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Urteil zu Unfall mit Todesfolge
"Details genau anschauen"

Ein Student fährt einen vierjährigen Jungen tot und wird zu 200 Euro Geldbuße verurteilt. Das sorgt für Empörung. Gesine Reisert, Fachanwältin für Straf- und Verkehrsrecht, warnte im Dlf vor einer vorschnellen Verurteilung. Es müsse der individuelle Fall betrachtet werden.

Gesine Reisert im Gespräch mit Ute Meyer |
Der Hammer eines Richters
Hammer eines Richters vor Gericht (Ronald Wittek/dpa)
Ute Meyer: Das Urteil des Berliner Amtsgerichts sorgt für viel Aufregung. Gestern wurde ein 23-jähriger Student verurteilt, weil er einen vierjährigen Jungen totgefahren hat. Der Mann wollte einen Stau umfahren, scherte verkehrswidrig auf die Busspur rechts daneben aus und fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit. Der kleine Junge lief bei Rot auf die Straße, wurde von dem Auto gestreift. 200 Euro muss der Autofahrer jetzt zahlen, er wurde zu 40 Tagessätzen à fünf Euro verurteilt, außerdem muss er für einen Monat seinen Führerschein abgeben. Viel zu milde, finden viele Menschen, das liest man aus den Kommentaren im Internet.
Ich möchte über das Urteil sprechen mit der Rechtsanwältin Gesine Reisert. Sie ist Fachanwältin für Straf- und Verkehrsrecht in Berlin, außerdem Mitglied im geschäftsführenden Ausschuss für Verkehrsrecht beim deutschen Anwaltverein. Frau Reisert können Sie die Wut über dieses Urteil verstehen?
Gesine Reisert. Wenn Kinder sterben, trauern alle und es wäre auch schlimm, wenn dem nicht so wäre. Dass Urteile für Außenstehende oft schwer verständlich sind, kann ich nachvollziehen. Aber ich sitze oft genug im Gerichtssaal und weiß, wie schwierig es ist, das zu verstehen, wenn man außerhalb des Gerichtssaals ist. Urteile werden von Gerichten aber über Menschen gefällt. Bestraft wird die persönliche Schuld und das bedeutet, jedes Gericht, jeder Richter, jedes Schöffengericht, wie hier in Berlin, muss sich genau denjenigen angucken, der da vor ihnen auf der Anklagebank sitzt. Und das kann manchmal nach außen hin wehtun, ist aber nach innen hin als Urteil richtig.
"Es gibt nicht das richtige oder das gerechte Urteil"
Meyer: Aber nehmen wir uns vielleicht mal dieses Urteil vor. Wir wissen, der Student war nicht vorbestraft. Er ist laut Gericht mit erhöhter Geschwindigkeit gefahren, hat gegen Verkehrsregeln verstoßen, wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. 200 Euro, einen Monat Führerscheinentzug - ist dieses Urteil milde?
Reisert: Wir wissen über die Tat, dass es hier zu einem ganz unglücklichen Geschehensablauf gekommen ist, in dem bestimmt mindestens zwei Menschen Fehler gemacht haben. Zum einen natürlich der Fahrer, ganz klar, zum anderen aber auch die Mutter des Kindes, die das Kind ja beaufsichtigen und auf das Kind aufpassen muss. Nachdem, was ich aus den Pressemitteilungen auch nur entnehmen konnte, wäre es selbst bei verkehrsgerechtem Verhalten wahrscheinlich zu einem Zusammenstoß gekommen. Das bedeutet also, es war eigentlich gar nicht verhinderbar und trotzdem ist ein Mensch tot. Das ist das, was der Gesetzgeber hier auch tatsächlich bestraft. Dann schaut das Gericht danach, wie sind denn die Umstände der Tat, wie sind die Auswirkungen wie ist das Verhalten auch nach der Tat für alle Beteiligten - und das ist das schwierige, schmerzhafte in diesem Verfahren, in dem Menschen zu Tode gekommen sind. Denn ganz ehrlich, ich glaube es gibt nicht das richtige oder das gerechte Urteil.
Meyer: Dennoch hat der Student sich verkehrswidrig verhalten und rücksichtslos. Und Urteile haben ja auch Signalwirkung. Wenn die Rechtsprechung also dazu dienen soll, rücksichtsloses Verhalten zu verhindern, ist dieses Urteil dann nicht zu milde?
Reisert: Das ist eine sehr schöne Frage, weil sie uns an die Grenzen der Gesetzgebungsfähigkeit führt. Schon die Frage, ist das jetzt rücksichtslos oder ist das nicht rücksichtslos, ist ja unheimlich schwer zu beantworten ...
"Wir dürfen den Gerichten vertrauen"
Meyer: … wer zu schnell vorbei fährt an einer Verkehrsinsel mit einer Ampel, wo Menschen stehen, auf einer Busspur auf der er nicht fahren soll?
Reisert: Ja, wir wissen aber auch, dass die Ampel rot war für die Fußgänger, will sagen grün für die Autofahrer. Ich will nicht das Verhalten des Betreffenden verteidigen, sondern ich will darauf aufmerksam machen, wir sehen von Außen eben auch nur einzelne Details. Wir haben aber nicht die Sachkunde, die der Sachverständige hier zum Beispiel hatte. Das heißt, wenn wir uns ein eigenes Urteil bilden wollen, müssten wir uns tatsächlich auch die ganzen Details wirklich anschauen. Wir dürfen den Gerichten auch vertrauen, dass sie sich diese Mühe gemacht haben.
Das Schwierige ist immer, wenn es eine sehr niedrige Strafe aus dem Gesetzeskatalog ist, dass man sagt: Na, ist das denn nicht viel zu wenig. Trotzdem kennen wir alle die weiteren Umstände nicht, die bei der Bemessung eine Rolle gespielt haben. Ich sage nicht, das Urteil ist richtig und ich sage auch nicht, es ist total falsch und völlig abwegig.
"Ereignis wird für immer Spuren hinterlassen"
Meyer: Neben den juristischen Abwägungen gibt es aber auch eine politische Debatte. Die Debatte, ob Strafen für Verkehrssünder generell weiter verschärft werden müssen. Ist das deutsche Verkehrsrecht immer noch zu lasch?
Reisert. Aus meiner Sicht ist das Verkehrsrecht ziemlich gut und greift ineinander über. Es ist eigentlich wünschenswert, Verkehrserziehung zu fördern. Das fängt nicht nur in der Grundschule an, in der die Kinder schon in den Verkehrsgarten gehen, sondern das geht weiter bis zum Erhalt der Fahrerlaubnis. Mein Wunsch wäre, dass Menschen miteinander anders umgehen, friedlicher umgehen, eine andere Sprache wählen und nicht ihren Aggressionen freien Lauf lassen und das im Straßenverkehr ausleben. Man sollte aber auch ehrlich genug sein und sagen, dieser Unfall wie wir ihn hier haben, der ist nicht in böser Absicht geschehen. Niemand wollte jemand anderen um seiner selbst willen beschädigen oder totfahren – sonst wäre natürlich dieses Urteil überhaupt nicht erklärbar. Davon kann ich auch wirklich nicht ausgehen, nachdem was ich in der Presse gelesen habe. Ich bin sicher, dass für die Beteiligten, die Mutter, die Eltern dieses Kindes, die Angehörigen, die Freunde und die Familie – aber auch für den Fahrer und seine Familie – dieses schlimme Ereignis für immer Spuren hinterlassen wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.