Schätzungsweise 50.000 Männer und Frauen leben in Deutschland auf der Straße, mehr als 600.000 sind wohnungslos. Der Weg zurück in eine eigene Wohnung scheint für viele unmöglich. Dabei ist Wohnen ein Menschenrecht. Und auch aus staatlicher Sicht ist es eigentlich wünschenswert, wenn Menschen in bezahlbaren Wohnraum kommen statt in teuren Wohnheimplätzen untergebracht werden zu müssen.
Wie verlieren Menschen ihre Wohnungen und wie könnten Strategien zur Prävention von Obdachlosigkeit aussehen?
Inhalt
- Was ist der Unterschied zwischen Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit?
- Warum verlieren Menschen ihre Wohnung?
- Wie viele Wohnungslose gibt es in Deutschland?
- Welche Gruppen sind stärker von Wohnungslosigkeit bedroht?
- Warum steigt die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland?
- Wer ist für Obdachlose zuständig, was tut der Staat?
Was ist der Unterschied zwischen Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit?
Laut der Definition des Wohnungslosenberichterstattungsgesetzes (WoBerichtsG) sind Menschen wohnungslos, wenn die Nutzung einer Wohnung weder durch einen Mietvertrag oder einen Pachtvertrag noch durch ein anderes Recht abgesichert ist oder eine Wohnung einer Person aus sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht. Kurz gesagt: Ein Wohnungsloser hat keine Möglichkeit, in eigenem Wohnraum zu schlafen.
Als wohnungslos gilt aber auch, wer nachts noch irgendeine andere Art der Unterkunft findet: in Notfalleinrichtungen, Heimen, Frauenhäusern, oder bei Freunden oder Familienmitgliedern.
Obdachlos ist, wer auch nachts draußen ist. Nur ein kleiner Teil der Wohnungslosen ist auch obdachlos, also komplett ohne Unterkunft, lebt auf der Straße, schläft unter Brücken oder in Zelten. Diese kleinere Gruppe der Wohnungslosen wird allerdings häufiger in der Öffentlichkeit wahrgenommen.
Wie viele Wohnungslose gibt es in Deutschland?
Zählungen sind schwierig, weil nicht alle Wohnungslosen in Notunterkünften untergebracht sind oder die sozialen Stellen für Wohnungslose aufsuchen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) schätzt, dass in Deutschland im Jahr 2022 etwa 50.000 Menschen auf der Straße lebten, also obdachlos und insgesamt 607.000 Menschen wohnungslos waren.
Das ist ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Den Zuwachs erklärt die BAGW vor allem durch die Zunahme nicht-deutscher Wohnungsloser, insbesondere Geflüchteter aus der Ukraine. Die Unterscheidung zwischen deutschen und nicht-deutschen Wohnungslosen zeigt einen Anstieg von fünf Prozent bei deutschen und 118 Prozent bei nicht-deutschen Wohnungslosen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) verwendet ein neues Schätzmodell, das seit 2017 angewandt wird. Die Statistik zeigt, dass der Rückgang von 2016 auf 2017 auf das verbesserte Schätzmodell zurückzuführen ist.
Welche Gruppen sind stärker von Wohnungslosigkeit bedroht?
Laut einer Studie der BAG W fallen zwei Gruppen unter den Wohnungslosen auf. Zum einen stellen junge Menschen einen hohen Anteil der wohnungslosen Menschen in Deutschland. Rund 16 Prozent der Betroffenen seien unter 25 Jahre alt. Besorgniserregend sei dabei, wie viele junge Menschen vor Hilfebeginn schon mindestens eine Nacht auf der Straße verbracht hätten. Bei den 18- bis 25-Jährigen war es dem Bericht zufolge knapp jeder siebte Klient (fast 13 Prozent). Bei den unter 18-Jährigen habe der Anteil gar bei 16 Prozent gelegen. Unter den jungen Menschen in Wohnungsnot finden sich besonders viele Frauen.
Zum anderen sind Familien dem Expertenbericht zufolge immer stärker davon bedroht, ihr Zuhause zu verlieren. Bei elf Prozent der Personen, die sich in Wohnungsnotfällen an nicht kommunale Hilfseinrichtungen gewendet hätten, lebten Kinder mit im Haushalt. Das sei ein neuer Höchststand. Unter den Hilfesuchenden mit Kindern seien etwa gleich viele Paare und Alleinerziehende gewesen.
Warum verlieren Menschen ihre Wohnung?
Dafür gibt es zahlreiche Ursachen und individuelle Lebensumstände: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall, Sucht, Schicksalsschläge - und dann kommt die Armutsspirale. Arbeitslosigkeit zum Beispiel ist sehr stark mit finanziellen Einbußen verbunden.
Das gilt auch für Schicksalsschläge, erklärt Gerhard Trabert, Gründer und Vorsitzender des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland" – also nach einer Trennung, Scheidung, Tod eines geliebten Menschen. "Das ist eine große Palette. Und dieses Ereignis hat Menschen einfach destabilisiert, hat ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen. Dann werden andere Dinge vernachlässigt, und dann kommen sie in so eine Armuts-Abwärtsspirale." Es kann Menschen also sehr plötzlich treffen. Wenn man dann die Miete nicht mehr zahlen kann, werde zu wenig getan, um proaktiv eine Räumungsklage und den Verlust der Wohnung zu verhindern, so der Sozialmediziner.
