"Deutsche Hörer!", unter diesem Titel richtete sich Literaturnobelpreisträger Thomas Mann zwischen 1940 und 1945 aus seinem kalifornischen Exil monatlich via BBC an Radiohörer in NS-Deutschland und rief zum Widerstand gegen das Nazi-Regime, die, so Mann, "Diktatur des Gesindels", und den "blutigen Komödianten" Hitler.
Mit der Reihe "55 Voices for Democracy" knüpfen das Thomas Mann House in Los Angeles, "Süddeutsche Zeitung, "Los Angeles Review of Books" und Deutschlandfunk nun an Manns Ansprachen an: 55 renommierte intellektuelle nehmen in monatlicher Folge an Thomas Manns einstigem Schreibtisch in Pacific Palisades, Kalifornien, Platz, um eine Rede über Demokratie zu halten.
IMit der Reihe "55 Voices for Democracy" knüpfen das Thomas Mann House in Los Angeles, "Süddeutsche Zeitung, "Los Angeles Review of Books" und Deutschlandfunk nun an Manns Ansprachen an: 55 renommierte intellektuelle nehmen in monatlicher Folge an Thomas Manns einstigem Schreibtisch in Pacific Palisades, Kalifornien, Platz, um eine Rede über Demokratie zu halten. Den Beitrag von Ananya Roy vom November 2019 finden Sie hier als Video und zum Nachlesen in deutscher Übersetzung und englischem Original.
Wir leben in Zeiten krasser sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit. Auf der ganzen Welt häufen Reiche und Mächtige ihre Vermögen an und tragen zur Ausbeutung und Verarmung marginalisierter Gesellschaftsgruppen bei. Diese Ungleichheit ist vor allem in den Städten zu sehen. In Los Angeles werden unweit des Thomas Mann Hauses und der University of California Häuser im Wert von 500 Millionen Dollar in die Hügel von Bel Air gebaut, während Tausende obdachlose Menschen auf der Straße leben und sterben. Diese Ungleichheit ist aber nicht bloß ein Missverhältnis des Einkommens. Sie ist eine anhaltende Folge der Rassentrennung, ein Ausdruck der "color line".
"Das Problem des 20. Jahrhunderts", schrieb der Soziologe W. E. B. Du Bois, "ist das Problem der color line." Seine Aussage begleitete eine Reihe außergewöhnlicher Infografiken, die er und seine Studierenden für die Pariser Weltausstellung 1900 erstellt hatten. Um die orientalistischen Zurschaustellungen zu kritisieren, von denen solche Kolonialmessen gewöhnlich dominiert wurden, zeigte Du Bois detaillierte Statistiken und Beispiele für die Unterdrückung der Schwarzen in den USA. Anhand der Routen des afrikanischen Sklavenhandels, die der Historiker Paul Gilroy später als "Schwarzen Atlantik" bezeichnen würde, ordnete Du Bois sie in ein globales System des rassischen Kapitalismus ein.
Es ist kein besonderes Wagnis zu behaupten, dass das Problem des 21. Jahrhunderts das fortwährende Problem der color line ist. Wir leben in der Ära eines neu erstarkten Rechtsnationalismus. Von Indien bis Brasilien, von Europa bis in die USA, ist der Ausländerhass zum festen Bestandteil der Strukturlogik von Staatsmacht und Regierungskunst geworden.
Demokratie muss stets neu geschaffen und gefordert werden
Besonders sichtbar ist die color line in ihren gewaltsamen Formen: der Tötung von Schwarzen, den Lynchmorden an Muslimen, dem Einsperren von Menschen in Käfigen - und vor allem an den militarisierten Grenzen entlang Wüste und Meer, die zu geisterhaft-grässlichen Landschaften des Todes geworden sind. Diese tödlichen Orte - Übergänge, die mutwillig in Todeszonen verwandelt worden sind - bewachen heute die Festung Europa und das amerikanische Homeland. Die color line ist somit nicht nur eine Landkarte der Segregation und des Ausschließens, sondern auch eine Stätte des Todes, eine Negierung der Menschlichkeit. Oder, wie die Lateinamerikaforscherin Lisa Marie Cacho es nennt: eine "racialized rightlessness".
