Im Tienshan-Gebirge duftet es nach Kräutern. Vor allem nach Kirgisischem Salbei.
Jürgen Hartsch: "Wir sind jetzt an der Absetzanlage Nummer 7, die aus der sehr frühen Phase der Uranproduktion stammt."
Man könnte dieses Absetzbecken für eine Wiese halten. Eine schüttere Wiese, denn auf dem lehmigen, mit Steinen durchsetzten Boden wächst kaum Gras. Ohnehin ist alles verdorrt, denn es hat lange nicht mehr geregnet. Unter uns fließt ein Gebirgsbach. Der Mailuu-Suu. Der Ort, den man durch den Dunst in der Ferne erahnen kann, ist nach ihm benannt.
Jürgen Hartsch: "Hinter diesem Damm waren stark wasserhaltige Schlämme aus der Uranerzaufbereitung aufgestaut. Ein großer Teil ergoss sich in den Mailuu-Suu-Fluss, der sie dann weit verfrachtete."
Einst war Mailuu-Suu eine geschlossene Stadt: Wer hierhin wollte, brauchte eine Sondererlaubnis. In Mailuu-Suu wurde das Uran für die erste Atombombe der Sowjetunion gewonnen. Doch das ist lange vorbei.
Sowjetische Altlasten als enormes Risiko
Am Tag zuvor: Eine Pressekonferenz in Osh, der zweitgrößten Stadt Kirgistans. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen haben eine kleine Gruppe Journalisten eingeladen.
Azamat Mambetov: "Wir wollen mit dieser Pressekonferenz die internationale Gemeinschaft auf ein Problem aufmerksam machen, das Kirgistan und ganz Zentralasien belastet: Es geht um die Hinterlassenschaften des Uranbergbaus, der hier zu Sowjetzeiten stattgefunden hat."
Die Regierung hat einen hochrangigen Vertreter geschickt: Staatssekretär Azamat Mambetov. Was er sagt, übersetzen zwei Simultandolmetscherinnen. Sie sitzen am Rand des Saals in einer provisorischen Kabine. Im Publikum: die Journalisten, dazu Kameraleute, Bürger von Mailuu-Suu, Offizielle von EU und UNDP.
Azamat Mambetov: "Allein in Kirgistan gibt es mehr als 90 Absetzanlagen und Abraumhalden. Die meisten sind in einem schlechten Zustand, entsprechen nicht modernen Sicherheitsstandards und können nicht als langzeitsicher eingestuft werden."
Ihr Inhalt: mehr als 280 Millionen Tonnen giftiger und radioaktiver Abfälle.
Azamat Mambetov: "Wenn durch ein Erdbeben oder einen Erdrutsch der Damm eines Absetzbeckens bricht, geraten die Abfälle in die Nebenflüsse, werden fortgespült und gelangen so in den Syrdarja und damit ins Ferghanatal, wo rund 14 Millionen Menschen leben."
Die sowjetischen Altlasten sind ein erhebliches Risiko, doch den Ländern Zentralasiens fehlt das Geld, es zu beseitigen. Deshalb suchen sie Hilfe – unter anderem bei den Vereinten Nationen und der Europäische Kommission, der Weltbank und der EBRD.
Früh am Morgen ist der ganze Tross mit drei Kleinbussen in Osh aufgebrochen. Mehr als drei Stunden wird die Fahrt nach Mailuu-Suu dauern, denn die Straße ist mehr als holprig: Japanische Firmen wollten sie eigentlich sanieren – doch seitdem sie die Teerdecke aufgerissen haben, geht es nicht weiter.
"Diese ehemaligen Uranabbaugebiete der Sowjetunion wurden im Grunde genommen sich selbst überlassen. Als die zentralasiatischen Staaten 1991 ihre Unabhängigkeit erlangten, haben sie Hunderte Millionen Tonnen gefährlicher Abfälle aus der Uranaufbereitung geerbt: hochgiftige chemische und radioaktive Rückstände aus dem Bergbau zu Sowjetzeiten." Martin Andersen von der Europäischen Kommission. Er leitet von EU-Seite das Sanierungsprogramm.
Martin Andersen: "Wir haben sieben Uran-Altlasten identifiziert, die vorrangig saniert werden müssen und die sich alle im Ferghanatal befinden, durch das wir gerade fahren."
