Man kann es Chuzpe nennen. Oder Mut. Und wahrscheinlich war es beides: Ende der Dreißigerjahre widersetzte sich Charlie Chaplin einer unumkehrbaren technischen Entwicklung des Kinos: 1927 war der erste Tonfilm, "The Jazz Singer", herausgekommen. Danach wollte das Publikum nur noch eines: Ton, Musik, sprechende Bilder!
Chaplin hingegen entschied sich, weiterhin auf seine pantomimische Kunst zu vertrauen, auf die Physis seiner Gags, auf Timing und Slapstick. 1928 begann er mit den drei Jahre dauernden Dreharbeiten zu dem Film "City Lights – Lichter der Großstadt", einer romantischen und sozialkritischen Liebesgeschichte zwischen einem Obdachlosen und einem blinden Blumenmädchen. Aufopferungsvoll versucht er das Geld für ihre Augenoperation aufzutreiben. Es sollte ein Stummfilm werden – mit Musik und Geräuschen.
Was ist das für eine Sprache?
Am Anfang sieht und hört man sogar Menschen sprechen, fein angezogene Honoratioren bei einer feierlichen Denkmalenthüllung. Aber was ist das für eine Sprache? Quäkende Saxophongeräusche statt Worten – das war Chaplins ironischer Kommentar zur neuen Technik. Und schon in der nächsten Szene wird klar, worauf es ihm wirklich ankam. Vor dem Publikum wird das Tuch des Denkmals weggezogen. Auf dem Sockel der Marmorskulptur liegt friedlich schlafend: "The Tramp", Chaplins Kunstfigur mit Melone, Schnurbärtchen und Frack.
Der aufgeschreckte Obdachlose, die erst verwunderten, dann verächtlichen Blicke der High Society – es beginnt eine Choreographie mit der für Chaplin typischen Verbindung von Wildheit und Präzision. Beim Versuch, vom Denkmal zu klettern, bleibt "The Tramp" am Schwert der Skulptur hängen. Sein Zappeln und Rudern verbindet sich perfekt mit der rasanten Musik. Bisher waren Chaplins Filme in den Kinos von Klavierspielern oder kleinen Orchestern begleitet worden. Bei "Lichter der Großstadt", der am 30. Januar 1931 uraufgeführt wurde, hatte Chaplin, der Regisseur, Autor und Hauptdarsteller seiner Filme, auch erstmals die Möglichkeit selbst zu komponieren. Da er keine musikalische Ausbildung hatte, sang, summte und la-la-la-te er einem erfahrenen Musiker die Melodien vor, die dieser dann in eine Partitur verwandelte.
Rekurs auf Chaplins Kindheit in London
2012 wurde die Musik von "Lichter der Großstadt" neu eingespielt, unter Leitung des amerikanischen Filmkomponisten Carl Davis, einem Spezialisten für die Nachvertonung historischer Filme. Für Davis verweisen die Melodien auf Chaplins Kindheit in London. Schon als Fünfjähriger sang der kleine Charlie vor Publikum:
"Es gibt sentimentale Balladen*, kleine Walzer und Tänze. Chaplin schöpfte aus der Erinnerung an die Zeit, in der er ständig mit Theater- und Varieté-Leuten zusammen war."
Chaplins Spiel zwischen Pantomime und Psychologie
Auch Chaplins Humor bekommt durch die Tonspur eine weitere Dimension. In einer der komischsten Szenen des Films verschluckt der Tramp auf einer Karnevalsparty versehentlich eine Trillerpfeife – und bekommt einen Schluckauf.
Parallel zur Liebesgeschichte zwischen Chaplins Tramp und dem blinden Blumenmädchen erzählt der Film eine weitere Geschichte: Chaplins Vagabund hält einen betrunkenen Millionär vom Selbstmord ab. Der wiederum zeigt sich zutiefst dankbar. Gemeinsam durchzecht man die Nacht in einem Tanzschuppen, doch am nächsten Morgen kann sich der reiche Mann an nichts erinnern und wirft den Vagabunden aus dem Haus. Chaplins Spiel wirkt hier weniger pantomimisch, zum ersten Mal beginnt er, seine Figur leise zu psychologisieren:
"Man sagt mir, die Figur werde realistischer. Ich kann das schwer beurteilen. Manchmal möchte ich ihn mehr zu einem Charakter machen. Dann wieder kommt er mir wie ein Symbol vor. Ich mag 'Lichter der Großstadt', weil da etwas von mir selbst drinsteckt, ohne dass die Figur dadurch verändert wird."
"Lichter der Großstadt" war ein Welterfolg und Charlie Chaplins bis dahin erfolgreichster Film. Chaplins vermeintlicher Anachronismus, das Wagnis, 1931 einen Film ohne Sprache zu drehen, wurde ein Triumph. Und führte zur Neuerfindung des Tramp, der als Stummfilmfigur zu einem Star der Tonfilmära wurde.
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*Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle haben wir eine falsche Übersetzung korrigiert.