Benedikt Schulz: Rund 18.000 Menschen sind gestern in Dresden auf die Straße gegangen und haben an der Demo der Pegida-Bewegung teilgenommen. Gleichzeitig wächst inzwischen zwar der öffentliche Widerstand gegen die fremdenfeindlichen Ansichten von Pegida, zum Beispiel in Köln, wo ja gestern mehrere Tausend Menschen gegen gerade einmal einige Hundert Pegida-Anhänger standen. Aber die steigende Zahl an Flüchtlingen, sie verunsichert viele Menschen, und viel mehr, als man das vielleicht erwartet hätte. Rund 20 Jahre nach den rechtsradikalen Gewalttaten der 90er-Jahre scheinen fremdenfeindliche Ansichten so langsam wieder massenkompatibel zu werden. Und meine Frage ist, ob das auch ein Problem der politischen Bildung an den Schulen ist. Und ich möchte diese Frage Doro Moritz fragen. Sie ist Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Baden-Württemberg, und sie hat gestern Abend selbst auf einer Anti-Pegida-Kundgebung in Stuttgart gesprochen. Ich grüße Sie!
Doro Moritz: Guten Tag, Herr Schulz!
Schulz: Ihre Einschätzung, Frau Moritz: Hat die politische Bildung in Deutschland versagt?
Moritz: Ich habe schon den Eindruck, dass die politische Bildung nicht den Stellenwert hat, den sie braucht. Und solange wir keine Probleme in der Gesellschaft hatten, zumindest nicht wirklich sichtbar, hat das auch niemanden gestört.
Schulz: Spielen denn Themen wie kulturelle Vielfalt, Anderssein, spielt das in der Schule eine ausreichend große Rolle oder ist das einfach vernachlässigt worden?
Moritz: Es ist vernachlässigt worden. Wir sind ganz sicherlich im Zuge von Pisa massiv drauf getrimmt, dass Leistung, Kenntnisse, Kompetenzen, die abgeprüft werden können, in der Schule im Vordergrund stehen und insofern dieses Thema interkulturelle Bildung, politische Bildung, Friedenserziehung, der ganze große Themenkomplex gesellschaftlicher Probleme wirklich vernachlässigt wird. Kommt ja auch in der Lehrerausbildung praktisch nicht vor.
"Schule braucht mehr Zeit"
Schulz: Wie kann denn Schule oder wie können Bildungseinrichtungen überhaupt an dieser Stelle wirksam werden?
Moritz: Es geht tatsächlich darum, dass wir einerseits im Umgang mit Schülerinnen und Schüler uns auch als Vorbilder verhalten, wir Pädagoginnen und Pädagogen, und all die Sprüche und Vorurteile, die formuliert werden, nicht nur im Unterricht aufgreifen, sondern auch in außerunterrichtlichen Begegnungen von Schülerinnen und Schülern. Und natürlich muss der Unterricht sich sehr viel mehr an unseren gesellschaftlichen Problemen ausrichten und diese Themen dann auch aufgreifen.
Schulz: Geht das überhaupt? Kann Schule zur Toleranz oder zur Akzeptanz erziehen? Oder ist das zu viel verlangt?
Moritz: Schule allein kann die Gesellschaft nicht besser machen. Wenn die Schule ihre Hausaufgaben aber nicht macht, dann haben wir schon von vornherein verloren. Und Schule braucht dafür mehr Zeit. Wir brauchen Zeit, um einerseits das Leben von Flüchtlingskindern, von Menschen, die aus der Fremde zu uns kommen, auch darstellen zu können. Und wir müssen uns mit den Vorurteilen auseinandersetzen können. Da erleben wir zum Beispiel, wie in Baden-Württemberg jetzt das Fach Gemeinschaftskunde gekürzt wird und das Fach Wirtschaft gestärkt wird. Das sind Entwicklungen, die sehr falsch laufen und wo Probleme, die anstehen, wirklich verkannt werden.
Schulz: Ein anderes Problem, vor dem die Schulen in Deutschland stehen - sie stehen ja vor gewaltigen Herausforderungen, weil einfach sehr viele minderjährige Flüchtlinge in unser Land kommen, die ja auch ein Recht auf Bildung haben. Aber diese Flüchtlinge bringen in der Regel ja nicht nur kaum, sondern fast immer überhaupt keine Deutschkenntnisse mit. Aber was sie mitbringen, ist eine bewegte und auch eine oft traumatische Lebensgeschichte. Inwieweit sind denn die Schulen in unserem Land auf diese Situation vorbereitet?
Moritz: Sie sind restlos überfordert. Wir haben zum Einen die zwingend notwendigen fachlichen Kompetenzen für Deutsch als Zweitsprache nicht generell an unseren Schulen. Es fällt sogar schwer, für den spezifischen Unterricht, den Flüchtlingskinder in den Klassen bekommen, geeignete Lehrerinnen und Lehrer zu finden. Da gibt es zum Teil Schnellbleichen mit einem Tag Fortbildung. Das geht natürlich gar nicht. Und dass diese Kinder ja nicht nur keine Deutschkenntnisse mitbringen, sondern einen Sack voll Problemen, die es notwendig machen, dass wir Dolmetscher haben, dass wir Trauma-Therapeuten brauchen, denn die sind ja traumatisiert, dass wir für die Lehrkräfte Supervision und Coaching brauchen und dass wir, um einen Zugang zu den Kindern zu finden, auch einen Zugang zu den Eltern brauchen, der sehr viel Zeit erfordert, das sind tatsächlich auch Ressourcen, das kostet Geld, und das kommt erst ganz allmählich in Gang, hier die Ressourcen für Zeit und für Qualifizierung und für Experten zur Verfügung zu stellen. Das muss in dem Maß, in dem die Flüchtlinge hierhin kommen, wirklich sehr viel schneller gehen.
"Das Geld ist falsch verteilt"
Schulz: Ist das Thema der Politik bislang nicht wichtig genug gewesen?
Moritz: Ja. Ganz sicher. Die Haushalte, die öffentlichen Haushalte sollen saniert werden, der Bildungsbereich wird auch in anderen Bereichen geschröpft, und wenn da jetzt eine zusätzliche Aufgabe dazu kommt, dann mahlen die Mühlen sehr langsam, bis hier die Unterstützung ankommt.
Schulz: Länder und Kommunen sitzen in Deutschland jetzt nicht gerade auf einer Goldmine, gerade, wenn jetzt auch noch die Schuldenbremse vor der Haustür steht. Wer soll denn das alles bezahlen?
Moritz: Das Geld ist falsch verteilt. Das Geld ist da in der Bundesrepublik. Wir haben um das Jahr 2000 eine Entwicklung in der Steuergesetzgebung erlebt, die Vermögen und Kapital, Unternehmen entlastet hat. Und dieses Geld fehlt jetzt natürlich. Das heißt, hier muss eine konsequente Umorientierung erfolgen, denn schließlich profitieren alle von einer friedlichen, demokratischen, toleranten Gesellschaft. Und da ist der Schulbesuch eben ein ganz wichtiger Punkt, eine wichtige Voraussetzung, die wir ja auch unseren Flüchtlingskindern nicht einmal in angemessenem Zeitrahmen genehmigen. Die müssen ja ein halbes Jahr warten, bis sie in die Schule dürfen.
Schulz: Sagt Doro Moritz. Sie ist Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Baden-Württemberg.
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