Rechts und links der Straße Weiden, auf denen Kühe, Pferde, Schafe und Ziegen versuchen, satt zu werden. Dann Baumwollfelder, die ihre Fruchtbarkeit der künstlichen Bewässerung aus dem Syrdarja verdanken, während flussabwärts der Aralsee austrocknet. Als wir die Ebene verlassen und ins Tienshan-Gebirge fahren, bleiben die Weiden.
Martin Andersen: "Es gibt noch mehr Altlasten, aber die sind nicht so kritisch. Die sollen die Länder später unter eigener Regie sanieren, nachdem sie gelernt haben wie es geht. Wir konzentrieren uns auf diese sieben vorrangigen Standorte."
Drei dieser kritischen Standorte liegen in Kirgistan, zwei in Usbekistan und zwei in Tadschikistan.
Martin Andersen: "Einige der alten Dämme schließen Hunderttausende, manchmal sogar Millionen Tonnen giftiger, radioaktiver Abfälle ein."
Ein einst herausgeputzter Ort im Nirgendwo
Die Georisiken in der gesamten Region sind hoch: Erdbeben sind in Zentralasien keine Seltenheit, ebenso wenig Erdrutsche, die Berghänge sind steil und nicht stabil. Denn wann immer Starkregen oder die Schneeschmelze im Frühjahr den Boden aufweicht, reichen kleine Erschütterungen, um Zehntausende und mehr Tonnen Erdreich ins Flusstal rutschen zu lassen.
Martin Andersen: "Die Altlasten liegen alle im Gebirge. Wenn Sie nach draußen schauen, sehen Sie schon das Hochgebirge mit den schneebedeckten Gipfeln. Die Flüsse aus diesem Gebirge könnten die giftigen, radioaktiven Abfälle bis in die Nachbarstaaten schaffen."
Das ganze Problem hat einen grenzüberschreitenden Aspekt. Wenn ein Damm bricht, würde das giftige Material verteilt. Die Umweltprobleme würden sich verschärfen, das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen den Ländern spitzte sich zu und das verschlechtert die geopolitische Lage. Die Frage ist nicht, ob es passiert, sondern wann."
Es ist fast Mittag, als wir uns Mailuu-Suu nähern. Der Name bedeutet "Öliges Wasser" – denn hier sickert an etlichen Stellen Öl aus dem Boden. Am Fluss, auf den Hügeln, den Weiden – überall laufen die Pumpen chinesischer Firmen, die das schwarze Gold aus dem Untergrund holen. Die Wurzeln der Stadt reichen viele Jahrhunderte weit zurück. Die Karawanen der Seidenstraße zogen durch das Tal. Anfang der 1930er-Jahre entdeckten sowjetische Geologen dann das Uran im Boden.
Heute ist Mailu-Suu eine kleine Industriestadt mit rund 23.000 Einwohnern, einem Lenin-Denkmal und Grünflächen, in denen Dutzende Menschen damit beschäftigt sind, Laub zu fegen. Arbeit ist rar. Nur noch ein großer Arbeitgeber ist übriggeblieben: eine Fabrik für Leuchtmittel.
Man sieht Mailuu-Suu seine Vergangenheit als privilegierte Stadt an: ein ehemals herausgeputzter Ort mitten im Nirgendwo.
Angst vor Erdrutschen und Erdbeben
Für mehr als den Blick aus dem Fenster des Kleinbusses bleibt keine Zeit. Es geht talaufwärts, vorbei an den ausgedehnten ehemaligen Aufbereitungsanlagen, dorthin, wo die Uranaltlasten liegen. Unter anderem zu Absetzbecken Nummer 7.
Eine riesige, verdorrte Wiese, darum herum ein Zaun, das ist Absetzanlage Nummer 7. Wenn man es nicht weiß, ahnt man von dem Becken darunter nichts, auch nicht von dem Damm, der es umgibt und der die Schlammmassen von einst zusammenhält.
Am 16. April 1958 brach der nach schweren Regenfällen aufgeweichte Damm bei einem Erdbeben: Rund 600.000 Kubikmeter radioaktiven, giftigen Schlamms wälzten sich durch das Tal, zerstörte Häuser, tötete Menschen. Mehr als 40 Kilometer weit verteilte der Mailuu-Suu-Fluss seine giftige Fracht – auch über die Grenze in die usbekische Sowjetrepublik hinein. Es soll Jahre gedauert haben, ehe die landwirtschaftlichen Flächen wieder gereinigt waren.
