt, zeigt sie, dass das Pfarrhaus mehr als ein Ort von Bildung und Gelehrsamkeit war. Bevor im 18. Jahrhundert die Studierstube mit der Bibliothek ins Zentrum rückte, war der Garten viel wichtiger. Denn der gar nicht oder knapp besoldete Pfarrer lebte mit seiner meist großen Familie und oft zahlreichen Gästen von den Erträgen eigener Landwirtschaft. Pfarrhaus und Garten waren ein meist von der Pfarrfrau betriebener Wirtschaftsbetrieb. Und das Haus neben der Kirche, im Ortszentrum gelegen, ein halböffentlicher sozialer Treffpunkt.
Es macht den großen Reiz des Buchs von Christine Eichel aus, dass sie sich nicht allein auf literarische Quellen und die eigenen Pfarrhauserinnerungen stützt, sondern Interviews mit bisher nicht oder kaum als Pfarrerskindern hervorgetretenen Gesprächspartnern geführt hat: etwa dem Architekten Meinhard von Gerkan, dem Politiker Rezzo Schlauch, dem Schauspieler Peter Lohmeyer, der RTL-Super-Nanny Katharina Saalfrank und dem Hans-Dampf-in-manchen-Gassen Benjamin von Stuckrad-Barre.
Auffallend sind die übereinstimmenden Erinnerungen an die soziale Rolle des Pfarrhauses, als Ort für Seelsorgegespräche, aber auch als Anlaufstelle für bettelnde Tippelbrüder. Das Pfarrhaus war ein Ort eingeschränkter Privatheit, die Studierstube des Vaters, meist gleichzeitig auch Raum für die Seelsorge, kaum getrennt von den Wohnräumen der Familie. Die Mutter, meist nicht berufstätig, führte nicht nur diesen halböffentlichen Haushalt, sondern wurde zudem "ehrenamtlich" zur Organisation und Leitung von Gemeindekreisen in die Pflicht genommen. In Spannung zu dieser "Öffentlichkeit" des Familienlebens, verbunden mit der Erwartung vorbildlicher Lebensführung, stand soziale Isolation. Der Pfarrer, seine Frau und die Pfarrerskinder gehörten im dörflichen oder kleinstädtischen Leben nie wirklich dazu. Der häufig zitierte Satz "Das Pfarrhaus muss ein Glashaus sein" war Ausdruck einer oft schwer erträglichen sozialen Kontrolle. Die Folgen solchen Aufwachsens sind mannigfach autobiografisch dokumentiert. Die Schattenseiten beschreibt Christine Eichel mit den Stichworten Erziehungsgewalt, erzwungener Gehorsam, verordnetes Schweigen, Ausbruchsversuche, Hass auf das Pfarrhaus im Kapitel "Gängelung und Revolution".
Die Autorin selbst aber blickt dankbar zurück und hofft negativer Entwicklungen zum Trotz auf eine Zukunft des Pfarrhauses:
Nicht überall sind die Pfarrhäuser noch stets geöffnete Betreuungsofferten, selbst ernannte Vorbilder oder gar Kulturträger. Manche Pfarrersfamilie entzieht sich den allgegenwärtigen Gemeindepflichten. Auch ein intaktes Familienleben, ohne Scheidung, ohne Konflikte, ist längst Illusion. Andererseits ist der Abgesang aufs Pfarrhaus letztlich eine Stimme mehr im Chor des Kulturpessimismus. Obwohl es in den vergangenen Jahrzehnten einen Bedeutungsverlust verzeichnete, ist das Pfarrhaus doch nicht völlig bedeutungslos geworden.
Im Blick auf die Zukunft flüchtet sich Christine Eichel in überraschende und befremdende Hoffnungen. Sie gründen unter anderem in der derzeitigen Besetzung der beiden Spitzenpositionen in Deutschland heute: "Eine Pfarrerstochter ist Kanzlerin, ein ehemaliger Pfarrer Bundespräsident. Nichts weiter als ein Zufall?" lauten die ersten Sätze des Buches. Die Ablösung Christian Wulffs durch Joachim Gauck, die Einbeziehung evangelischer Spitzenrepräsentanten wie Margot Käßmann, Katrin Göring-Eckardt und Wolfgang Huber in den Kreis der Präsidentschaftskandidaten kommentiert Christine Eichel:
Diesem Quartett traute man zu, gleich ein ganzes Land zu vertreten – glaubensgefestigte Antworten auf den Bankrott politischer Moral, für den der gestrauchelte Präsident Wulff stand.
