Christoph Heinemann: Fördern und Fordern - so wollte Gerhard Schröder und seine rot-grüne Regierung einst mehr Menschen in Arbeit bringen. 2005 wurden Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Hartz IV zusammengeführt. Heute hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass bei den Forderungen nachgebessert werden muss, denn die Kürzungen von Hartz-IV-Leistungen, etwa wenn jemand nicht zu einem Termin erscheint, sind teilweise verfassungswidrig.
Am Telefon ist Martin Rosemann (SPD), Mitglied des Bundestagsausschusses Arbeit und Soziales, Wahlkreis Tübingen. Guten Tag!
Martin Rosemann: Guten Tag, Herr Heinemann.
Heinemann: Herr Rosemann, wie muss Hartz IV jetzt verändert werden?
Rosemann: Erst mal begrüße ich das Urteil - zum einen, weil es uns Rechtssicherheit gibt, zum anderen, weil es sagt, es ist richtig, eine Mitwirkungspflicht auch weiterhin zu verlangen, gleichzeitig aber Handlungsbedarf aufzeigt. Das gilt ja zunächst einmal dahingehend, dass das Gericht gesagt hat, dass Sanktionen nur bis zu einer Höhe von 30 Prozent überhaupt akzeptabel sind. Damit sind Vollsanktionierungen vom Tisch und damit ist auch die Sanktionierung von Kosten der Unterkunft, Heizung, Wohnungsmieten, vom Tisch. Und das Gericht sagt auch, dass sehr viel mehr sehr viel stärker auf die Verhältnismäßigkeit und auf den Einzelfall geachtet werden muss.
Das gilt zum Beispiel für Härtefälle. Ich will mal ein Beispiel sagen: Wenn jemand psychisch krank ist und einfach ein Problem damit hat, Post vom Jobcenter zu öffnen, und deswegen Termine versäumt, dann ist es ja überhaupt nicht hilfreich, so jemanden zu sanktionieren. Genauso ist es richtig zu sagen, wir müssen in Zukunft Menschen, die sagen, jawohl, ich ändere mein Verhalten, ich strenge mich an, ich bemühe mich, denen müssen wir dann auch ermöglichen, dass Sanktionen schnell wieder zurückgenommen werden und die nicht generell für drei Monate gelten. Ich glaube, das ist die Grundlage dafür, dass wir insgesamt das SGB II stärker am Einzelfall und stärker individuell ausgestalten.
"Gibt keine Argumente für verschärftes Sanktionsrecht für unter 25-Jährige"
Heinemann: Die Sanktionen für Menschen unter 25 Jahren sind noch härter als für ältere. Diese Altersgruppe hatte das Verfassungsgericht allerdings jetzt gar nicht mit im Blick. Müssen auch diese Sanktionsmöglichkeiten geändert werden?
Rosemann: Die besondere Regelung für unter 25-Jährige war ja nicht Gegenstand des Verfahrens, und deswegen ist es auch nicht explizit im Urteil erwähnt. Aber für mich und für uns als Sozialdemokraten ist klar, dass es natürlich eine Übertragbarkeit der Grundsätze, die jetzt für die über 25-Jährigen formuliert wurden, auch auf die unter 25-Jährigen gibt.
Wir haben ja seit längerem eine Diskussion auch in der Expertenwelt, wo eigentlich alle Experten aus Wissenschaft und Praxis uns gesagt haben, es gibt keinerlei Argumente für das verschärfte Sanktionsrecht für unter 25-Jährige. Wir wollten das ja bereits in der letzten Wahlperiode deshalb verändern. Das ist damals am massiven Widerstand aus Bayern von der CSU gescheitert. Auch dieses Thema muss jetzt wieder auf die politische Tagesordnung.
Heinemann: Herr Rosemann, was bedeutet der heutige Urteilsspruch für Bezieherinnen und Bezieher von Hartz IV?
