Was kennzeichnet die urbane Qualität unserer Städte? An dieser, scheinbar einfachen Frage mühen sich bereits Generationen von Stadtplanern und Architekten ab. Unter Experten besteht allenfalls Konsens darüber, dass viele Städte eine erstaunliche Homogenität und Vielfalt besaßen, bevor sie im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden.
Die über Jahrhunderte gewachsenen Städte boten Strukturen, mit denen sich die Menschen identifizieren konnten. Viele Stadtviertel, die durch Krieg und Zerstörung keine großen Einschnitte erleben mussten, haben bis heute ihre Vitalität bewahrt. Dazu gehören Quartiere wie das Amsterdamer Jordaan, Kopenhagens Christianshavn oder Barcelonas Gràcia, die ihre Beliebtheit unter Einheimischen seit Dekaden halten können.
Sind derartige Quartiers-Strukturen einmal ausgelöscht, lassen sie sich unter gewandelten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen nur äußerst selten wiederherstellen. Das zeigen beispielsweise die rekonstruierten historischen Straßenzüge von Münster, die immer wieder bildhaft als Reminiszenz „an das gute Alte" bei den Münsteraner Tatort-Krimis abgerufen werden. Oder der vom Frankfurter Bankenviertel eingezwängte Römerberg, Inbegriff des „schönen alten" Frankfurt. Und nicht zuletzt der Altstädtische Markt von Warschau, einst von SS Einheiten zu 85 Prozent in seiner Bausubstanz zerstört, 1980 umstrittener Weise zum UNESCO Weltkulturerbe erhoben und heute eine völlige Neukonstruktion im alten Ambiente.
Touristenmeile mit Souvenir- und Wurstbuden
Die jahrzehntelangen und häufig späten Maßnahmen zum Wiederaufbau haben etwas hergestellt, das als begehrte Touristenmeile mit entsprechenden Souvenir- und Wurstbuden funktioniert. Diese Viertel dienen heute als willkommenes City-Branding. Ihre geradezu auratische Attraktivität ist verloren. Gewachsene, vitale Viertel sehen anders aus.
Beispiel: die Frankfurter City um den Römer. Der Architekturkritiker Dieter Bartetzko beschreibt, wie heute viele innerstädtische Viertel aussehen, die ihre wohlhabende und traditionsverliebte Klientel ködern.
"Aus der Bescheidenheit des Wiederaufbaus ist Öde der Wohlhabenheit geworden, das ändern weder Energieeffizienz noch Panoramablick."
Die früher mächtigen Stadtdezernenten, die das Aussehen der deutschen Kommunen in den Jahren des Wiederaufbaus prägten, gehören mittlerweile einer "heroischen" Vergangenheit an. In Zeiten knapper Kassen gibt die Politik zusehends wirksame Steuerungsinstrumente auf und überantwortet städtisch sensible Bereiche der privaten Immobilienindustrie.
Tatsächlich hat sich das politische Machtvakuum im Immobiliensektor in den letzten Jahren verschärft: Beispielsweise gab das Berliner Stadtdezernat ein wichtiges wohnungspolitisches Instrumentarium aus der Hand, vor drei Jahren wurden 20.000 kommunale Wohnungen an eine private Investorengruppe verkauft. Wenig zuvor gingen - ebenfalls in Berlin - bereits 66.000 Wohnungen an einen internationalen Finanzinvestor. Aufwendige Sanierungen zugunsten der Mieter kommen nur selten vor. Meist folgt der Abriss derartiger Wohnungen, danach die Errichtung einer spektakulären Shopping Mall, eines hippen Design-Hotels oder eines gläsernen Office-Tower. Die verantwortlichen Kommunalpolitiker argumentieren, solche Grundstücke mussten verkauft werden, um die maroden städtischen Finanzen aufzubessern.
In anderen städtischen Bereichen ereignet sich Ähnliches: Aufgegebene Industrie-Areale, ehemalige Kasernen, nicht weiter genutzte Grundstücke der Post oder stillgelegte Gleisanlagen der Bahn werden ebenfalls an private Projektentwickler veräußert.