Der Rückblick Christine Eichels auf die Geschichte des deutschen Pfarrhauses ist facettenreich und unterhaltsam verfasst, ihre Wünsche und Prognosen für die Zukunft sind dagegen wenig reflektiert. Ihrer präzisen Beschreibung zum Trotz, dass es das Pfarrhaus als soziale Institution nicht mehr gibt und auch nie mehr geben kann, wird das Pfarrhaus zum Schluss des Buches zur Chiffre für Welterlösung, die dem evangelischen Pfarrer eine unzumutbare Retterrolle aufbürdet. Im Zeichen sozialer und gesellschaftlicher Verwerfungen als Folgen eines denkbaren Zusammenbruchs der europäischen Währung etwa solle sich der Pfarrer als "im Spannungsverhältnis von sozialem Engagement, spirituellem Charisma und seelsorgerischer Strahlkraft" bewegender Akteur bewähren. Den treffenden Kommentar zu solch verstiegenen Pfarrhausvorstellungen liefert Benjamin Stuckrad-Barre in einem der im Buch wiedergegebenen Gespräche mit der Autorin: "Als Pfarrerskind wird man entweder Terrorist oder Kanzlerin. Schriftsteller liegt vermutlich irgendwo dazwischen."
Christine Eichel:
Das deutsche Pfarrhaus. Hort des Geistes und der Macht. Quadriga Verlag, Berlin 2012. 367 S. 22,99 Euro.
Nach einer Epoche, in der die Pfarrerssöhne Bodmer, Gottsched, Gellert, Lessing, Wieland, Schubart, Claudius, Lichtenberg, Bürger, Hölty, Lenz, Jean Paul, August Wilhelm und Friedrich Schlegel die Szene beherrscht hatten, hätte sogar der Nicht-Pfarrerssohn Goethe 1818 in seinem Gedicht "Um Mitternacht" sein lyrisches Ich zum Pfarrerssohn werden lassen. Dass sich diese Linie seitdem über Friedrich Nietzsche, C. G. Jung, Albert Schweitzer, Hermann Hesse, Gottfried Benn bis F. C. Delius weit ins 20. Jahrhundert verlängern lässt, hat diese verengende Fokussierung des Blicks auf das deutsche Pfarrhaus als Bildungshort und Musentempel verstärkt.
Wenn nun Christine Eichel den Bogen von Luthers Wittenberger Familiengründung bis zur Präsidentschaft des Pfarrers Gauck schlägt, zeigt sie, dass das Pfarrhaus mehr als ein Ort von Bildung und Gelehrsamkeit war. Bevor im 18. Jahrhundert die Studierstube mit der Bibliothek ins Zentrum rückte, war der Garten viel wichtiger. Denn der gar nicht oder knapp besoldete Pfarrer lebte mit seiner meist großen Familie und oft zahlreichen Gästen von den Erträgen eigener Landwirtschaft. Pfarrhaus und Garten waren ein meist von der Pfarrfrau betriebener Wirtschaftsbetrieb. Und das Haus neben der Kirche, im Ortszentrum gelegen, ein halböffentlicher sozialer Treffpunkt.
Es macht den großen Reiz des Buchs von Christine Eichel aus, dass sie sich nicht allein auf literarische Quellen und die eigenen Pfarrhauserinnerungen stützt, sondern Interviews mit bisher nicht oder kaum als Pfarrerskindern hervorgetretenen Gesprächspartnern geführt hat: etwa dem Architekten Meinhard von Gerkan, dem Politiker Rezzo Schlauch, dem Schauspieler Peter Lohmeyer, der RTL-Super-Nanny Katharina Saalfrank und dem Hans-Dampf-in-manchen-Gassen Benjamin von Stuckrad-Barre.
