Ein Gartentor voller Graffiti an der lauten Hermannstraße im Berliner Stadtbezirk Neukölln. "Friedhof der St. Jacobi-Gemeinde" steht an der bröckelnden Torsäule. Dahinter beginnt ein Begräbnisfeld, das mit 7,5 Hektar so groß ist wie zehn Fußballfelder.
Schon nach wenigen Schritten auf der Friedhofsallee wird es stiller. Rechts und links säumen schlichte Grabsteine den Weg. Manche stehen schief, andere verschwinden hinter hoch gewachsenen Koniferen. In den großen Lücken zwischen den Gräbern wuchert Gras.
"In den letzten Jahren haben wir immer weniger Beisetzungen hier auf dem Friedhof. Der hintere Teil des Friedhofs ist eigentlich schon seit Jahren gänzlich geschlossen für Beisetzungen. Und der vordere Bereich mit der Trauerkapelle, da fanden noch Beisetzungen statt. Die Kapelle als solche ist aber auch nunmehr seit fast zehn Jahren gar nicht mehr in Benutzung."
„Wandel der Trauer- und Begräbniskultur“
Tillmann Wagner ist Geschäftsführer des Evangelischen Friedhofsverbandes Berlin Stadtmitte, zu dem auch St. Jacobi gehört. Der Verband unterhält 46 Friedhöfe. Mehr als die Hälfte der insgesamt 240 Hektar liegt mittlerweile brach. Die Ursache sieht Wagner darin, dass sich die Trauer- und Begräbniskultur wandelt.
"Weg von der Sarg- also der Erdbeisetzung, hin zur Urne, also die Feuerbestattung. Das muss man sich einfach ganz pragmatisch vorstellen: Ein Sarg hat eine Fläche irgendwie in der Größenordnung zwischen 2,40 Meter auf 1,10 Meter - von der Grabfläche her. Und eine Urne 40 mal 40 Zentimeter. Dadurch, dass eigentlich mittlerweile über 90 Prozent Urnenbeisetzungen in Berlin oder zumindest auf unseren evangelischen Friedhöfen stattfinden, haben wir also diesen enormen Flächenüberhang."
Viele Berliner Friedhöfe sind grüne Oasen inmitten der dicht bebauten Großstadt. Trotzdem kann der Friedhofsverband Flächen ohne Gräber nicht einfach zu Parkanlagen umwidmen. Das wäre zu teuer.
"Davon auszugehen, dass Wege unterhalten werden müssen, Bäume gepflegt werden müssen, im Winter die Wegesicherheit gegeben sein muss – und, und, und. Das sind so horrende Kosten, die wir auf der anderen Seite über Beisetzungen nicht eingespielt bekommen. Und das bekommen wir auch nicht über Kirchensteuern refinanziert, weil das einfach nicht vorgegeben ist, dass diese Kirchensteuern dafür verwendet werden dürfen."
Platz für Gemüse und Gräber
Auf der Suche nach neuen Nutzungsmöglichkeiten arbeitet der Friedhofsverband jetzt mit den Prinzessinnengärten zusammen. Der Verein betreibt seit zehn Jahren einen urbanen Gemeinschaftsgarten im quirligen Stadtteil Kreuzberg und war einer der Vorreiter des so genannten Urban Gardening, also des gemeinschaftlichen Gärtnerns in der Stadt.
Auf einer Wiese im mittleren Teil des Friedhofes haben die jungen Gärtner 60 Hochbeete aufgestellt, alle aus rohen Brettern zusammengezimmert und jeweils einen Quadratmeter groß. Einen der Kästen füllen Helfer gerade mit Erde vom Kompost. Aus anderen sprießen bereits Gemüse und Kräuter. Zwei Mal pro Woche pflegen Mitarbeiter und freiwillige Helfer die Beete. Je nach Wetter kommen mal nur fünf, mal mehr als 60 junge und auch ältere Menschen, sagt Robert Shaw, einer der Prinzessinnengärten-Geschäftsführer:
"Das Experiment hier ist ja tatsächlich: Kann ein urbaner Garten auf einem noch existierenden Friedhof mit noch aktiven Gräbern, mit Menschen, die hier Angehörige liegen haben, kann das denn eigentlich funktionieren? Und wenn ja, wäre es ganz toll. Dann wären wir damit Beispiel für auch andere Friedhöfe mit anderen urbanen Gartenprojekten drauf."
Verschiedene Mangold-Arten, alte Erdbeersorten oder Puffbohnen – die Prinzessinnengärtner haben ihre Friedhofsbeete teils als Arche für selten gewordene Sorten angelegt. Das Gemüse wächst in respektvollem Abstand zu den noch bestehenden Gräbern. Der Friedhofsverband hat den neuen Nutzern Flächen zugewiesen, auf denen sich schon seit Jahren keine Grabstellen mehr befinden.
"Wir wollen diesen wunderschönen Naturraum erhalten und nicht komplett ändern. Wir wollen hier nicht den ganzen Friedhof mit Hochbeeten zupflastern. Sondern wir haben die Hochbeete dahin gestellt, wo es möglich ist, weil dort keine Nutzungsrechte mehr sind."
Es geht leise und angemessen zu
An anderer Stelle steuert ein Prinzessinnengärtner einen Rasenmäher über eine Wiese. Der Friedhofsverband hat den Verein auch mit einigen Pflegearbeiten beauftragt. Und die neuen Nutzer helfen auch den wenigen Angehörigen, die hier noch Gräber besuchen:
"Wir holen Ihnen dann gleich ein bisschen Erde. Dann haben sie auch genug." - "So zwanzig Liter" - "Ja, bringen wir gleich." - "Gut, danke!"
Doris Gladosch zum Beispiel, die mit ihrem Mann einmal im Monat das Grab ihrer Eltern besucht. Seit 40 Jahren schon liegt ihr Vater hier, seit 2003 auch ihre Mutter. Die Gladoschs fühlen sich sicherer, seit die Prinzessinnengärtner auf dem Friedhof präsent sind. Das habe Süchtige vertrieben, die noch vor kurzem in der Abgeschiedenheit des Gräberfeldes Drogen konsumierten.
"Die letzten Jahre war es nicht mehr so angenehm. Weil die Junkies da vorne neben der Kapelle sich immer aufgehalten haben. Und da Verstecke hatten um ihr Rauschgift zu verstecken und so weiter."
Gleich hinter dem Friedhofstor haben die Gemeinschaftsgärtner ein kleines Café eröffnet. An den Tischen unterhalten sich leise einige Gäste. Niemand aber nimmt seinen Kaffee mit auf den Friedhof. Leise und dem Ort angemessen geht es auch bei der Pflege der Hochbeete zu.
Vieles sind Arbeiten, die schon immer zum Friedhof gehörten: "Ich wässere. Weil es ja überhaupt nicht regnet, müssen wir jetzt schon reichlich wässern."
Michaela Kirschning hat bereits auf dem lebendigen Prinzessinnengarten in Kreuzberg mitgearbeitet. Dass es auf dem Friedhof deutlich ruhiger zugeht als auf dem überrannten Moritzplatz in der Innenstadt, gefällt ihr gut: "Gerade Natur und Gärtnern hat ja viel eben auch zu tun mit Werden und Vergehen. Also von daher passt das, glaube ich."