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US-Historiker zur Aufarbeitung der Sklaverei
"Das Ganze ist nicht nur Geschichte, sondern Gegenwart"

Die USA müssten Reparationszahlungen für die Nachfahren von Sklaven zahlen, sagte US-Historiker Max Friedman im Dlf. Politik und Gesetzgebung sind verantwortlich dafür, dass die durchschnittliche weiße Familie heute zehnmal mehr besitzt als die durchschnittliche schwarze Familie in den USA, sagte er.

Max Friedman im Gespräch mit Stephanie Rohde |
MONTGOMERY, AL - JULY 06: Hank Willis Thomas' 'Raise Up' statue, which depicts contemporary issues of police violence and racially biased criminal justice, stands inside The National Memorial For Peace And Justice in Montgomery, Alabama on July 6, 2018. MANDATORY MENTION OF THE ARTIST UPON PUBLICATION - RESTRICTED TO EDITORIAL USE. (Photo By Raymond Boyd/Getty Images)
Der US-Historiker Max Friedman sagte im Dlf, es sei höchste Zeit für Reparationen an die Nachfahren der Sklaven in den USA. (Getty Images / Raymond Boyd)
Der 4. Juli 1776 gilt als Beginn der Unabhängigkeit der USA, zumindest in der weißen Geschichtserzählung. Viele Schwarze sehen den Unabhängigkeitstag kritischer, auch weil versklavte Menschen noch knapp ein Jahrhundert lang warten mussten, bis sie endlich unabhängig und frei wurden. Aktuell verweist die Black-Lives-Matter-Bewegung immer wieder darauf, dass die USA die Zeit der Sklaverei ordentlich aufarbeiten muss, auch um den heutigen Rassismus zu bekämpfen. Auch Forderungen nach Reparationen für die Opfer der Sklaverei werden laut und sind zum Wahlkampfthema avanciert. Mit Joe Biden zeigt sich nun auch ein Präsidentschaftskandidat offen, über Wiedergutmachungen zumindest nachzudenken.

Die finanzielle, gesundheitliche und rechtliche Benachteiligung schwarzer Menschen sei Folge des Systems weißer Herrschaft, das sich über die vergangenen 150 Jahre seit dem Ende der Sklaverei weiterentwickelt habe, sagte der US-amerikanische Historiker Max Friedman im Dlf. Denn Gesetze und organisierte Gewalt hätten dafür gesorgt, dass die ehemaligen Sklaven über Generationen als billige Arbeitskräfte arm geblieben seien. Auch nach dem Bürgerrechtsgesetz von 1964 sei es schwarzen Menschen und Familien nicht erlaubt gewesen, Häuser in mehrheitlich weißen Nachbarschaften mit guten Schulen zu kaufen.
Dossier: Rassismus
Dossier: Rassismus (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)
Heute besitze die durchschnittliche weiße Familie zehn Mal mehr Vermögen als die durchschnittliche schwarze Familie. Das sei das "Produkt von 150 Jahren gezielter Staatstätigkeit". Friedman fordert Entschädigungszahlungen für die Opfer der Sklaverei. Alle Amerikaner trügen eine Verantwortung.

Das Interview in voller Länge:
Stephanie Rohde: Herr Friedman, Sie sind für Reparationen wegen der Sklaverei. Warum?
Max Friedman: Weil das Ganze nicht nur Geschichte ist, sondern Gegenwart.
Rohde: Inwiefern?
Max Paul Friedman: Die Nachkommen der Sklaverei leiden heute noch, nicht nur unter dem Erbe der Sklaverei, sondern unter einer ganzen Reihe finanzieller, gesundheitlicher, rechtlicher Benachteiligung, die extrem schädlich sind. Zum Beispiel die Lebenserwartung in mehrheitlich schwarzen Städten wie etwa Baltimore oder Detroit ist niedriger als in Nordkorea. Schuld daran ist ein System der weißen Herrschaft, das sich über die letzten 150 Jahre seit dem Ende des Sklaverei sich immer weiter entwickelt hat.
"Das ist das Produkt von 150 Jahre gezielter Staatstätigkeit"
Rohde: Ja, aber konservative Kommentatoren wie David Horowitz zum Beispiel sagen, das ist eigentlich eine falsche Annahme, dass nur Weiße profitiert hätten von diesem gesamtgesellschaftlichen Wohlstand durch die Sklavenarbeit, weil ja auch Nachfahren der Sklaven profitiert hätten. Hat er da nicht einen Punkt?