Kommt diese Renaissance der Entwicklung urbaner Qualitäten zugute?
Die Entwicklung folgt einer allgemeinen Trendwende: Einerseits zieht es Dienstleister wie die Post aus logistischen Gründen von der Innenstadt auf die grüne Wiese. Andererseits wandern gut betuchte Bürger, die einst Mobilität und die Abgeschiedenheit der Vororte schätzten, zurück in die Citys. Plötzlich wurden begehrte innerstädtische Areale frei und konnten vergleichsweise günstig erworben werden.
Dabei stellt sich die Frage: Kommt diese Renaissance der Stadt als Wohn- und Lebensort der Entwicklung urbaner Qualitäten zugute? Hat die neue Wertschätzung des Städtischen dazu geführt, dass lebendige Stadtviertel entstanden sind? Eines steht fest: Internationale Immobilienagenten haben nicht geschlafen und im neuen Trend eine Geldquelle entdeckt. Vitale urbane Strukturen haben sich durch deren Investments, die immer nur an der gleichen liquiden Käuferschicht orientiert sind , allerdings nicht eingestellt. Im Gegenteil, wie der Architekturkritiker Dieter Bartetzko in der Frankfurter City feststellt.
"Frankfurts Gentrifizierung führt in architektonische Gleichmacherei und soziale Ghettoisierung. [...] Nach dem Abriss der Degussa-Werke soll nun ‚exklusives' Arbeiten, Wohnen und Konsumieren in ‚hochklassigen' Neubauten gebündelt werden. An den Bauzäunen verheißen die zuständigen Architekten neben attraktiven Porträtfotos ökologische, energetische und konsumptive Paradiese. Bekräftigt werden ihre Versprechen von Animationen leuchtend weißer Kuben und Türmen aus Kunststein und Glas."
Nach diesem städtebaulichen Gentrifizierungs-Muster ließen Projektentwickler allein in den letzten Jahren auf Berliner Brachen und in ungenutzten Fabriken neun "urban villages" entstehen, in denen alles das fehlt, was bis heute ein lebendiges Stadtviertel auszeichnet: Eine Mischung von sozialen und ethnischen Schichten, von jüngeren und älteren Menschen, von reichen und bedürftigen Haushalten. Mangel herrscht in den "urban villages" auch an einer funktionierenden Infrastruktur aus Geschäften, öffentlichem Nahverkehr, kommunalen Serviceleistungen, gut gestalteten Plätzen und dem gleichberechtigten Nebeneinander von alten und neuen Häusern.
Produkte eines rein ökonomischen Kalküls
Es mag paradox erscheinen: Urbane Lebensqualität steht für Projektentwickler ganz oben auf der Werteskala. Sie sprechen von „Lebens"- oder „Erlebniswelten" in ihren Wohnquartieren, die Stadtforscher als „Lifestyle Community" bezeichnen: Bewohner, die sich miteinander verbunden fühlen dürfen durch Lebensstandard und Konsumwerte. Diese Bewohner mögen sich noch so sehr zur Stadt bekennen - die neuen Quartiere sind zumeist nicht im städtischen Umfeld verankert, sie sind Produkte eines rein ökonomischen Kalküls.
Allein am Prenzlauer Berg in Berlin, der vor zehn Jahren als lebendiges Szene-Quartier gerühmt wurde, ging die Veränderung zügig vonstatten: Mittlerweile sind fünf urban villages in diesem Stadtteil fertig gestellt worden.
Kritik an dieser urbanen Entwicklung äußern die Stadtsoziologen Hartmut Häußermann und Walter Siebel in einem Artikel der Zeitschrift Arch+:
"Urbanität kann man nicht bauen. Sie widersetzt sich der zweckvollen Inszenierung und sie entsteht nicht von heute auf morgen. Aber doch hat sie ihre Orte, an denen sie gleichsam materielle Gestalt gewinnt und erlebbar wird. Solche Orte sind oft Ergebnis des Alterns der Stadt, des Zerfalls, der Lücken hinterlässt, in denen urbanes Leben sich breit machen kann."