Jürgen Hartsch: "Beim Absetzbecken 7 sehen wir uns heute einer besonderen Situation gegenüber. Wir müssen hier den Koitash-Erdrutsch berücksichtigen, der 2017 auf dem anderen Ufer des Mailuu-Suu-Flusses abgegangen ist: Riesige Erdmassen haben sich in Bewegung gesetzt. Sie flossen wie Wasser den Hang hinunter und haben im Tal den Mailuu-Suu-Fluss blockiert."
Jürgen Hartsch vom Firmenverbund G.E.O.S. Ingenieurgesellschaft und WISUTEC leitet die Sanierungsarbeiten hier in Mailuu-Suu.
"Dadurch stieg der Wasserspiegel schnell an. Als Notfallmaßnahmen haben die kirgisischen Behörden Bagger geschickt, damit das Wasser wieder abfließen konnte. Stabil ist die Situation hier jedoch immer noch nicht: Erdmassen bewegen sich weiter talwärts und bedrohen die Absetzbecken 7 und 5. Es könnte also wieder passieren."
Sicherheit war keine Priorität
In Mailuu-Suu lief der Uranerzbergbau zwischen 1948 und 1968. Dann waren die Vorräte erschöpft. In der ersten Phase, so erzählen die Bewohner, haben Kriegsgefangene und Verbannte in den Bergwerken gearbeitet. Das Erz wurde außerhalb der Stadt gebrochen und gemahlen und in zwei Fabriken mit Säuren und Laugen aufbereitet – bis hin zum Yellow Cake, dem Ausgangsmaterial für Brennstäbe und Atombomben. Sicherheit stand nicht weit oben auf der Prioritätenliste.
Auch nicht nach dem Ende des Bergbaus. Wie überall in Zentralasien blieben auch hier die meisten Schächte und Stollen einfach offen zurück. Eigentlich sollen Zäune den Zugang zu den Absetzbecken verwehren. Doch die werden oft gestohlen, das Land verbotenerweise als Weide genutzt. Denn auf den kargen Berghängen ist Futter rar – und der Viehbestand hoch. Die Entwässerungssysteme der ehemaligen Absetzanlagen funktionieren nicht mehr, und die Erdschicht, die die Becken abdeckt, ist mit zehn bis 30 Zentimetern zu dünn um zu verhindern, dass Regenwasser eindringt. Die Sanierungsarbeiten werden also umfangreich.
Ein paar Hundert Meter weiter, an der nächsten Absetzanlage, der Nummer 6, hat Jürgen Hartsch Zeit für ein Interview.
"Das Problem der hier abgelagerten Erzschlämme besteht darin, dass es sich um chemisch veränderte Stoffe handelt, die im Kontakt mit Wasser sehr reaktionsfreudig sind, wo Lösungsprozesse sehr gut vonstatten gehen können und wo dann über dem Wasserweg die enthaltenen Schadstoffe eine weite Verbreitung finden können."
Bunter Cocktail an Schadstoffen
Natururan ist vor allen Dingen giftig – ebenso giftig wie Quecksilber. Radioaktiv ist es nur schwach, und durch die Aufbereitung des Erzes blieb nur verhältnismäßig wenig Uran im Abraum und in den Aufbereitungsschlämmen zurück. Doch wenn, wie hier in Mailuu-Suu, mehr als 10.000 Tonnen Uran produziert wurden, ist dieses Erbe in seiner Masse alles andere als ungefährlich. Im Körper kann Uran Krebs auslösen. Und dann sind da noch die radioaktiven Zerfallsprodukte. Allen voran: das Radon, das sich in schlecht belüfteten Räumen ansammelt. Wird es eingeatmet, steigt das Lungenkrebsrisiko.
Jürgen Hartsch: "Die in diesem Tal gelegenen Absetzanlagen sind in einer Entfernung von ein bis zwei Kilometern von dem Siedlungsgebiet entfernt. Gegenwärtig ist dort unten in der Stadt kein Einfluss nachzuweisen. Und zwar aus dem Grunde, dass sie nach den damals geltenden Regelwerken von 1960 und -70 abgedeckt wurden mit Boden, der nicht kontaminiert war."