Rosemann: Ich glaube, es bedeutet für Bezieherinnen und Bezieher von Hartz IV, dass sie sicher sein können, dass die Verhältnismäßigkeit in Zukunft gewahrt ist und dass sie nicht Gefahr laufen, dass ihnen letztlich die Grundlage für ihre Existenz entzogen wird. Es bedeutet aber auch, dass es in Zukunft mehr Handlungsspielräume auch gibt für die Jobcenter vor Ort und eine größere Verantwortung, den Einzelfall auch zu beurteilen und zu bewerten. Das ist im Übrigen auch die besondere Herausforderung des Urteils, dass wir dem jetzt als Gesetzgeber, aber dann auch in der praktischen Umsetzung in den Jobcentern gerecht werden.
Heinemann: Was bedeutet dieses Urteil für die SPD?
Rosemann: Wir fühlen uns in unserer Haltung bestätigt, die wir ja seit einigen Monaten auch bereits in der letzten Wahlperiode formuliert haben, nämlich zu sagen, wir wollen, dass Sanktionen verhältnismäßig sind, wir wollen, dass Sanktionen nur das letzte Mittel sind, wir wollen da mehr Flexibilität und wir wollen auch, dass der Einzelfall dort stärker gewürdigt wird.
Heinemann: Herr Rosemann, an der Stelle muss ich Sie unterbrechen und fragen: Warum denn nicht gleich so?
Rosemann: Sie meinen jetzt nicht bei der Einführung des Gesetzes 2003?
Heinemann: So ist es.
Rosemann: Na ja, das liegt jetzt 15, 16 Jahre zurück, und ich glaube, dass wir in der Politik immer dazulernen müssen, welche Dinge funktionieren und welche nicht. Berechtigt wäre eher die Frage, warum wir erst ein Bundesverfassungsgerichtsurteil brauchen, damit die Politik handelt. Das müssen Sie aber dann den Koalitionspartner fragen. Wir haben bereits in der letzten Wahlperiode im Zuge der Rechtsvereinfachung gesagt, wir müssen auch das Sanktionsrecht anpacken.
"Ein Gesetz ist nie perfekt"
Heinemann: Aber Ursache dieser jetzigen Korrekturen sind die Regelungen, die durch die SPD beziehungsweise eine rot-grüne Regierung getroffen wurden. Wäre das, was die Verfassungsrichter jetzt entschieden haben, nicht dringend Aufgabe der SPD gewesen?
Rosemann: Ja, ich sage es noch mal, dass man im Laufe der Jahre auch schlauer wird, wie Dinge wirken, die man beschließt. Ein Gesetz ist nie perfekt und ich glaube, es gehört zu guter Politik dazu, dass man auch erkennt, wenn man an der einen oder anderen Stelle zu weit gegangen ist oder Dinge falsch geregelt hat. Politik ist nie perfekt und wer den Eindruck erweckt, glaube ich, der macht den Leuten was vor.
Ich drücke mich da nicht vor der Verantwortung, auch wenn ich damals noch nicht im Deutschen Bundestag war, aber ich glaube, wir müssen jetzt dem Handlungsbedarf, den das Bundesverfassungsgericht erkannt hat, nachkommen. Das müssen wir umsetzen und das wollen wir auch umsetzen, weil es unsere Haltung schon seit einiger Zeit ist, dass wir da Handlungsbedarf haben, dass wir da Härten vermeiden müssen und dem Einzelfall gerechter werden.
Heinemann: Aber man muss sich schon noch mal das Gesamttableau anschauen. Kürzungen von 60 Prozent, sogar von 100 Prozent waren möglich. Wie kann man denn ohne Geld in Deutschland leben und warum muss man das SPD-Verantwortlichen erklären?
Rosemann: Na ja. Was Sie jetzt nicht sagen ist, dass ja in Deutschland generell niemand verhungern muss, weil es ja auch bei Kürzungen von 60 oder 100 Prozent im Zweifel die Ausgabe von Lebensmittelgutscheinen geben muss. Da können Sie immer noch fragen, ist das menschenwürdig, ist das in Ordnung, ist das mit der Verfassung zu vereinbaren.
Da hat das Bundesverfassungsgericht jetzt heute geurteilt: Nein, das ist es nicht. Und das finde ich auch richtig und begrüße das auch. Aber ich glaube, zur Wahrheit gehört schon dazu, dass niemand deswegen hat verhungern müssen.