Solche Orte einer gelebten urbanen Entwicklung werden von den bürgerlichen Schichten bereitwilliger angenommen als die blitzsauberen Einrichtungen der urban villages, die eigentlich nur einer entsprechend finanziell ausgestattenen Klientel offen stehen.
Aus dem Verfall entstanden
In "Les Halles", kein Wohnquartier, aber ein städtisches, subkulturelles Areal mit Flohmärkten, Biergärten, Clubs und Cafés auf dem ehemaligen Deutsche-Bahn-Gelände in Düsseldorf-Derendorf, herrscht bei Sonnenschein emsiges Treiben. Das gleich daran angrenzende Immobilienprojekt "Neue Düsseldorfer Stadtquartiere" wirkt währenddessen geradezu ausgestorben. Hartmut Häußermann und Walter Siebel:
"Die Planung kann solche Prozesse nur zulassen, aber allzu oft verbaut man sie. Räume des Dazwischen und Zonen des Übergangs zuzulassen und Architekturen zu bauen, die altern können, die Lücken, Zerfall und Zweckentfremdung vertragen, ist das Beste, was die Planung für den Erhalt der urbanen Stadt tun kann."
Lebendige Orte wie das Düsseldorfer „Les Halles" sind aus dem Verfall entstanden. Irgendwann sind sie umgenutzt worden, nachdem ihr Schicksal bereits besiegelt schien. „Les Halles" ist überzogen von der Patina des Alterns. Derartige Architekturen entstehen ohne langfristige Planung und Kalkül, aus den Nischen, die ehemalige Betreiber, Projektentwickler und kommunale Planer übrig gelassen haben. Aus den Nischen, die sich die jetzigen Betreiber erstritten haben. 14 Jahre lang wurde in den restaurierten Hallen des ehemaligen Derendorfer Güterbahnhofs getafelt und gefeiert. Doch leider schließen „Les Halles" Ende 2014 für immer ihre Türen. Sie werden abgerissen. Der Eigentümer hat das Grundstück verkauft - es wird eine renditeträchtige Neubebauung als Bürokomplex geben.
Den bezwingenden Charme des Alten samt seiner emotionalen Werte bemerken mittlerweile auch private Entwickler, genannt „developer" und lesen in ihm das Renditeversprechen. So entstand auf dem Bebauungsgrundstück des Gleisareals - inmitten der „Neuen Düsseldorfer Stadtquartiere" - das schlechte Imitat eines gründerzeitlichen Industrie-Klinkerbaus als Neubau, darüber ein auskragender Wolkenbügel, der an den russischen Avantgardisten El Lissitzky erinnert.
"Zutritt nur nach erfolgreicher Vermögenskontrolle"
Solche Zitate, die auf Vorbilder mit emotionalem Wert setzen, nutzt auch ein an das alte Güterbahnhofsgelände direkt angrenzendes urban village. Der Düsseldorfer Immobilienentwickler nennt es großspurig "New York - The Village" und ließ sich beim Entwurf von dem legendären New Yorker Stadtteil Greenwich Village inspirieren, der vor einem halben Jahrhundert Zerfall demonstrierte und mit Beats, Beatniks und Hippies ein Ort lebendiger Stadtkultur war. Der Investor orientierte sich bewusst am Ambiente des Güterbahnhofs und ließ an Altbauten erinnernde Häuser aus glänzenden Klinkern entstehen. Innen verströmen diese Häuser allerdings ein Lebensgefühl von Noblesse.