Doch wo die Erosion diese Abdeckung abträgt, steigen die Radioaktivitätsmesswerte plötzlich auf das 10- oder sogar 30-fache der natürlichen Hintergrundstrahlung an. Dann liegt kontaminierter Schlamm an der Oberfläche, der Wind kann die Partikel packen und sie forttragen – in die Siedlungen hinein. Die Abdeckungen müssen also ständig repariert werden. Dazu kommt ein importiertes Problem. Die Fabriken in Mailuu-Suu verarbeiteten nicht nur das Erz aus den eigenen Bergwerken zu Yellow Cake, sondern auch das aus anderen Ländern, etwa der Tschechoslowakei.
Jürgen Hartsch: "Diese Erze haben eine vollkommen andere Zusammensetzung. Zum Beispiel ist zusätzlich zu dem Uran dort ein hoher Gehalt an Arsen vorhanden und an anderen Schwermetallen."
Uran, Arsen, Kupfer, Blei - aus einigen der schlecht gesicherten Absetzbecken sickert ein bunter Cocktail an Schadstoffen in die Umwelt. Glücklicherweise sind Boden und Gestein hier sehr durchlässig, und so verschwindet, was aus den Absetzbecken ausgewaschen wird, tief im Untergrund.
Jürgen Hartsch: "Es taucht auch in keinen Quellen oder Brunnen auf, sondern verteilt sich diffus im Untergrund. Die Wege, die sind uns bisher nicht klar geworden."
Doch aus der Welt sind die Giftstoffe damit ja keineswegs: "Umso mehr besteht aber die Notwendigkeit, dass auch für die Zukunft gewährleistet bleibt, dass diese kontaminierten Wässer, die permanent in den Abfallkörpern generiert werden, volumenmäßig bestmöglich begrenzt werden."
Krebserkrankungen: "Problem mit statistischen Daten"
Zu der der Pressekonferenz in Osh ist auch eine Abordnung der Bewohner von Mailuu-Suu gekommen.
Eine ehemalige Lehrerin, der Bürgermeister und der Leiter des örtlichen Krankenhauses, Nemat Mambetov: "Besonders wenn sie in Interviews danach gefragt werden, antworten viele Bewohner von Mailuu-Suu, dass sie ständig krank seien. Sie erklären, dass es bei uns mehr Krebsfälle gebe als in anderen Regionen Kirgistans."
Er selbst könne wenig dazu sagen, da epidemiologischen Studien fehlten, erklärt Mambetov.
Nemat Mambetov:"Vor einiger Zeit hat mich auch ein Vertreter des EU-Parlaments danach gefragt, und ich musste ihm erklären, dass wir ein Problem mit den statistischen Daten haben. Wir werden von Nichtregierungsorganisationen beschuldigt, die Daten nicht transparent zu machen. Aber als Repräsentant des Staates bin ich für die Daten verantwortlich, die ich herausgebe. Wäre ich kein offizieller Vertreter, könnte ich etwas sagen, aber es gibt keine Daten, die offiziell veröffentlicht werden könnten."
Allerdings habe er den Eindruck, als sei die Krebsrate in Mailuu-Suu im Vergleich zum restlichen Regierungsbezirk Dschalalabad erhöht. Aber: "Wir können nicht eindeutig sagen, dass es mit dem Uran zu tun hat. Wenn wir uns einmal die Art der Krebserkrankungen ansehen, dann müsste es, wenn wir einen Effekt der Strahlung daraus ablesen könnten, vermehrt Lungenkrebs geben, denn wir haben Probleme mit Radon, und Radon verursacht Lungenkrebs. Aber wir sehen nur sehr wenige Lungenkrebsfälle.
Vergleicht man aber Mailuu Suu mit anderen Regierungsbezirken im Djalalabad-Verwaltungsbezirk, dann sehen wir, dass in Toguz-Torou Krebserkrankungen häufiger sind als bei uns – und dort hat es niemals Uranbergbau gegeben."