All dem zum Trotz möchte ich anlässlich des Gedenkens an Manns Radioansprachen ein Plädoyer für radikale Demokratie halten. Während einer Vortragsreise durch die USA sprach Mann 1938 nicht nur vom Faschismus, sondern auch vom "zukünftigen Sieg der Demokratie". In jenen dunklen Zeiten schwebte Mann "die soziale Erneuerung der Demokratie" vor. Er glaubte, dass "Europa, die Welt reif für den Gedanken einer umfassenden Reform der Besitzordnung und der Güterverteilung" seien. In ebenjenem historischen Moment imaginierte auch Du Bois die Rekonstruktion der amerikanischen Demokratie, indem er 1935 den langen Kampf gegen die Sklaverei nachzeichnete und den Traum von emanzipierten Arbeitsverhältnissen und der Umverteilung von Eigentum und Einkommen in den Vordergrund rückte. Diese Träume waren, wie der Historiker Robin D. G. Kelley sie nennt, "Freiheitsträume".
Ich behaupte, dass unsere Zeit nicht nur eine der Ausbeutung und Exklusion sowie der Extraktion von Arbeitskraft ist, sondern auch eine der Freiheitsträume. In den USA hat das Trump-Regime die Idee einer weißen Vorherrschaft gefüttert und institutionalisiert, wodurch gleichzeitig eine solide nationale Diskussion über Reparationszahlungen an Schwarze entstanden ist. Wie Kelley in seinem Buch "Freedom Dreams" schreibt, geht es bei der Frage um Reparationen grundlegend um schwarze Selbstbestimmung, wozu auch autonome Institutionen und Räume gehören.
Während in den USA die neoliberale Umstrukturierung des Hochschulsystems zu einer gigantischen studentischen Verschuldung von 1,5 Billionen Dollar geführt hat, ist gleichzeitig das politische Interesse gestiegen, studentische Schulden zu annullieren und die Hochschulbildung allen zugänglich zu machen. Und während die systematischen Ausquartierungen von Mietern in die Höhe schießt, wird auch der Ruf nach einem ambitionierten Plan für den sozialen Wohnungsbau innerhalb des Green New Deal sowie der Einführung einer nationalen Mietpreisbremse laut.
Resozialisierung der Lebenswelten
Bei diesen Maßnahmen geht es um Umverteilung und Dekommodifizierung. Auf dem Spiel steht die Resozialisierung der zentralen Infrastrukturen unserer Lebenswelten, etwa gerechtes Wohnen und Bildung. Gerade in Europa ist das derzeit zu sehen, wenn Bewegungen von Barcelona bis Berlin für Mieterrechte streiten und die Enteignung und Verstaatlichung des Eigentums globaler Banken und Immobilienkonglomerate fordern. Thomas Mann war seinerzeit daran interessiert, dem Demokratiebegriff eine allgemeine Bedeutung zu geben, eine viel allgemeinere als jene, die der politische Aspekt des Wortes suggeriere. Ich bezeichne diese allgemeinere Bedeutung als radikale Demokratie - und der Schlüssel zu ihr sind die Prozesse der Resozialisierung.
Radikale Demokratie wird angetrieben von rigorosen intellektuellen Visionen und globalen Theorien. Meine Theorie der radikalen Demokratie beruht auf zwei miteinander verwandten Ideen. Die erste besagt, dass die Freiheitsträume, die die Rekonstruktion der Demokratie animieren, nicht von elitären Institutionen oder staatlicher Macht ausgehen. Sie entstehen vielmehr in Kollektivhandlungen, die aus dem Umstand gemeinsamer Prekarität hervorgehen - in Stätten "organisierter Verlassenheit", einer Formulierung, die ich mir von der abolitionistischen Forscherin Ruth Wilson Gilmore leihe, um auf "verlassene Orte" hinzuweisen. Der "Demos" der radikalen Demokratie ist nicht die Wählerschaft, sind nicht die politischen Parteien, Denkfabriken, Stiftungen oder Universitäten. Der Demos der radikalen Demokratie besteht aus Mietervereinen, Schuldnerverbänden, schwarzen Zukunftsbewegungen, Bündnissen für Tagelöhner und Hausangestellte, Organisationen für die Rechte von Immigranten und Asylsuchenden, Koalitionen aus Ausquartierten und Landlosen, Netzwerken des indigenen Widerstands. Demokratie ist keine Garantie. Freiheit ist kein Geschenk. Gerechtigkeit ist keine Erbschaft. Radikale Demokratie muss in jedem historischen Moment, inklusive dem unseren, aufs Neue gefordert und geschaffen werden.