Der Verweis auf den New Yorker Stadtteil Greenwich Village macht durchaus Sinn. Nicht nur wegen des werbewirksamen nostalgischen oder subkulturellen Gefühls, mit denen interessierte Wohnungssuchende geködert werden sollen. Der Journalist Jordan Mejias beschrieb in der FAZ, wie das echte Greenwich Village, nach Jahrzehnten des Verfalls, heute tatsächlich aussieht. Laut Mejias gibt keinen Grund, einen Nostalgie-Kult ums Village zu betreiben. Village sei heute fest in den Händen von „rabiaten Bauentwicklern", die für das einstige Sehnsuchts-Viertel „Luxuswohnungen" vorgesehen haben:
Der Verweis auf den New Yorker Stadtteil Greenwich Village macht durchaus Sinn. Nicht nur wegen des werbewirksamen nostalgischen oder subkulturellen Gefühls, mit denen interessierte Wohnungssuchende geködert werden sollen. Der Journalist Jordan Mejias beschrieb in der FAZ, wie das echte Greenwich Village, nach Jahrzehnten des Verfalls, heute tatsächlich aussieht. Laut Mejias gibt keinen Grund, einen Nostalgie-Kult ums Village zu betreiben. Village sei heute fest in den Händen von „rabiaten Bauentwicklern", die für das einstige Sehnsuchts-Viertel „Luxuswohnungen" vorgesehen haben:
"Vertraute Fassaden haben sich in die Gegenwart gerettet, aber hinter ihnen ist eine neue Welt entstanden. Zutritt nur nach erfolgreicher Vermögenskontrolle. [...] Im heutigen New York sind Künstler eigentlich nur erwünscht, wenn ihre Namen schon bei Christie's oder Sotheby's aufgerufen werden. Ein Julian Schnabel baut sich und auserwählten Investoren einen schrulligen Wohnpalast, aber die Schnabels von morgen müssen sich bitte woanders eine Bleibe suchen. Bei F. Sott Fitzgerald ist zu lesen, dass die Stimme von Daisy, Gatsbys Traumfrau, nach Geld klingt. Greenwich Village und fast ganz Manhattan klingen jetzt nach Geld."
Nicht nur die Abrisswut auf dem Düsseldorfer Güterbahnhofs-Areal, sondern auch die sündhaft teuren "Vorzeigeobjekte mit Charakter", die - laut Düsseldorfer Immobilienentwickler - ein "neues Wohn- und Loft-Feeling" verbreiten, erinnern an die Gentrifizierungswelle in Greenwich Village.
Die Patina des Alten übt einen nachhaltigen Reiz aus
Für Projektentwickler von urban villages ist Düsseldorf mittlerweile zum Eldorado geworden. Ein Großinvestor, der, nach Frankfurter Vorbild, umfassende Umwidmungsprojekte auch in München, Hamburg, Münster und in der Düsseldorfer Altstadt betreibt, lockt seine begüterte Klientel in die noblen Düsseldorfer Heinrich Heine-Gärten mit der Losung:
"Wer hier einzieht, fühlt sich gleich mit allen Sinnen zu Hause."
Heine konnte sich bestimmt eine angenehmere Wohnung als seine Pariser "Matratzengruft" vorstellen. Ob ihm der neoklassizistische Edelkitsch der Oberkasseler Nobel-Gärten zugesagt hätte, bleibt dahingestellt.
Ob Düsseldorf oder anderswo: Die Patina des Alten übt seit Beginn der Architektur Moderne des 20. Jahrhunderts einen nachhaltigen Reiz aus. Dass Wohnen in historischen Gemäuern in aller Regel wenig komfortabel ist, spielt bei derlei emotionalen Gehalten keine Rolle. Eine auf Alt getrimmte Architektur muss heute die Wünsche und Bedürfnisse einer häufig globalisierten Elite befriedigen: Sie soll die Bühne für modernes städtisches Leben sein.
Hang zum ästhetisch Biederen
Diesem Auftrag fühlt sich Marc Kocher verpflichtet, Architekt des Palais Kolle Belle am Berliner Kollwitzplatz im Stadtviertel Prenzlauer Berg. Architekt und Projektentwickler wollen die Berliner und Pariser Belle Époque wiederauferstehen lassen und mit postmodernem Pastiche eine Stadtelite anlocken, die gern einen Hang zum ästhetisch Biederen zeigt. Dabei blieb die architektonische Ausführung, wie Kocher im Internet verrät, im Rahmen des Erwartbaren:
"Das neue Wohnensemble will die einzigartige Mischung aus Berliner Nonchalance, Ambiente und Pariser Flair, die das Viertel zu einer der begehrtesten Adressen Berlins macht, neu interpretieren. So werden bei der Fassadengestaltung historische Elemente wie Loggien, Erker, französische Balkone, Konsolen und Dekomalereien spielerisch aufgenommen."