Heinemann: Warum weiß das Verfassungsgericht denn besser, mit welchem Geld oder mit wieviel Geld Menschen über die Runden kommen, besser zumindest als SPD-Politikerinnen und Politiker?
Rosemann: Ich glaube, das ist nicht die Frage, weil das Bundesverfassungsgericht hat ja nicht zu den Regelsätzen geurteilt, sondern das Bundesverfassungsgericht hat zu den Sanktionen geurteilt.
"Es gibt auch eine Mitwirkungspflicht"
Heinemann: Die Kürzungen.
Rosemann: Lassen Sie mich vielleicht noch mal sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat ja eindeutig gesagt, dass es nicht es durch das Grundgesetz für geboten hält, dass es eine sanktionsfreie Mindestsicherung gibt, sondern das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass es im Sinne des Förderns und Forderns auch eine Mitwirkungspflicht gibt, nur dass die Frage, wie diese Mitwirkungspflicht auszugestalten ist und in welcher Weise sanktioniert werden kann, wenn diese Mitwirkungspflicht nicht erfüllt ist, dass dort sehr viel mehr Verhältnismäßigkeit gewahrt werden muss.
Das ist eine Haltung, die ich ausdrücklich gut und richtig finde, und ich finde es gut, dass das Bundesverfassungsgericht das jetzt so entschieden hat, weil uns das die Klarheit gibt, dass wir entsprechend das Gesetz auch verändern müssen.
Heinemann: Warum wurde beides, nämlich das Existenzminimum und auch die Menschenwürde, von der Sie eben gesprochen haben, nicht von Anfang an mit in diesem Gesetz berücksichtigt?
Rosemann: Das müssen Sie diejenigen Leute fragen, die vor 15 Jahren das Gesetz gemacht haben. Ich will Ihnen nur sagen: Ich glaube, dass eine Diskussion, die vor 15 Jahren in dieser oder in einer anderen Weise stattgefunden hat, die jetzt zu verlängern, dass die uns nicht weiterhilft. Das gilt für diese Frage, das gilt auch für viele andere Fragen. Wir leben doch im Hier, Heute und Jetzt und müssen doch jetzt dafür sorgen, dass wir Gesetze möglichst gut machen und dass wir das Fördern und Fordern im SGB II möglichst so ausgestalten, dass Menschen geholfen wird.
Da finde ich im Übrigen die Frage ganz wesentlich, dass das natürlich auch bedeutet, wenn wir Mitwirkungspflichten individueller definieren, dass wir dann auch das Fördern noch sehr viel besser machen müssen, weil wir nämlich dann den Leuten auch sagen müssen: Okay, was ist denn das Unterstützungsangebot, was wir Dir bieten, und was sind die Mitwirkungspflichten, die Du leisten musst. Ich glaube, wir müssen bei der Unterstützung von arbeitslosen Menschen gerade im SGB II noch besser werden.
Jede und jeder, der in diese Situation kommt, hat doch zurecht die Erwartung, dass er oder sie die Unterstützung bekommt, die er oder sie im Einzelfall braucht. Dafür müssen wir sorgen und jetzt nicht die Diskussionen führen, die vielleicht vor 15 Jahren geführt worden sind.
Heinemann: Trotzdem die Frage an diesem Dienstag nach dem Urteil. Schämen Sie sich als Sozialdemokrat für Hartz IV?
Rosemann: Nein, ich schäme mich nicht für Hartz IV, weil Hartz IV ja sehr viel mehr ist als nur diese einzelne Regelung. Hartz IV hat damals dafür gesorgt, dass Menschen aus der Sozialhilfe herausgeholt wurden und erstmals arbeitsmarktpolitische Unterstützung bekommen haben. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II, zur Grundsicherung für Arbeitsuchende war richtig.
Aber noch mal: Natürlich sind im Laufe des Prozesses und sind damals auch Fehler gemacht worden. Es war zum Beispiel ein Fehler, dass man nicht damals schon einen gesetzlichen Mindestlohn eingeführt hat. Auch das hat die SPD erkannt und im Laufe der Jahre korrigiert. Politik ist nie fehlerfrei. Man muss Gesetze immer weiterentwickeln und auch an die Erfordernisse der Zeit anpassen.
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