Fachkräfte und Spezialisten fehlen
Später, zurück in Deutschland, wird Nemat Mambetov einige Statistiken per Mail schicken. Unter anderem zur Tumorsterblichkeit im Verwaltungsbezirk von Dschalalabad, dem Bezirk, zu dem auch Mailuu-Suu gehört. Die Zahlen in Mailuu-Suu schwanken, liegen mal unter, jedoch meist leicht über denen der Vergleichsorte. Es fehlen wichtige Angaben, um die Statistiken interpretieren zu können, erklärt auch ein Epidemiologe, der sich die Daten anschaut. Viele Faktoren könnten eine Rolle spielen: hohe Arbeitslosigkeit etwa oder die Abwanderung der Jungen. Denn mit zunehmendem Durchschnittsalter der Bevölkerung steigen auch die Krebsraten .
Nemat Mambetov: "Uns fehlt es an Spezialisten. Um beispielsweise das Thema Krebsfälle einmal eingehend zu untersuchen, bräuchten wir einen Spezialisten, einen Onkologen, der ständig hier arbeitet. Weil wir diesen Arzt nicht haben, sind unsere Analysen nicht zuverlässig."
Doch Spezialisten anzulocken ist schwierig. Einmal, weil die Arbeit in Mailuu-Suu inzwischen schlechter bezahlt wird als anderswo im Land – und die Löhne sinken weiter. Dann ist noch der Ruf der Stadt: 2014 hatte eine US-amerikanische Umweltorganisation Mailuu-Suu den wenig erstrebenswerten Titel verliehen, zu den zehn schmutzigsten Orten der Welt zu gehören.
Nemat Mambetov: "Wegen dieser Negativschlagzeilen – und bitte entschuldigen Sie, es sind normalerweise Journalisten, die behaupten, dass es unmöglich sei, in Mailuu-Suu zu leben, und dass Sterblichkeits- und Krebsrate zu hoch seien -, wegen dieser Negativschlagzeilen wollen keine jungen Fachkräfte zu uns kommen. Es ist hier ganz anders. Wir leben in dieser Stadt – aber wir können niemanden überzeugen."
Anna Travkina: "Natürlich versuchte die Regierung Kirgistans unsere Stadt zu erhalten und neue Unternehmen anzusiedeln. So wurde entschieden, eine Fabrik für Lampen zu bauen."
"Mailuu-Suu war eine richtige Traumstadt"
Anna Travinka ist pensionierte Lehrerin. Auch sie hängt an ihrer Stadt, die - wie alle geschlossenen Städte - einst große Vorteile genoss. Allein die alten Fabrikanlagen – einmalige Anlagen seien das gewesen: "Damals hatten wir ganz einzigartige Arbeitsplätze. Die Arbeiter bekamen hohe Löhne. Ich weiß allerdings, dass die Strahlung in den Fabriken hoch war, die Arbeiter riskierten wirklich ihre Gesundheit. Einer meiner Verwandten arbeitete dort, bis er 74 Jahre alt war und starb dann nur zwei Jahre später mit 76 an Krebs."
Doch was im Rückblick zählt, ist, dass es ihr damals gut gegangen ist, dass sie mit einem Gehalt von zehn Rubeln jedes Jahr in Urlaub fahren konnten. Und dass die Stadt so schön war. Daran erinnert sich auch Nemat Mambetov: "Ich mochte Mailuu-Suu von Anfang an, denn wir wurden damals aus Moskau beliefert. Die Geschäfte waren voll mit Produkten, alles war so sauber und ordentlich, und wir haben es einfach geliebt und sind geblieben. Wir trugen Jeans."
Mahamadali Mamtkulov, der ehemalige Chefarzt des Hospitals, stimmt ihr zu: "Ich habe drei Söhne, die nicht fortziehen wollen, weil sie hier geboren sind. Mailuu-Suu war eine richtige Traumstadt, wir hatten freien Zugang zu den Kinos, niemand überprüfte die Tickets, wir lebten im Kommunismus. Wenn Sie in den Bus stiegen, gab es Sitzplätze für die Senioren und Kinder, niemand hätte diese Plätze belegt. Niemand warf etwas auf den Boden – und für 15 Kopeken konnten Sie zu Mittag essen, mit einer Suppe als Hauptgericht und einem Salat dazu."
Eine kirgisische Kollegin meldet sich aus der hinteren Reihe zu Wort: Ihr hier in Mailuu-Suu seid wohl die einzigen, die die Sowjetzeiten vermissen. Der Zwischenruf wird mit Lachen quittiert.
Die Bürger von Mailuu-Suu, sie hoffen, dass neue Investoren kommen, wenn die Sanierungsarbeiten erst einmal abgeschlossen sind.