Bei dieser sich auf historische Qualität berufenden Architektur, die ganz und gar authentisch wirken will, ist die gesamte Fassade ein hundertprozentiges Imitat. Der Düsseldorfer Entwickler von „Le flair", einem riesigen urban village auf den einstigen Gleisanlagen des Güterbahnhofs, folgt dem gleichen, Erfolg versprechenden Konzept. Für sein Wohnprojekt spannte er sogar renommierte Architekturbüros ein: Herausgekommen ist ein betörendes Ensemble aus historisierendem Kitsch, mit dem altbekannten klassizistischen Vokabular aus Rotunden, Rund- und Halbsäulen, Gesimsen, Portikus, Frontispiz und Pergola. Und fertig ist das Wohlfühl-Ambiente. Dass sich hinter der Fassade standardisierte Wohnungen befinden, ebenfalls ausgeführt von der gehobenen Architektenriege, wird keineswegs verschwiegen.
"Der Neotraditionalismus, der Geschichte als nostalgisches und ästhetisches Konsumangebot verarbeitet, schlägt die Brücke zwischen Akademie und Markt. [...] Hier wird deutlich, dass der hochkulturelle Führungsanspruch des Klassizismus auch mit einer lebensstilorientierten postmodernen Konsumgesellschaft harmonisierbar ist. In den USA kann der Neotraditionalismus zu einer breiten Konsumentenströmung werden, in der Ökologie, Säulenordnung, [...] ‚family values' und [...] Marktorientierung ein weltanschauliches Amalgam bilden."
Vom Glück im Grünen
Vor wenigen Jahrzehnten wurde jungen, besser gestellten Familien in suburbanen Siedlungen Ruhe und Abgeschiedenheit versprochen. Das Glück im Grünen wurde gleichbedeutend mit "Heimat". Das hat sich grundlegend geändert. Schließlich erweist sich die einstige Unterteilung der Stadt in Arbeits-, Freizeit- und Wohngebiete - ehemals das Heilsversprechen der modernen Avantgarde - nicht mehr als sonderlich attraktiv. Auf der Werteskala von Leben und Wohnen erscheint der Faktor Arbeit nicht mehr als Fremdkörper, der nicht ins Lebensumfeld zu integrieren ist. Aufgrund dieser Befunde sprechen Stadtforscher mittlerweile von einer "Renaissance der Städte".
Die Darmstädter Stadtplanerin Christa Reicher schrieb dazu in der Neuen Zürcher Zeitung:
"Innenstädte und zentrumsnahe Stadtquartiere werden attraktiver, gerade für Menschen, die die Vorzüge des dezidiert städtischen Lebens wieder neu entdecken. Diese Rückbesinnung auf die Kernstädte als Wohn- und Lebensmittelpunkt hat vielerlei Gründe; sie ist jedoch meist gekoppelt an Veränderungen in der Arbeitswelt bzw. an die Notwendigkeit, Wohnen und Arbeiten sehr viel effektiver miteinander zu verbinden, als dies monofunktionale Vororte oder die suburbanen Ballungsränder in der Regel erlauben."
Der Berliner Stadtsoziologe Hartmut Häußermann sieht die Entwicklung ähnlich:
"Der Suburbanisierung geht sozusagen das Personal aus. Die Kosten für die tägliche Mobilität zwischen Arbeitsplatz und Wohnung mit dem eigenen PKW steigen, die staatlichen Subventionen werden abgebaut, außerdem wird die Trennung von Arbeiten und Leben, die für die Entwicklung der modernen Stadt so charakteristisch war, tendenziell aufgehoben. [...] Vor diesem Hintergrund entdecken viele die Vorteile der Stadt wieder."