Friedman: Er drückt damit sehr schön das Konzept von weißen Privilegien aus. Nur so ist seine Perspektive möglich, weil er eigentlich keine Ahnung hat, was heutzutage los ist in schwarzen Gemeinschaften und auch nicht, was nach der Sklaverei passiert ist. Das war nicht nur die Sklaverei, als das Reichtum des Landes gebaut worden ist, sondern nach dem Bürgerkrieg, nach der Befreiung, dann kamen erst mal die Black Codes, das sind lokale und bundesstaatliche Gesetze, die eingeschränkt haben, wo die ehemaligen Sklaven leben durften und arbeiten durften und ob sie reisen konnten, etwa wie die Apartheid in Südafrika. Dann kamen eine ganze Reihe von Gesetzen und auch organisierte Gewalt, nicht nur, um Rassentrennung durchzusetzen, sondern damit die befreiten ehemaligen Sklaven für Generationen arm bleiben würden als billige Arbeitskräfte. Das ging weit in das 20. Jahrhundert und bis in unsere Zeit hinein.
Offiziell gab es ein Ende mit dem Bürgerrechtsgesetz von 1964, aber auch danach war es nicht erlaubt in vielen Bundesstaaten, für schwarze Menschen oder Familien Häuser zum Beispiel in mehrheitlich weißen Nachbarschaften zu kaufen, wo die guten Schulen waren. Eine ganze Reihe von offizieller Politik und Gesetz diente dazu, ist dafür verantwortlich, dass heute die durchschnittliche weiße Familie in Amerika zehn Mal mehr Vermögen besitzt als die durchschnittliche schwarze Familie. Das ist nicht natürlich. Das liegt nicht am Charakter von einzelnen Menschen. Das ist das Produkt von 150 Jahre gezielter Staatstätigkeit.
Die Statue von Colston wird von Demonstranten in den Fluss Avon in Bristol geworfen. 
Historikerin: "Denkmalstürze sind notwendig und wichtig"
Die Historikerin Bettina Brockmeyer hat die weltweit stattfindenden Denkmalstürze als bedeutsam für die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Rassismus bezeichnet. Man müsse aber die Geschichten dahinter erzählen, sagte sie im Dlf.
Rohde: Aber dann, Herr Friedman, ist ja auch die Frage, warum sollte man Entschädigungszahlungen verpflichtend machen für alle? Wäre es nicht überzeugender, wenn jede Institution selber entscheidet, also wie beispielsweise die Georgetown University in Washington, dass sie bestimmte Hilfen leistet an die Nachkommen von jenen Sklaven?
Friedman: Das wäre vielleicht eine schöne Utopie, wo jede große Firma und jede Institution genau das Richtige und Ethische macht.
Rohde: Daran glauben Sie aber nicht.
Friedman: Also ich kenne kein Land, wo das passiert ist. Es gibt einen Grund, warum wir Regierungen haben. Die Regierung repräsentiert die Nation. Die Nation ist dafür verantwortlich. Außerdem gibt es Probleme, die keine private Institution bewältigen kann. Also wir brauchen Gesetze. Genauso wie vor einigen Wochen, plötzlich fast über Nacht hat der Kongress sofort 22 Billionen Dollar für die Opfer der Corona-Pandemie, gesundheitlich und wirtschaftlich, bereitgestellt, und keiner hat damals gesagt, aber halt, warte mal, ich bin nicht für das Coronavirus verantwortlich, warum muss ich dafür bezahlen. Nein, wir haben alle mitgemacht, weil die Not da ist und die Verantwortung.
"Ich bin als Weißer ein Gewinner in einem System"
Rohde: Wenn man jetzt eine verpflichtende Reparationszahlung beschließen würde, argumentieren ja viele, das sei unfair, weil am Ende nicht die Täter zahlen, sondern einfach alle Steuerzahler und möglicherweise auch die profitieren, deren Vorfahren nie Sklaven waren. Was sagen Sie zu diesem Argument, dass Reparationen sowohl die Falschen auf der Seite der Geber treffen und auf der Seite der Empfänger?
Friedman: Ja, also erst mal funktioniert Steuerpolitik nicht so. Also wenn wir zu einer nationalen Gemeinschaft gehört, dann sind wir verpflichtet, für diese Nation zu agieren. Gut, zur Zeit der Sklaverei waren meine Vorfahren noch in irgendeinem Städtl in Litauen und hatten wenige Rechte und waren nicht dafür verantwortlich, aber ich bin in Amerika geboren, und ich habe als Weißer jede Menge Privilegien genossen mit guten Schulen und guten Jobs und guter Behandlung von der Polizei, und ich bin ein Gewinner in einem System, das auf Rassismus fundiert ist. Also ich habe auch eine bestimmte Verantwortung, und die, die das bekommen, ja, also im Prinzip gibt es verschiedene Programme, verschiedene Entwürfe für Entschädigungsideen.
Einige sind sehr spezifisch, nur Menschen, die einen Vorfahren hatten, der als Sklave gelebt hat in den Staaten, und der sich auch als schwarz oder Afroamerikaner identifiziert hat in den letzten zehn Jahren, der würde etwas bekommen. Aber stellen wir uns vor, das klappt nicht, und einige bekommen Entschädigungen nur sozusagen, weil sie schwarz aussehen und haben nicht solche Vorfahren, aber die erleben heutzutage auch die gleiche Diskriminierung und den gleichen Rassismus, die gleiche Gefahr, wenn sie angehalten werden von der Polizei, die gleichen Probleme, wenn sie Arbeit suchen und so. Also die Not ist eine Frage der Gegenwart.