Jürgen Hartsch: "Das ist der Schacht 8 gewesen ist. Und der ist offen, also nicht so offen, dass man so reingucken kann, aber das, was als Betonplatte mal obendrauf lag, das ist zerbrochen."
Wir sind weitergefahren und stehen nun hoch über dem Tal. Auf einem kleinen Plateau sieht man noch die Reste des alten Bergwerks. Ein paar zerfallene Baracken und ein mit einer zersprungenen Betonplatte provisorisch abgedeckter Schacht.
Jürgen Hartsch: "Und wenn man dann einen Stein reinwirft oder was, dann hört man, es fällt tief. Das muss unbedingt gemacht werden. Solche Stellen haben wir anderswo auch."
Deutschland gibt kein Geld für die Sanierung
85 Millionen Euro werden die Sanierungsarbeiten für die sieben vordringlichsten Projekte in Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan kosten. Geld, das die Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung EBRD derzeit aufzubringen versucht: "Wir haben diesen Fund 2015 gegründet, der ist 2016 richtig betriebsbereit gewesen. Und wir haben zunächst angefangen mit Beiträgen von der Europäischen Kommission, die auch viele Vorarbeiten geleistet hat. Und im letzten Jahr hat die kirgisische Regierung gemeinsam mit der Kommission eine Geberkonferenz durchgeführt."
Balthasar Lindauer ist bei der EBRD für das Projekt zuständig. Bislang, erzählt er, umfasst der Fund erst 30 Millionen. Das reicht, um endlich anzufangen, denn obwohl die Weltbank 2012 die Sanierung eines besonders dringlichen Projekts hier in Mailuu-Suu finanziert hat, ist kaum etwas passiert.
Balthasar Lindauer: "Der größte Geber ist nach wie vor die Europäische Kommission. Aber wir haben auch Zusagen von Belgien, der Schweiz und den Vereinigten Staaten, einen Beitrag von Norwegen."
Die Bundesrepublik macht nicht mit, obwohl deutsche Firmen hier federführend sind, schließlich sind die Sanierungen im Erzgebirge Vorbild für die Arbeiten in Zentralasien.
Reporterin: "Gibt es einen Grund, warum Deutschland noch nicht dabei ist?"
Balthasar Lindauer: "Der ist mir zumindest nicht bekannt."
"Aber wir tun unser Möglichstes, jeder tut sein Möglichstes"
Seit Mitte der 1990er-Jahre sind die zentralasiatischen Uranbergwerke geschlossen, und nach dem Willen der kirgisischen Regierung wird auch kein Abbau im Land mehr stattfinden. Stattdessen müssen Schächte und Stollen verfüllt, Halden und Absetzbecken dauerhaft abgedeckt werden. Es geht darum, die Aufbereitungsschlämme für 200 Jahre von der Außenwelt zu isolieren. Becken, die zu nah am Fluss liegen, werden umgelagert, die Ruinen der Uranaufbereitungsanlagen zur grünen Wiese zurückgebaut.
Die Menschen in Mailuu-Suu sind arm. Es gibt kaum Arbeit. Warum halten die Bürger trotzdem so fest an ihrer Stadt, die von Erdbeben und Erdrutschen bedroht ist und vor deren nuklearem Erbe sie sich fürchten müssen?
"Es ist schwer, das zu erklären. Wir wurden in Mailuu-Suu geboren und sind hier aufgewachsen."
Nuradil Mamatov ist der Bürgermeister von Mailuu-Suu. Er erzählt: Als die Regierung den Bürgern, die wegen drohender Erdrutsche ihre Häuser verlassen mussten, ein Stück Land und Geld für den Bau eines neuen Hauses gaben, kehrten sie zurück.
Nuradil Mamatov: "Wir Kirgisen leben noch in Clans. Das Land gehört unserem Clan, unseren Ahnen, unseren Großvätern – und deshalb wollen wir weiterhin dort leben. Die Stadt ist wunderschön, und auch die jungen Leute lieben sie. Gut, einige Gebäude müssen saniert werden – daran arbeiten wir, auch wenn das Geld nicht reicht. Aber wir tun unser Möglichstes, jeder tut sein Möglichstes."
Die Recherchereise nach Mailuu Suu wurde unterstützt von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung EBRD und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP.