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Urteil gegen Larry Nassar
Es geht um das Zeichen

Der frühere Arzt der US-Turnerinnen, Larry Nassar, ist wegen sexuellen Missbrauchs zu einer Gefängnisstrafe von bis zu 175 Jahren verurteilt worden. Das Verfahren sei ein Meilenstein in der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gewesen, kommentiert Andrea Schültke im Dlf. Betroffene hätten eine Stimme bekommen und diese eindringlich erhoben.

Von Andrea Schültke |
    Rachael Denhollander ist eine von 150 Betroffenen, die im Prozess gegen den früheren Teamarzt der US-Turnerinnen, Larry Nassar, ausgesagt hat.
    Rachael Denhollander ist eine von 150 Betroffenen, die im Prozess gegen den früheren Teamarzt der US-Turnerinnen, Larry Nassar, ausgesagt hat. (AFP/ Jeff Kowalsky)
    Olympische Spiele 2016. Die US-Turnerin Simone Biles gewinnt 4 Goldmedaillen. Sie steht auf dem Treppchen und lächelt. Strahlend. Ihre Augen glitzern und glänzen. Was für ein schönes Bild. Das Leid dahinter – von außen nicht zu erkennen.
    Erst vor knapp zwei Wochen hat Simone Biles geschrieben, dass auch sie Opfer war von Larry Nassar. Eine von Hunderten, jungen Mädchen, teilweise erst sechs Jahre alt, als er sie auf perfide Weise sexuell missbraucht hat: Unter dem Vorwand medizinischer Behandlung war er mit dem Finger in ihre Vagina eingedrungen. Jahrelanges Martyrium, andauernde Behandlung, die erfolglose Suche nach der Diagnose. Weil Larry Nassar sich in erster Linie sexuell befriedigen wollte – und nicht heilen.
    All das haben 156 Betroffene eindrucksvoll geschildert. In dem Missbrauchsverfahren durften sie ihrem Peiniger ins Gesicht sagen, was er ihnen angetan hat. Konnten sich von der Seele reden, was sie über Jahre, teilweise jahrzehntelang gequält hatte: Angst vorm Schlafen, weil dann wieder die Alpträume kommen, Depressionen, Panikattacken.
    Herzzerreißende, schockierende, fassungslos machende Berichte, die schon beim Zuhören zu Tränen rührten. All das bekam die ganze Welt mit, denn die sieben Verhandlungstage wurden im Internet live übertragen. Diese sieben Tage haben die Betroffenen stark und mächtig gemacht. So stark, dass drei Verantwortliche des Turnverbandes gehen mussten, auch das Nationale Olympische Komitee sich endlich gerührt hat. Mit den immer gleichen Phrasen: Kultur des Sports verändern, Verbände verändern, Opfer schützen - oft gehört und selten umgesetzt, alles nur Blabla.
    Die Strukturen im Sport begünstigen Schweigekartelle
    Die mutigen und beeindruckenden Frauen, die in den vergangenen Tagen ihre Geschichte erzählt haben – sie werden vielleicht die Struktur des Sports verändern. Denn wenn in Zukunft Vorwürfe wegen Übergriffen bekannt werden, sollte es kein Verantwortlicher mehr wagen, den oder die Betroffene wegzuschicken und den Fall zu vertuschen! Im Fall Nassar ist das 20 Jahre lang passiert. Die Turnerinnen haben die Schuld bei sich gesucht, geschwiegen und die Funktionäre haben nichts unternommen.
    Und genau hier liegt das Problem. Die Strukturen im Sport begünstigen Schweigekartelle. Die US-Turnerinnen etwa wurden zum Training einkaserniert auf einer Ranch – weit weg von jeglicher Zivilisation. Hier gab es hartes, brutales, Training, kaum etwas zu Essen und Missbrauch durch Larry Nassar im Gemeinschaftsraum.
    Eine geschlossene Gesellschaft, ohne Einblick von außen. Das ist nicht nur in den USA so. Auch in Deutschland sollen im Rahmen der Leistungssportreform die besten Athletinnen und Athleten an Olympiastützpunkten und Internaten konzentriert werden. DAS perfekte Umfeld für potenzielle Täter. Erst jetzt bekommen die Internate Auflagen zur Vorbeugung sexualisierter Gewalt. Erst jetzt.
    Glauben Sie nie mehr nur der schönen Fassade
    Bald sind wieder Olympische Spiele. Bald werden wieder strahlende Menschen auf Siegertreppchen stehen. An alle, die das sehen und hören: Glauben Sie nie mehr nur der schönen Fassade und dem strahlenden Lächeln, wenn sie Bilder von Sportlern sehen. Fragen Sie sich immer, wie dieser Erfolg zustande gekommen ist: mit brutalen Trainingsmethoden, Schmerzen, Leistungsdruck, Doping und vielleicht mit emotionalen und sexuellen Übergriffen bis hin zur Vergewaltigung?
    Die hohe Strafe für Larry Nassar war ein Zeichen an die Betroffenen, eine Genugtuung. Aber das Verfahren war ein Meilenstein in der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Betroffene haben eine Stimme bekommen und diese eindringlich erhoben.
    "Sie sind herausragend, Sie sind Heldinnen, sie sind Vorbilder", so die Richterin. Eine Armee der Überlebenden. Furchtlos und hoffentlich irgendwann auch geheilt.