Vermutlich haben die Bauinvestoren, lange vor den Stadtsoziologen, auf den Trendwandel reagiert. Sie nutzten ihr Wissen darüber, dass die „young urban professionals" und „bourgeois bohemians" nicht mit harmoniegesättigten Vorstellungen von einem Leben in kleinteiligen Vorstadtsiedlungen zu ködern sind. Die Ware Wohnung konnte nun ganz anders, mit anderen emotionalen Versprechungen, angeboten werden. Denn in den innerstädtischen Wohnungen der urban villages geht es nicht um Rückzug vor großstädtischer Hektik, sondern um Teilhabe an den Chancen städtischen Lebens. Tim Rieniets, der seit kurzem die Landesinitiative StadtBauKultur in Nordrhein-Westfalen leitet, analysiert Unterschiede und Gemeinsamkeiten der städtischen und der suburbanen Elite:
"Gated Communities - umzäunte, privatwirtschaftliche Nachbarschaften für Besserverdienende - sind ursprünglich ein suburbanes Konzept. Ihr Grundmotiv besteht darin, ihren Bewohnern eine größtmögliche Unabhängigkeit gegenüber der Stadt anzubieten. [...] Darüber hinaus stehen Gated Communities für einen besonderen Lifestyle. Für jeden wird ein passendes Produkt angeboten, zugeschnitten auf Alter, Hobbies, Religion oder sexuelle Orientierung der Bewohner. Der städtische Kontext ist für Gated Communities weitgehend irrelevant. Er dient als Hintergrund, vor dem ein anderes, besseres Wohnumfeld inszeniert wird. Diese ‚Lifestyle Communities' [...] stellen Lebensart als entscheidendes Kaufargument ins Zentrum."
Wohnquartier wird zum Lifestyle-Produkt
Der Düsseldorfer Projektentwickler von "New York - The Village" preist das "neue Wohn-Feeling", der Investor des angrenzenden „Le flair" spricht von "Lebenswelten", die er als Standortvorteil und emotionale Qualität vermarktet:
"Unsere Mission ist es, ganzheitlich, innovativ und kundenorientiert Lebens-, Einkaufs-, Erlebnis-, und Arbeitswelten zu schaffen."
Gated Communities und urban villages haben eines gemeinsam: Die Ware Wohnquartier wird zum Lifestyle-Produkt. Tim Rieniets betont aber auch die gravierenden Unterschiede zwischen beiden Lebensformen: Suburbanes Wohnen in eingehegten Kleinsiedlungen ist tendenziell angstgeleitet, weil es viele Erscheinungsformen von Stadt abwehrt: Räumliche Enge, Verkehrschaos, Lärm, Schmutz, Anonymität, Kriminalität. Die Bewohner der Gated Communities sind auf der Suche nach Schutzzonen außerhalb des vermeintlichen Großstadtchaos. Sie wollen Hort und Heimat unter ihresgleichen. Sie wiederholen das Motiv
gründerzeitlicher Fabrikherren, wie einst Alfred Krupp mit der Villa Hügel, zum herrschaftlichen Palast außerhalb der Stadt: weit ab von den städtischen Niederungen. Anders verhält es sich mit den urban villages, die Rieniets für seinen Reisebericht über die Suche nach dem Berliner Townhouse aufsuchte:
gründerzeitlicher Fabrikherren, wie einst Alfred Krupp mit der Villa Hügel, zum herrschaftlichen Palast außerhalb der Stadt: weit ab von den städtischen Niederungen. Anders verhält es sich mit den urban villages, die Rieniets für seinen Reisebericht über die Suche nach dem Berliner Townhouse aufsuchte:
"Auch für die Eldenaer Höfe in Berlin-Weißensee ist Lifestyle ein entscheidendes Qualitätsmerkmal. Allerdings inszenieren sie diese Qualitäten nicht als Alternative zur Stadt, sondern erheben das städtische Leben selbst zum Lifestyle. Das gilt auch für die Prenzlauer Gärten, die Puccini-Hofgärten und alle innerstädtischen Wohnbauprojekte, die derzeit von kommerziellen Bauträgern errichtet werden. Jedes dieser Projekte preist in seiner Selbstdarstellung die urbanen Erlebnisqualitäten des Quartiers an (‚Ruhiges Wohnen und mitreißendes Leben'). Das städtische Umfeld wird zur Zone urbaner Authentizität erklärt, zum Raum selbstdosierter Großstadterlebnisse."
