Anja zieht es zurück in die russische Heimat ihrer Großmutter. Sie hat es zwar als Enkelin der einstigen Gutsbesitzerin Ranjewskaja in der neuen Welt zu einen eigenen kleinen Vermögen gebracht, aber damit möchte sie sich die Welt zurückkaufen, die ihre Großmutter einst verlassen musste: Das Gutshaus und allem voran den Kirschgarten. Aber der ist verschwunden unter einer Ansammlung von Datschen. Sie sind längst, infolge der Wohnungsnot im sowjetischen Sozialismus zu ärmlichen Dauerbehausungen geworden. Es dürfte schwierig werden, die Menschen von dort zu vertreiben um das Gelände wieder in den Kirschgarten zu verwandeln, der wie ein Mythos Anjas Bilderwelt beherrscht.
Krieg der Kulturen
Einen kleinen Krieg der Kulturen hat John von Düffel und Uraufführungsregisseur Tobias Wellemeyer an den Anfang gestellt. Da torkeln Lopachin, sein Gehilfe Sascha und Dunjascha betrunken durch einen angeranzten Salon, bevor ein smarter älterer Amerikaner mit Namen Gajew die Szene betritt. Er will das Terrain zurück und gerät damit unweigerlich in Konflikt mit dem halbseidenen Geschäftemacher Lopachin, Nachfahre der legendären Tschechow-Figur, der einst das Gelände von der verarmten Gutsherrenfamilie erworben hatte. Erst mit dem Auftritt der Anja endet die offene Konfrontation. Ein Spiel um Eros und Business beginnt. Lopachin und der örtliche Politiker Trofimow lassen sich von dem geheimnisvollen Leuchten der jungen Dame gefangen nehmen, die mit ihrem Projekt etwas Licht in den trüben provinziellen Alltag zu bringen verspricht, mit ihrer Vision der wiedergefundenen Heimat:
Es geht um Wurzeln! Um Heimkehr! Dass es alles hier war, über Jahrhunderte, das Haus, der Garten. Das hier ist der Ort, wo wir hingehören, wo der Kreis sich schließt, auf diesem Grund und Boden, nicht überall und nirgends!
Generation des traditionslosen Nomadismus
Anjas traditionalistische Emphase lässt den Umstand außer Acht, dass die Uhr vor Ort natürlich nicht stehen geblieben ist und das Land nicht einfach nur gewartet hat, von einer Nachfahrin der einstigen Eigentümer wiederentdeckt zu werden. Auch muss die neofeudale Selbstherrlichkeit, die Anjas Bruder Gajew an den Tag legt, an der Bauernschläue Lopachins scheitern, der seinen Geschäftssinn in der organisierten Verantwortungslosigkeit des sowjetischen Sozialismus geschärft hat. Zudem soll John von Düffels Kirschgarten-Rückkehr in den früher 1990er Jahren spielen. Einiges erinnert also thematisch an Rolf Hochuths "Wessies in Weimar" und deren Landnahme in der untergegangenen DDR. Aber von Düffels Anja ist lernfähig. Sie begreift im Gewirr der sich verschärfenden Probleme letztlich, dass ihre Heimat in der Vergangenheit liegt. Ihre Generation und ihre heutige Zivilisation sind zum traditionslosen Nomadismus verurteilt. Außerdem kommen aus den USA gerade, als sich ihr Projekt unter der tatkräftigen Beihilfe des korrupten Lokalpolitikers zu realisieren scheint, schlechte Nachrichten ihr Vermögen betreffend. Ihrem geschiedenen Mann wurde ein Teilerbe zugestanden. Den Sohn hatte sie zuvor verloren, als der in eiskaltem Wasser ertrank. Das Ertrinken - ein Familientrauma der Ranjewskajas: Schon ihre Großmutter hatte einen Sohn im Fluss verloren. Mit flackerndem Licht rufen sich die Verstorbenen in Erinnerung, mit Vogelgezwitscher der verlorene Kirschgarten.
Am Ende gewinnt der Oligarch
Alexander Wolf hat einen mit seiner Kante in den Zuschauerraum ragenden Innenraum gebaut, mit verstaubtem Stuck und schlierigem Wandanstrich. Die Fenster sind erst mit Pappe verblendet, später scheint grelles Tageslicht durch verstaubte Scheiben. Nicht ohne komödiantischen Spaß gibt der stämmige Raphael Rubino hier einen ruppigen und schlitzohrigen Lopachin, Melanie Straub eine schrille junge Dame, der man jedoch weder den alerten Geschäftssinn noch die Ausflüge in die russische Seelenlandschaft so recht abnimmt. Der Autor hat die tragische Komödie deutlich ins komische Sittengemälde verschoben, in dem die von Elzemarieke de Vos, Christoph Hohmann und Alexander Finkenwirth gespielten Lakaien diverse groteske wodkabefeuerte Nummern abziehen dürfen.
Am Ende hat Lopachin gewonnen: Anja und Gajew kehren in die Staaten zurück und er wird das Gelände in ein Fünf-Sterne-Hotel verwandeln. Das Schöne an so einem Remake wie dem "Kirschgarten – Die Rückkehr" ist, dass sich weitere Folgen in die Zukunft fortspinnen lassen. Etwa: Der verarmte Sohn aus zweiter Ehe der Anja kramt seine letzten Dollar zusammen, um sich zur Kirschblütenzeit eine Nacht im russischen Luxushotel zu leisten, in der Gesellschaft von Oligarchen des 21. Jahrhunderts, die von Dienstboten seiner Urgroßmutter abstammen.