Neue Wertschätzung von subalternem unterdrücktem Wissen
Die zweite Idee lässt sich auf die aristokratische Eigenschaft der Demokratie zurückführen, mit der Thomas Mann in seinem Essay "Vom zukünftigen Sieg der Demokratie" rang, als er schrieb, dass in einer Demokratie, die das intellektuelle Leben nicht respektiert und sich nicht von ihm leiten lässt, die Demagogie freies Spiel habe. Lange haben wir angenommen, dass dieses intellektuelle Leben etablierten und elitären Institutionen entspringt. Die radikale Demokratie, von der ich träume und deren Entstehen ich gerade überall beobachte, wird angetrieben von rigorosen intellektuellen Visionen und globalen Theorien. Oft entstehen sie an vergessenen Orten. Anspruchsvolle Konzeptionen von Eigentum und Miete, von Schulden und Spekulation, von Anlagegütern und Sozialhilfe, von Einkommen und Profit wachsen heute innerhalb von gesellschaftlichen Bewegungen. Robuste Denkgerüste für Zugehörigkeit, Recht und Zuflucht stammen heute von Hip-Hop-Musikern, inhaftierten Künstlern und Grenzaktivistinnen. Radikale Demokratie benötigt daher nicht nur eine Resozialisierung der Infrastrukturen unserer Lebenswelten, sondern auch eine neue Wertschätzung von subalternem und unterdrücktem Wissen.
In der Geschichte der Moderne bestand die liberale Demokratie lange aus dem Bestreben, den rassischen Kapitalismus aufrecht zu erhalten, indem nur seine gröbsten räuberischen Eigenheiten abgemildert wurden. Die radikale Demokratie findet ihre Inspiration hingegen in einer Frage des Philosophen Walter Mignolo: "Warum sollten wir den Kapitalismus retten wollen und nicht die Menschen?"
Aus dem Englischen von Cornelius Dieckmann
Ananya Roys Rede im Original:
We live in an era of stark social and income inequality. Across the world, the hoarding of wealth by the rich and powerful stands rests on the exploitation and impoverishment of marginalized communities. Such inequality is visibly manifested in our cities. Here, in the City of Angels, as homes worth $500 million are built in the hills of Bel Air, not far from the Thomas Mann House and the University of California, Los Angeles, so thousands of unhoused men and women live and die on the streets. In the United States, as well as in many other parts of the world, such inequality is not just a disparity of income; it is an expression of the color-line.
"The problem of the twentieth century," wrote sociologist W.E.B. Du Bois, "is the problem of the color line." The statement accompanied an extraordinary set of infographics that he and his graduate students put together for an exhibition at the 1900 Exposition Universelle of Paris. Puncturing the Orientalist displays that typically dominated these colonial fairs, Du Bois presented detailed statistics and displays of Black subordination in the United States and situated it a world-system of racial capitalism, specifically the routes of the African slave trade that constituted what Paul Gilroy was to call the Black Atlantic.