"Wir haben die Stadt nicht nötig"
Der exquisite Berliner "Marthashof", von einer italienischen Modeunternehmerin entwickelt und entsprechend vertrieben, vermarktet sich ausdrücklich als urban village. Man möchte einerseits "Geborgenheit", "Sicherheit" und "gute Nachbarschaft" vermitteln, andererseits städtische Nähe garantieren. Mit anderen Worten: Die Sehnsucht nach dörflicher Zurückgezogenheit geht einher mit dem Wunsch nach großstädtischer Lebenskultur. Im Grunde signalisieren die Bewohner von "Marthashof" und "Le flair": Wir haben die Stadt nicht nötig. Jederzeit können wir uns in die umhegten und gesicherten Bereiche unserer Community zurückziehen. Auf die kommunalen Serviceleistungen können wir dankend verzichten. Wir haben ja die quartierseigenen Serviceleistungen.
"Es gibt nichts, was wir nicht anbieten,"
meinte die Mitarbeiterin des "Service Point" in Düsseldorfs "Le flair". Vom Wäschewaschen bis hin zu Gärtnerarbeiten - all inclusive, das ist auch die Vermarktungsstrategie der Düsseldorfer Entwickler.
Zu solchen Entwicklungen schreiben der Berliner Architekt Robert Kaltenbrunner und der Tübinger Geograph Olaf Schnur:
"Nicht mehr nur Einzelobjekte oder das eigene Portfolio werden ins unternehmerische Visier genommen, sondern das Quartier, welches eine Art Matrix zwischen den Gebäuden darstellt und manchmal die eigentliche Unique-Selling-Proposition des Wohnungsangebots ausmacht. [...] Die Community, die sich in dem neuen, gemeinsamen Surrounding herausbilden soll, wird als Option für die Zukunft gepriesen und mitvermarktet."
Developer in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt oder München wenden selbstverständlich ein, es gelte den „angespannten Wohnungsmarkt" durch die neuen Wohnprojekte zu entzerren. Ein Problem lösen die elitären urban villages allerdings nicht. Kaltenbrunner und Schnur:
"Allenfalls wird damit ein Luxusproblem gelöst, während die Wohnungsnot in den unteren Preisregionen von derart teuren Projekten praktisch nicht gelöst werden kann."
Knapp sieben Euro unter "Hartz-IV"
Der zunehmend "angespannte Wohnungsmarkt" in westdeutschen Städten bleibt keinem Wohnungssuchenden verborgen. Ob man sich als Düsseldorfer ohne weiteres einen durchschnittlichen Quadratmeterkaufpreis von 3840 Euro in „Le flair" wird leisten können, bleibt dahingestellt. Das Palais Kolle Belle, geplantes Edelquartier im einstmals preiswerten Mietwohnungsmarkt am Prenzlauer Berg, bietet wahrlich keine Alternative: Denn hier kostet der Quadratmeter ab 4290 Euro, alles bereits verkauft. Spielend getoppt wird der Quadratmeter-Preis von den Düsseldorfer Heinrich Heine-Gärten: Hier gelten 4850 Euro als Einstiegspreis. Der Frankfurter Architekturkritiker Dieter Bartetzko:
"Der sprichwörtliche Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, war das ‚Palais an der Oper', 1820 von Leo von Klenze errichtet, nun totalsaniert und mit Restaurants, Büros sowie Luxuswohnungen im fünften und sechsten Geschoß ausgestattet. Für 300 Millionen Euro soll die Immobilie an russische Investoren veräußert worden sein. 4604 Euro beträgt die Miete für eine Dreizimmerwohnung von 87 Quadratmetern. [...] Tiefgarage für 375 Euro, die knapp sieben Euro unter dem Monatsgeld eines Hartz-IV-Empfängers liegen."
Hartmut Häußermann hält fest, dass Stadterneuerung immer seltener politisch gesteuert werde. Angesichts des zunehmenden Einflusses der Immobilienindustrie auf den Städtebau, fortschreitender Preisexzesse und sozialer Abschottung der Gated Communities wäre es aber unerlässlich, über wirksame Steuerungsinstrumente nachzudenken.
