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Urs WIdmer
Hohler: Ein starker Erzähler

Urs Widmer gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Nun ist der Romancier im Alter von 75 Jahren in Zürich gestorben. Widmer sei ein starker Erzähler gewesen, der die Wirklichkeit als Kulisse für seine Geschichten umgebaut habe, erinnert sich der Schriftstellerkollege Franz Hohler im Deutschlandfunk.

Franz Hohler im Gespräch mit Kathrin Hondl |
    Urs Widmer, Schweizer Schriftsteller
    Urs Widmer ist tot. (dpa / picture alliance / Erwin Elsner)
    Kathrin Hondl: Zuerst aber erinnern wir an Urs Widmer. Mit 75 ist der Schweizer Schriftsteller gestern in Zürich gestorben – Urs Widmer, einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart und - um es mit dem Wort von Marcel Reich-Ranicki zu sagen: ein "Weltliterat". Ein außergewöhnlich vielseitiger außerdem: Urs Widmers Werk umfasst Erzählungen, Romane und autobiografische Texte, aber auch Theaterstücke und Hörspiele. Am Telefon begrüße ich jetzt einen Schweizer Kollegen und Freund von Urs Widmer – den Schriftsteller und Kabarettisten Franz Hohler. Guten Abend, Herr Hohler.
    Franz Hohler: Ja guten Abend, Frau Hondl!
    Hondl: Sie, Franz Hohler, seien ein "realistischer Fantast oder ein fantasiebegabter Realist", das hat Urs Widmer mal über Sie gesagt. Wie würden Sie denn umgekehrt Urs Widmer charakterisieren?
    Hohler: Ja eigentlich genau so. Ich denke, das war auch ein kleines Stück Verwandtschaft wohl zwischen uns. Er hat immer die Realität in Fantasie verwandelt. Er hat die Wirklichkeit umgebaut und als Kulisse für seine Geschichten zurecht gerückt, die dann oft ins Surreale übergingen und uns ein bisschen den Boden unter den Füßen weggezogen haben.
    Hondl: Urs Widmer war ja auch ein ungemein vielseitiger Schriftsteller. Ich habe es am Anfang schon angedeutet: Romancier, Dramatiker, Hörspielautor. Wo war er denn Ihrer Ansicht nach am stärksten?
    Hohler: Am stärksten war er schon als Erzähler in meinen Augen. Bücher wie "Der blaue Siphon" oder "Der Geliebte der Mutter" oder "Das Buch vom Vater" oder "Das Paradies des Vergessens", das sind sehr starke Bücher, die immer von der Wirklichkeit ausgehen und dann die Wirklichkeit langsam verwandeln. Er schreibt ja dann das auch in seinem letzten großen Buch "Reise an den Rand des Universums", auch das ein erzählerisches Meisterstück, seine Autobiografie eigentlich. Dort schreibt er zum Beispiel, den Tod des Vaters, den hätte er sicher schon ein dutzend Mal beschrieben, eben in verschiedenen Varianten oder in verschiedenen leicht verfremdeten Formen, die immer wieder zu einer Geschichte wurden.
    Hondl: Das Autobiografische war wichtig für ihn, für seine Werke, oder hat sich all sein Schreiben aus seinem Leben genährt, oder wie würden Sie das sagen?
    Hohler: Das Autobiografische war sehr wichtig. Ich glaube, das war der Ausgangspunkt für ihn, und er hat ja auch sehr viele Alltagsschilderungen in seiner Literatur, wenn ich an ein Buch denke wie "Vom Fenster meines Hauses aus". Da geht es in erster Linie um Wahrnehmung dessen, was man sieht, wenn man zum Fenster seines Hauses hinaussieht, und das war eigentlich die Grundlage für diese Verwandlungen der Wirklichkeit in Fantasie.
    Hondl: Sein Schriftsteller-Werden hat er selbst beschrieben, Sie haben es gerade auch schon gesagt, in dem Buch "Reise an den Rand des Universums" – die Autobiografie seiner ersten 30 Jahre. Die Neue Zürcher Zeitung spricht da heute in einem Nachruf von einer "Geburt des Schriftstellers aus dem Geist der Komik und Tragik". Passt das Ihrer Ansicht nach – war Urs Widmer ein tragischer Komiker?
    Hohler: Das wäre ihm selbst wahrscheinlich etwas zu pathetisch gewesen, denke ich. Aber seine Komik war nie ohne Schatten und ich denke, das ist auch das Wesen der starken Komik, dass dabei ein Schatten mitläuft.
    Hondl: Ich habe heute etwas Überraschendes über ihn gelesen, über Urs Widmer, nämlich dass er mal gesagt hat, der Klang der Schreibmaschine sei das Urgeräusch seines Lebens, und, dass er der alten Schreibmaschine auch im Computer-Zeitalter immer treu geblieben wäre. Das hat mich wie gesagt überrascht, weil es ja schon ein sehr nostalgisches Bekenntnis ist. In seinen Texten war er ja durchaus auf der Höhe der Zeit - mit "Top Dogs", dem Theaterstück über den Absturz von Topmanagern zum Beispiel, oder – Stichwort Computer – den Aufruf internationaler Autoren gegen digitale Überwachung neulich. Den hatte er ja auch unterschrieben. Inwiefern war denn Urs Widmer auch so was wie ein écrivain engagé – ein politischer Schriftsteller?
    Hohler: Das war er durchaus. Er hat sich an vielen Orten engagiert, wo ich mich auch engagiert habe, und hat sich eingesetzt für Anliegen, für die Anliegen der Menschenrechte, aber auch für Anliegen der Autoren. Und was Sie am Anfang gesagt haben über seine Schreibmaschine, das hat mich auch immer amüsiert bei ihm und er kam mir vor wie ein bestandener Handwerker, der sich von seinen Geräten und von seinen Werkzeugen nicht trennen kann, weil er weiß, dass sie ihm immer gute Dienste geleistet haben.
    Hondl: Geräte, mit denen der Handwerker große Kunst machen konnte. Vielen Dank – das war der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler über den Schweizer Schriftsteller Urs Widmer, der gestern mit 75 und nach einer schweren Krankheit in Zürich gestorben ist.