Auffallend sind die übereinstimmenden Erinnerungen an die soziale Rolle des Pfarrhauses, als Ort für Seelsorgegespräche, aber auch als Anlaufstelle für bettelnde Tippelbrüder. Das Pfarrhaus war ein Ort eingeschränkter Privatheit, die Studierstube des Vaters, meist gleichzeitig auch Raum für die Seelsorge, kaum getrennt von den Wohnräumen der Familie. Die Mutter, meist nicht berufstätig, führte nicht nur diesen halböffentlichen Haushalt, sondern wurde zudem "ehrenamtlich" zur Organisation und Leitung von Gemeindekreisen in die Pflicht genommen. In Spannung zu dieser "Öffentlichkeit" des Familienlebens, verbunden mit der Erwartung vorbildlicher Lebensführung, stand soziale Isolation. Der Pfarrer, seine Frau und die Pfarrerskinder gehörten im dörflichen oder kleinstädtischen Leben nie wirklich dazu. Der häufig zitierte Satz "Das Pfarrhaus muss ein Glashaus sein" war Ausdruck einer oft schwer erträglichen sozialen Kontrolle. Die Folgen solchen Aufwachsens sind mannigfach autobiografisch dokumentiert. Die Schattenseiten beschreibt Christine Eichel mit den Stichworten Erziehungsgewalt, erzwungener Gehorsam, verordnetes Schweigen, Ausbruchsversuche, Hass auf das Pfarrhaus im Kapitel "Gängelung und Revolution".
Die Autorin selbst aber blickt dankbar zurück und hofft negativer Entwicklungen zum Trotz auf eine Zukunft des Pfarrhauses:
Nicht überall sind die Pfarrhäuser noch stets geöffnete Betreuungsofferten, selbst ernannte Vorbilder oder gar Kulturträger. Manche Pfarrersfamilie entzieht sich den allgegenwärtigen Gemeindepflichten. Auch ein intaktes Familienleben, ohne Scheidung, ohne Konflikte, ist längst Illusion. Andererseits ist der Abgesang aufs Pfarrhaus letztlich eine Stimme mehr im Chor des Kulturpessimismus. Obwohl es in den vergangenen Jahrzehnten einen Bedeutungsverlust verzeichnete, ist das Pfarrhaus doch nicht völlig bedeutungslos geworden.
Im Blick auf die Zukunft flüchtet sich Christine Eichel in überraschende und befremdende Hoffnungen. Sie gründen unter anderem in der derzeitigen Besetzung der beiden Spitzenpositionen in Deutschland heute: "Eine Pfarrerstochter ist Kanzlerin, ein ehemaliger Pfarrer Bundespräsident. Nichts weiter als ein Zufall?" lauten die ersten Sätze des Buches. Die Ablösung Christian Wulffs durch Joachim Gauck, die Einbeziehung evangelischer Spitzenrepräsentanten wie Margot Käßmann, Katrin Göring-Eckardt und Wolfgang Huber in den Kreis der Präsidentschaftskandidaten kommentiert Christine Eichel:
Diesem Quartett traute man zu, gleich ein ganzes Land zu vertreten – glaubensgefestigte Antworten auf den Bankrott politischer Moral, für den der gestrauchelte Präsident Wulff stand.
Der Rückblick Christine Eichels auf die Geschichte des deutschen Pfarrhauses ist facettenreich und unterhaltsam verfasst, ihre Wünsche und Prognosen für die Zukunft sind dagegen wenig reflektiert. Ihrer präzisen Beschreibung zum Trotz, dass es das Pfarrhaus als soziale Institution nicht mehr gibt und auch nie mehr geben kann, wird das Pfarrhaus zum Schluss des Buches zur Chiffre für Welterlösung, die dem evangelischen Pfarrer eine unzumutbare Retterrolle aufbürdet. Im Zeichen sozialer und gesellschaftlicher Verwerfungen als Folgen eines denkbaren Zusammenbruchs der europäischen Währung etwa solle sich der Pfarrer als "im Spannungsverhältnis von sozialem Engagement, spirituellem Charisma und seelsorgerischer Strahlkraft" bewegender Akteur bewähren. Den treffenden Kommentar zu solch verstiegenen Pfarrhausvorstellungen liefert Benjamin Stuckrad-Barre in einem der im Buch wiedergegebenen Gespräche mit der Autorin: "Als Pfarrerskind wird man entweder Terrorist oder Kanzlerin. Schriftsteller liegt vermutlich irgendwo dazwischen."
Christine Eichel:
Das deutsche Pfarrhaus. Hort des Geistes und der Macht. Quadriga Verlag, Berlin 2012. 367 S. 22,99 Euro.