Rohde: Und wenn ich Sie richtig verstehe, Entschuldigung, heißt das, dass alle weißen Menschen eine Verantwortung tragen, auch unabhängig von ihrem jetzigen Status, also unabhängig davon, ob sie jetzt sich als Gewinner oder als Verlierer empfinden.
Friedman: Alle Amerikaner tragen eine Verantwortung, und alle weißen Amerikaner haben Vorteile von diesem System und genießen die Vorteile. Es ist ein bisschen wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Ohne Verbrechen der Gegenwart zu vergleichen, finde ich, dass Deutschland eine Art, na ja, Weltmeister in Verbrechen gegen die Menschheit war und dann Musterschüler in Fragen der Vergangenheitsbewältigung geworden ist.
Protestierende halten Plakate mit der Aufschrift "Black Lives Matter" in die Höhe. 
US-Politologin- "Rassismus ist fest in den Institutionen verankert"
Die Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt nach dem Tod von George Floyd hätten in den USA neue politische Impulse freigesetzt, sagte Politologin Joyce Mushaben im Dlf. Doch die Menschen müssten bereit sein, selbst in die Politik einzusteigen.
Rohde: Sie meinen die Entschädigungszahlungen für die von den Nazis begangenen Unrechtstaten, das meinen Sie?
Friedman: Genau. Ja, und diese Entschädigungszahlungen kamen von deutschen Steuerzahlern, auch die kleine Minderheit, die im Untergrund gelebt haben und gegen die Nazis agiert haben, sie haben auch Steuern bezahlt, obwohl sie nicht dafür verantwortlich waren, und die, die das bekommen haben, gut, die Überlebende der Shoah, aber auch der Staat Israel hat große Summen bekommen, und in Israel lebten viele Menschen, die eigentlich nichts mit dem Zweiten Weltkrieg oder der Shoah zu tun hatten. 20 Prozent waren Araber, viele waren Juden aus anderen arabischen Staaten. Das, finde ich, ist ein ordentliches Modell.
"Die amerikanische Regierung hat eine große mehrheitliche weiße Mittelklasse geschaffen"
Rohde: Und was folgt dann daraus? Also bedeutet das, dass man eher auf Barzahlungen an Einzelne setzen sollte, oder sollte man auf einen wie auch immer gearteten Ausgleich ungleicher Startchancen und Investitionen in die schwarzen Communities setzen?
Friedman: Beides, beides ist erforderlich, weil befreite Sklaven und ihre Nachkommen hatten nichts als ihre Freiheit nach der Sklaverei, kein Startkapital, kein Land. Es wurde ihnen versprochen, aber nach dem Bürgerkrieg bekamen sie nichts, und weiße Amerikaner bekamen pro Kopf 160 Morgenland, um sich westlich des Mississippi niederzulassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den USA bekamen vor allem weiße Veteranen Hilfe mit Bildung und Wohnungen und für die Gründung von kleinen Geschäften und so. So hat die amerikanische Regierung eine große mehrheitliche weiße Mittelklasse geschaffen.
Solche Maßnahmen sind jetzt erforderlich auch für unsere schwarzen Mitbürger sozusagen, aber um diese Not zu bewältigen, die so tief geht, brauchen wir beides: individuelle Hilfe und auch Hilfe für Institutionen wie Schulen und Krankenhäuser und Kliniken und alles, was eine Gemeinschaft braucht, um weiter voranzukommen.
Der Historiker Max Paul Friedman
Der Historiker Max Paul Friedman (American University / Jeff Watts)
Rohde: Das "Harpers Magazine" hat mal geschätzt, dass das 97 Billionen Dollar insgesamt sind, was da angefallen ist an Sklavenarbeit, die nicht entlohnt wurde. Sehen Sie denn in den USA, in der Gesellschaft, gerade Signale dafür, dass die Menschen bereit wären, auch nur annähernd solche Entschädigungssummen zu zahlen?
Friedman: Die weißen Amerikaner noch nicht. Ungefähr die Hälfte der schwarzen Amerikaner sind dafür. Keiner redet von 97 Billionen morgen. Das wird ein langer Prozess sein. Aber nur zehn Prozent aller weißen Amerikaner sind dafür im Moment, und das ist natürlich politisch schwierig, aber es hat auch damit zu tun, dass viele weiße Amerikaner, die Mehrheit eigentlich, keine Kenntnisse haben über solche Fragen.
Weiße Amerikaner zum Beispiel, laut Umfragen, sagen, ja, schwarze Amerikaner, gut, sie haben nicht so viel wie wir, sie haben wahrscheinlich etwa 90 Prozent so viel Besitz wie weiße Amerikaner – aber sie haben nur zehn Prozent so viel. Wenn die Wahrheit erkannt wird, vielleicht ändern sich die Meinungen, genauso wie diese Bilder des Mordes an George Floyd die Kenntnisse und Meinungen von so vielen Menschen rasant schnell geändert haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.