Hier kommt das Münchner Modell ins Spiel: Es regelt die innerstädtische Abgabe von Bauland an mittelständische Haushalte zu Preisen weit unterhalb des üblichen Marktwerts. Das Modell unterstützt eine sozial gestaffelte Bildung von Wohneigentum. Außerdem erschwert es Immobilienspekulation.
Problemviertel aus dem Ghetto-Dasein befreien
Es gibt auch andere Maßnahmen, um der sozialen Segregation in den Städten entgegenzuwirken. Ein europäisches Beispiel liefert Barcelona. Dort versucht die Stadtverwaltung, den Wohnungsmarkt zugunsten unterer sozialer Schichten zu steuern. Seit 1927 existiert in der katalanischen Metropole das Kommunale Wohnungsdezernat Patronat Municipal de l'Habitatge, darum bemüht, eine gerechtere Verteilung der Wohnungen zu erzielen. Zwar entstanden nach den Olympischen Spielen von 1992 in den küstennahen Neubaugebieten ebenfalls einige Gated Communities und urban villages, die das Wohnumfeld veröden ließen. Allerdings konnte die Stadtregierung bislang weitere Gentrifizierungen vermeiden.
Des Weiteren verhinderte das Wohnungsdezernat, dass sozial Schwächere nicht mehr am Wohnungsmarkt partizipieren konnten. Im nordwestlichen Stadtviertel Bon Pastor, das kein Barcelona-Tourist freiwillig betreten würde, verfolgt die Behörde seit einigen Jahren - trotz der Wirtschaftskrise - eine umfassende Stadterneuerung. Nach Abschluss der städtebaulichen Reparatur werden zwischen 2006 und 2018 über 700 neue Wohnungen entstanden sein - nach energiesparenden und nachhaltigen Kriterien. Dabei wurden die Anwohner dauerhaft in den Planungsprozess einbezogen, bei Verhandlungen über Gestalt und Preise der Wohnungen, bei Verhandlungen über neue Grünanlagen und die Verbesserung des öffentlichen Raums. Das oberste Ziel dabei war, das Problemviertel aus dem Ghetto-Dasein befreien zu können und es besser in die gesamtstädtische Struktur zu integrieren.
Der Soziologe Hartmut Häußermann nennt als Ziel einer sozial ausgeglichenen Stadtreparatur, die Ghettoisierung von arm und reich innerhalb und außerhalb der Stadtgrenzen zu überwinden. Allerdings warnt er davor, die heutigen Zustände der Luxussanierung und Gentrifizierung könnten auch in Deutschland noch zunehmen:
"Eine anhaltende Renaissance der Stadt würde - den Vorbildern London und Paris folgend - zu einer flächendeckenden Gentrifizierung der innerstädtischen Wohngebiete führen, und damit zu einer Vertreibung der Haushalte mit niedrigeren Einkommen an die Stadtränder."
Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich warnte Mitte der sechziger Jahre vor jeglicher stadtplanerischer Ghettobildung. Ihn zog es nicht ins beschauliche Eigenheim im Grünen, er entschied sich für ein Hochhausappartment in Frankfurt Höchst. Das war seinerzeit ein wenig standesgemäßes, mutiges Bekenntnis zur Stadt.
Mitscherlichs Manifest Die Unwirtlichkeit unserer Städte, das er damals schrieb, ist auch ein leidenschaftliches Plädoyer für eine verantwortliche Stadtpolitik. Sein Buch wurde zum Weckruf, der bis heute widerhallt:
"Die mangelhafte Stadtplanung macht den Zerfall des öffentlichen Bewusstseins mit, wenn sie allein kommerzielle Interessen berücksichtigt. [...] Das eigentlich utopische Element einer ‚erfolgreichen Stadtplanung' ist in der Herstellung einer neuen Verpflichtung der Stadt gegenüber zu sehen. [...] Denn die Menschheit, wie sie geworden ist, hat in den Städten ihre Wurzeln. Die Stadt ist der Geburtsort dessen, was wir bürgerliche Freiheit nennen, dieses Lebensgefühls, das sich dumpfen Herrschaftsgewalten widersetzte."