"Das Sterben der Innenstädte ist in vollem Gange". Die Warnung kennen wir doch? Seit Alexander Mitscherlichs Klage über die Unwirtlichkeit, die der Bauwirtschaftsfunktionalismus der sechziger Jahre in die Städte gebracht hatte, gab es Niedergänge und Renaissancen städtischen Lebens. Man könnte meinen, das Sterben der Innenstädte sei immerzu in vollem Gange: Weil zu hoch und zu groß gebaut wird. Weil der Autoverkehr alles zerstört oder weil es zu viel Fußgängerzonen gibt. Weil die großen Kaufhäuser schließen. Weil es zu viele Malls auf der grünen Wiese gibt oder weil es zu viele Malls in der Stadt gibt. Weil es Discounter gibt oder weil der Internethandel alles kaputt macht. Und jetzt, weil es Corona gibt. Leider ist der dringende Appell der drei Oberbürgermeister aus Baden-Württemberg nicht übertrieben: Die Vorstellung von Straßen, in denen nach einem langen Lockdown aufgegebene Geschäfte eine unerträglich große Zahl abgerutschter Existenzen vor Augen führen, macht zu Recht Angst vor den Folgen.
Aber um welche Art Stadt handelt es sich eigentlich, wenn von ihrem Niedergang geredet wird? Dem Einzelhandel, diesem wichtigen Pfeiler urbanen Lebens, ist es ja nicht erst Corona an den Kragen gegangen. Dass der durchschlagende Erfolg der Internet-Anbieter da schon vorher einiges - im wahrsten Sinn des Wortes - erledigt hat, daran ist kaum zu deuteln. Widerstand ist zwecklos: Auch wer sich den, sagen wir: Vorhangstoff lieber offline aussuchen würde, bestellt schließlich doch, weil das angepeilte Fachgeschäft inzwischen aufgegeben hat oder im Würgegriff hoher Mieten abgewandert ist ins Gewerbegebiet, wo es nicht so urban ist. In die Räumlichkeiten des Fachgeschäfts ist, Überraschung, eine Boutique eingezogen. Die Eisenwarenhandlung, die noch Nägel einzeln verkaufte, ist schon vor langer Zeit einem Café gewichen. Und so stellen sich die Viertel der Großstädte heute dar: Entweder gentrifiziert, mit einem überdurchschnittlich hohen Aufkommen an Schmuckläden, Boutiquen, Galerien und Szene-Cafés, oder die nicht beziehungsweise noch nicht gentrifizierten Viertel, quirlig, mit einem fast ebenso langweilig hohen Aufkommen an Ein-Euro-Läden und Spielhallen. Und oft dazwischen: die Avantgarde der Wertsteigerung, die Cafés und Restaurants der digitalen Bohème, die noch auf niedrige Mieten angewiesen ist.
Vor Corona, als Reisen noch normal war, konnte man, etwa in südeuropäischen Städten, urbanes Leben anders erfahren: als brummende, wenn auch "ärmere" - Vielfalt, mit hochdifferenziertem Kleingewerbe, handwerklichen Betrieben, Gaststätten aller Art. Und irgendwie erscheint in diesem lässigen Trubel die heimische städtische Szenerie reichlich verarmt mit ihren Nagelstudios und der oft überbordenden Gastronomie, dieser - leider trügerischen - Retterin urbanen Lebensgefühls.
Chancen in der Krise
Dienstleistung und Konsum allein reichen nicht aus, um das zu realisieren, was städtisches Leben ausmacht: soziale und funktionale Mischung. Dazu kommen heute weitere zeitgemäße Forderungen: nach der grünen Stadt. Und nach der gerechten Stadt. Zu diesen Zielen hat sich die Idee von der "produktiven Stadt" gesellt - zum Beispiel in der im letzten November verabschiedeten "Neue Leipzig-Charta" zur Stadtentwicklung. Die strikte Trennung von Arbeit und Wohnen, die das Baugeschehen der Nachkriegszeit bestimmte, war noch die Folge verheerender Wohnverhältnisse im 19. Jahrhundert, als der Rauch des industriellen Fortschritts giftig über den Städten lag. Heute gibt es andere Möglichkeiten, produzierendes Gewerbe wieder in die Stadt zu bringen, und damit Arbeitsplätze, kürzere Wege, mehr soziale Begegnung und Vielfalt - jedenfalls dann, wenn es um mehr geht als um Nischen für Szene-Produzenten.
Krise ist immer auch Chance, heißt es ja. Durchmischung mit Gewerbe, aber auch mit nicht-kommerziellen Nutzungen oder locker definierten Freiräumen - vielleicht liegt die Chance der Corona-Krise im Zwang zum Experiment, um der Stadt neue Wege zu öffnen und die Richtung vorzugeben für das, was irgendwann kommen wird: ihre nächste Renaissance.