Laut den Daten der BAG W hat mehr als die Hälfte der deutschen Wohnungslosen (57 Prozent) ihre Wohnung aufgrund von Kündigungen verloren. Miet- und Energieschulden (21 Prozent), Konflikte im Wohnumfeld (20 Prozent) und Trennung/Scheidung (16 Prozent) sind weitere wichtige Auslöser. Im Gegensatz dazu hatten nicht-deutsche Wohnungslose oft noch nie eine Wohnung in Deutschland, hauptsächlich aufgrund ihrer Flucht.
BAGW-Geschäftsführerin Werena Rosenke betont, dass Inflation, gestiegene Kosten und höhere Mieten einkommensschwache Haushalte belasten, was zu (Energie-)Armut, Mietschulden und Wohnungsverlust führe. Besonders gefährdete Gruppen seien demnach einkommensarme Ein-Personen-Haushalte, Alleinerziehende und kinderreiche Paare.
Wohnungslosigkeit sei das Ergebnis eines krisenhaften Prozesses und nicht der Beginn eines krisenhaften Prozesses, sagt der Forscher Dierk Borstel von der Fachhochschule Dortmund. "Wenn diese Gründe nicht beachtet werden, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen mit der neuen Wohnung zum Beispiel auch nicht wirklich klarkommen, relativ groß. Das heißt, was wir brauchen, ist ein sehr individueller Blick für das jeweilige Schicksal dieser Menschen."
Warum steigt die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland?
In vielen deutschen Städten und teilweise auf dem Land wird es immer schwieriger, bezahlbare Wohnungen zu finden. Das führt dazu, dass es für Wohnungslose noch schwieriger wird, wieder in eine eigene Wohnung zu kommen. Ein wachsendes Problem ist auch, dass Menschen vermehrt ihre Wohnungen durch Kündigungen verlieren. Manche Vermieter bevorzugen sogar Kündigungen, um die Wohnungen zu höheren Preisen weiterzuvermieten, besonders bei älteren Mietverträgen.
Sozialmediziner Gerhard Trabert weist zudem auf die Vernachlässigung des sozialen Wohnungsbaus, Indexmieten und die Untervermietung zu Tourismuszwecken über Portale wie Airbnb hin. "In Deutschland leben 57 Prozent zur Miete. Man muss bis zu 30 Prozent des Einkommens für Wohnraum investieren. Also, da ist natürlich etwas strukturell total falsch gelaufen." Auch Leerstand und Immobilienspekulation vergrößern das Problem.
Dazu kommt die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt. Für wohnungslose Menschen ist es noch mal schwieriger als für alle anderen, an eine bezahlbare Wohnung zu kommen.
Wer ist für Obdachlose zuständig, was tut der Staat?
Für Wohnungslosigkeit gibt es unterschiedliche Zuständigkeiten. Ein Teil liegt bei den Kommunen, ein Teil beim Land, weil die Wohnraumversorgung Aufgabe der Bundesländer ist. Nun will die Bundesregierung eine stärkere Koordinierung erreichen und hat einen nationalen Aktionsplan zur Überwindung der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 ausgerufen. Hier sollen auch "bisher wenig verbreitete Ansätze wie z.B. Housing First" betrachtet werden. Zudem ist die Erhöhung des Angebots an bezahlbarem Wohnraum geplant.
Außerdem sollen juristische Hürden und Bürokratie abgebaut werden: Wenn jemand Mietschulden hatte und außerordentlich gekündigt wurde, dann aber das Geld zurückzahlen kann, kann die außerordentliche Kündigung aufgehoben werden, erklärt Hanna Steinmüller (Grüne), Mitglied im Bundestagsausschuss für Wohnen. "Es gibt aber mittlerweile immer mehr Vermietende, die zusätzlich auch noch eine ordentliche Kündigung aussprechen." Diese bestehe weiter, obwohl es keine Mietschulden mehr gebe. Auf die Änderungen der Schonfristzahlung habe man sich eigentlich im Koalitionsvertrag geeinigt, warte aber noch auf den Entwurf aus dem Justizministerium.
Zudem bedürfe es mehr Zugriff zum Beispiel von Sozialämtern auf Daten, so Steinmüller: "Es gibt ja durchaus Strukturen, um Menschen zu unterstützen. Wie können Sozialämter davon wissen, wo es zu Kündigungen kommt, und aktiv werden? Es ist immer wichtiger und einfacher, die Wohnung zu erhalten als hinterher mit ganz viel Geld, mit ganz viel Energie zu versuchen, die Menschen wieder von der Straße zu holen."
Auch den Informationsfluss für die Betroffenen gelte es zu verbessern. "Weil es natürlich auch erst mal eine total bedrohliche Situation ist, viele gelähmt sind und sagen: Oh Gott, da ist jetzt der Brief gekommen mit der Kündigung. Was kann ich jetzt tun? Und deswegen ist Informationen auch noch ein großes Thema", sagt Steinmüller.
og