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Ursachenforschung in Frankreich
Rätsel um Neugeborene ohne Arme und Hände

Jeden Tag werden neue Fälle gemeldet: Kinder, denen bei der Geburt ein Arm oder eine Hand fehlen. Um die Ursache dieser äußerst seltenen Fehlbildungen zu finden, planen die französischen Behörden nun eine nationale Untersuchung. Klar ist nur, es handelt sich nicht um erbliche Schäden und die betroffenen Mütter stammen alle aus ländlichen Gegenden.

Von Sabine Wachs |
    06.10.2018, Frankreich: Emmanuelle Amar, Leiterin der regionalen Register für vorgeburtliche Fehlbildungen, kurz Remera genannt, in Lyon
    Frankreich: Emmanuelle Amar, Leiterin der regionalen Register für vorgeburtliche Fehlbildungen, kurz Remera genannt, in Lyon (dpa/ Philippe Mirkovic)
    Mélanie Vitrys Sohn Ryan ist heute acht Jahre alt. Geboren wurde er in dem kleinen Dorf Druillat, im südfranzösischen Département Ain. Erst bei seiner Geburt zeigte sich, dem Jungen fehlt die rechte Hand. Eine seltene Fehlbildung, die im Zeitraum von 2009 bis 2014 auch bei sieben anderen Kindern in der gleichen Gegend entdeckt wurde. Weder Mélanie Vitry, noch andere Mütter, hatten Komplikationen in der Schwangerschaft, erbliche Vorbelastungen sind in keiner der betroffenen Familien bekannt. Nur eine Gemeinsamkeit, sagt Vitry, gebe es:
    "Alle Mütter, deren Kinder von einer solchen Fehlbildung betroffen sind, haben während der Zeit, in der sich die Gliedmaßen im Mutterleib ausbilden, in der Nähe von Feldern gewohnt."
    Mütter lebten in ländlichen Regionen
    Das Krankenhaus von Lyon hatte die Fälle von Neugeborenen ohne Arme oder Hände an das regionale Register für vorgeburtliche Fehlbildungen, kurz Remera gemeldet. Das Register informierte 2011 erstmals die Gesundheitsbehörde. Der Staat aber reagierte nicht.
    Erst nachdem Ende September dieses Jahres der Fernsehsender France 2 über ähnliche Fälle in anderen ebenfalls ländlichen Regionen berichtete, erschien ein Bericht der Gesundheitsbehörde. Er stellt fest, dass ungewöhnlich viele Neugeborenen ohne Arme und Hände zur Welt kamen. In der Bretagne und in der Region Loire Atlantique. Das Paradoxe an dem Bericht: Die Fälle im Departement Ain, werden nicht als ungewöhnliche Häufung bezeichnet.
    Klare Hinweise auf äußere Einflüsse
    "Es sind überall genau die gleichen Fehlbildungen", sagt Emmanuelle Amar, die das Remera in Lyon leitet. "In der Natur gibt es tausende Arten von Fehlbildungen, vier Arme, drei Köpfe, alles wäre möglich. Aber diese äußerst seltenen Fehlbildungen sind ein klares Zeichen von äußeren Einflüssen auf den Fötus."
    Für das Register haben Amar und ihre Mitarbeiter alle sieben Mütter im Département Ain befragt. Wie verlief die Schwangerschaft, gab es ungewöhnliche Vorfälle, haben die Frauen Medikamente eingenommen. Die Antworten waren negativ. Ähnlich ging die Gesundheitsbehörde in ihrem Bericht vor. Weder das Remera, noch die Gesundheitsbehörde haben bisher einen Hinweis auf die Ursache.
    Allerdings sagt Amar, wurden ähnliche Fehlbildungen auch bei Tieren in den betroffenen Regionen festgestellt. Auch diese Fälle wurden vor Jahren gemeldet. Die Ursache könnte in der Landwirtschaft zu finden sein. Pestizide? Amar will nicht spekulieren:
    "Wissenschaftler müssen sich jetzt an einen Tisch setzen und nachforschen. Welches Molekül, das in der Landwirtschaft verwendet wird, kann zur Fehlbildung von Armen und Händen im Mutterleib führen. Wird so etwas in Futtermittel oder woanders verwendet? Und alle betroffenen Mütter müssen sich treffen und miteinander sprechen. Durch einen solchen Austausch wurde damals in Deutschland auch die Missbildung von Föten durch das Schlafmittel Contergan und den Wirkstoff Thalidomid festgestellt."
    Ursachenforschung läuft
    Frankreichs Gesundheitsministerin Agnès Buzyn versprach neue Untersuchungen der Ursache von staatlicher Seite.
    "Wir haben die Behörde für Lebensmittelsicherheit mit ins Boot geholt. Sie soll die Fälle gemeinsam mit der Gesundheitsbehörde untersuchen. Vielleicht finden ja Ärzte und Lebensmittelchemiker gemeinsam Hinweise darauf, wodurch die Fehlbildungen bei den Kindern ausgelöst wurden."
    Dass weiter nach der Ursache geforscht werden soll, kann Emmanuelle Amar nur unterstützen. Trotzdem kritisiert sie die Tatsache, dass schon wieder die staatliche Gesundheitsbehörde daran beteiligt sein wird:
    Und fordert ein unabhängiges nationales Register für vorgeburtliche Fehlbildungen. Im Moment gibt es sechs solcher Stellen in ganz Frankreich. Zu wenig, um das ganze Land abzudecken. Bald könnten es sogar nur noch fünf sein. Amars Remera droht zum Ende des Jahres die Schließung. Neue Fördermittel für das Register wurden bisher nicht genehmigt.