It is no stretch to argue that the problem of the twenty-first century is the enduring problem of the color line. We live in an era of resurgent right-wing nationalism. From India to Brazil, Europe to the United States, xenophobia is a structuring logic of state power and statecraft. The color line is evident in violent embodiments: Black death, Muslim lynchings, human caging, and most of all at the militarized borders of desert and sea that are ghostly and ghastly deathscapes. These deadly places, crossings that have been deliberately turned into places of death, today guard Fortress Europe and the American homeland. The color line then is not just a map of segregation and exclusion, it is a site of death, a negation of personhood, or what Lisa Marie Cacho has called "racialized rightlessness."
resocialization as key to radical democracy
And yet today, as part of this important commemoration of Mann’s radio addresses, here at the Thomas Mann House in the Pacific Palisades hillsides of Los Angeles, I wish to make a case for radical democracy. In 1938, in a lecture tour across America, Mann spoke not only of fascism but also of "the coming victory of democracy." Amidst dark times, Mann imagines "the social renewal of democracy, arguing that "Europe and the world are ripe for the consideration of an inclusive reform of the regulation of natural resources, and the redistribution of wealth." Writing at the same historical conjuncture, Du Bois was to similarly imagine the reconstruction of American democracy by charting the long struggle for abolitionism and foregrounding the enduring dreams of emancipated labor and redistributed property and income. These are, as Robin D.G. Kelley has noted, "freedom dreams."
It is my contention that our present era is a renewal not only of extraction, exploitation, and exclusion, but also of freedom dreams. In the United States, as the Trump regime has nurtured and institutionalized white supremacy, so there is a robust national discussion about Black reparations. As Kelley argues in Freedom Dreams, the question of reparations is fundamentally about Black self-determination, including autonomous institutions and spaces. In the United States, as the neoliberal restructuring of higher education has led to skyrocketing student debt, $1.5 trillion of debt, so there is growing political interest in the cancellation of student debt and in a new set of commitments to college for all. In the United States, as the systematic unhousing of people continues to swell, so there is the call for a bold and ambitious public housing program, as part of the Green New Deal, as well as for the implementation of national rent control.
These are imaginations and practices of redistribution and decommodification. At stake is the resocialization of the key infrastructures of life-making: such as housing and education. This is vividly apparent in Europe today, where housing justice movements in cities from Barcelona to Berlin, are insisting on the expropriation and socialization of property owned by global banks and large real-estate conglomerates. Mann was interested "to give the word democracy a broad meaning, a much broader one than the merely political sense of this word would suggest." I call that broader meaning radical democracy, and key to radical democracy are processes of resocialization.
the aristocratic nature of democracy
But my theorization of radical democracy also rests on two related points. First, the freedom dreams that animate today’s reconstruction of democracy are not advanced by elite institutions or state power. Instead, they emerge from grassroots organizing and poor people’s movements. They emerge from collective action forged in the shared condition of precarity. They emerge from sites of "organized abandonment," a phrase I borrow from abolitionist scholar, Ruth Wilson Gilmore to draw attention to "forgotten places." The demos of radical democracy is not the voting electorate or political parties or think tanks or foundations or even universities. The demos of radical democracy is made up of tenant unions, debt collectives, movements for Black futures, associations of day laborers and domestic workers, immigrant rights and asylum rights organizations, coalitions of the unhoused and landless, networks of Indigenous resistance. Democracy is not assured. Freedom is not a gift. Justice is not an inheritance. Radical democracy is demanded and created anew at each historical conjuncture, including this one.
Second, in The Coming Victory of Democracy, Mann wrestled with the aristocratic nature of democracy. He argued: "In a democracy which does not respect the intellectual life, and is not guided by it, demagogy has free play." For a long time, we have assumed that this intellectual life comes from our established and elite institutions. The radical democracy of which I dream, and which I see in the making all around me, is driven by rigorous intellectual visions and global theorizations. And these come often from forgotten places. Today, sophisticated understandings of property and rent, of debt and speculation, of assets and welfare, of income and profit, come from social movements. Today, rich frameworks of citizenship and belonging, of rights and refuge, come from hip-hop musicians, incarcerated artists, and border activists. Radical democracy thus requires not only a resocialization of the infrastructures of life-making but also a revalorization of subaltern and subordinated knowledges.
For much of modern history, liberal democracy has been the effort to keep racial capitalism alive by mildly remedying its worst predations. Radical democracy is inspired by this question from decolonial philosopher, Walter Mignolo: "Why would you want to save capitalism and not save human beings?"