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US-Journalismusforscher
"Politik-Journalismus ist kaputt"

Der US-Wissenschaftler Jay Rosen findet, dass Journalisten zu viel über Politiker berichten und zu wenig über Politik. Im Deutschlandfunk sagte er, es sei wichtiger, über das zu berichten, was Bürger beschäftigt, nicht über das, was Politiker tun.

Jay Rosen im Gespräch mit Sandro Schroeder |
    Journalisten fotografieren US-Präsident Donald Trump und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihren Smartphones.
    Journalisten fotografieren US-Präsident Donald Trump und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihren Smartphones. (picture alliance / Michael Kappeler / dpa)
    Jay Rosen: Mein Name ist Jay Rosen. Ich lehre Journalismus an der New York University und ich bin in diesem Sommer ein Fellow der Robert-Bosch-Stiftung in Berlin.
    Sandro Schroeder: Warum sind Sie nach Deutschland gekommen?
    Rosen: Die Bosch-Stiftung hat mich eingeladen und mir angeboten, als Fellow nach Berlin zu kommen und Deutschland kennenzulernen. Ich habe mich entschieden, weil ich noch nie in Berlin war, den Sommer hier zu verbringen. Ich möchte mich mit der deutschen Presse beschäftigen, insbesondere mit einem Konzept, dass ich "Pressthink" nenne ("Pressedenken"). Damit meine ich die gemeinsamen Konzepte und Ideen der Presse, die alle Journalisten gemeinsam haben, entweder weil sie sie als gegeben ansehen oder sie unbewusst haben.
    USA: Journalismus als "Lebenselixier der Demokratie"
    Schroeder: Was ist Ihrer Meinung nach das "Pressedenken" zurzeit in den USA? Was macht aus Ihrer Sicht den Journalismus in den Vereinigten Staaten aus?
    Rosen: "Pressthink" in den Vereinigten Staaten besteht aus den Ideen wie: "Wir sind der einzige Beruf, der im ersten Verfassungszusatz erwähnt wird", was nebenbei bemerkt nicht stimmt. Das First Amendment der US-amerikanischen Verfassung erwähnt Journalismus als Beruf gar nicht, er heißt dort: "Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Pressefreiheit einschränkt." Oder: "Wir sind das Lebenselixier der Demokratie". Die Vorstellung von Journalismus als Kontrollinstanz von Macht, aber auch Vorstellungen davon, was professionellen Journalismus definiert, sind Teil von "Pressthink". Und dann sind da deutlich subtilere Ideen, an die Journalisten unbewusst glauben. Beispielsweise interessiert mich, warum die meisten US-amerikanischen Journalisten davon ausgehen, dass es im Journalismus keinen Ideologiewechsel geben kann, weil Journalisten angeblich keine Ideologie haben könnten. Das ist ein Beispiel für "Pressthink".
    "Nie in einer Redaktion gearbeitet"
    Schroeder: Sie sind auch Medienkritiker, aber kein gelernter Journalist.
    Rosen: Korrekt.
    Schroeder: Ist es für Sie einfacher, die Presse zu kritisieren, weil Sie kein Teil davon sind - oder ist es deswegen schwerer?
    Rosen: Beides stimmt. Mir wird ständig von US-Journalisten gesagt, dass ich keine Ahnung hätte, weil ich nie in einer Redaktion gearbeitet habe, und was ich überhaupt wissen könne, wenn ich nicht selber als Journalist tätig bin. Andererseits, eben weil ich nicht mein Leben in einer Redaktion verbracht habe, habe ich einen gewissen Abstand. Und ich habe eine andere Ausbildung: Ich habe in Medienwissenschaft promoviert - und in meiner Doktorarbeit habe ich mich mit dem Konzept von Öffentlichkeit als Adressaten der Presse beschäftigt. Weil ein Teil des "Pressedenkens" von Journalisten in den USA ist es, dass alle ihre Praktiken im Sinne und zum Vorteil der Öffentlichkeit sind. Nach sechs Jahren Forschung ist es mein Vorteil, dass ich sehr genau weiß, was "die Öffentlichkeit" als Adressaten der Presse ausmacht. Und ich weiß, was "Öffentlichkeit" von einem "Publikum" unterscheidet. Das ist ein Vorteil gegenüber Journalisten, den ich habe. Ich verstehe meine Rolle so: In einigen medizinischen Fakultäten gibt es Lehrkräfte, die keine Ärzte sind - sondern Soziologen, die sich mit dem Medizinerberuf beschäftigen und untersuchen, wie Mediziner ihre Arbeit erklären, wie sie ihre Autorität erlangen. An manchen medizinischen Fakultäten unterrichten diese Soziologen die nächste Generation von Ärzten darin, wie sich ihr Beruf bis zum heutigen Stand entwickelt hat. Und so verstehe ich meine Rolle in der Journalismus-Ausbildung.
    Viele Redaktionen haben mittlerweile einen Newsroom eingerichtet, wie hier Mitarbeiter des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) im provisorischen Madsack-Newsroom.
    Eröffnung Madsack-Newsroom (dpa / picture alliance / Ole Spata)
    "Die Kritik geht in beide Richtungen"
    Schroeder: Und akzeptieren Journalisten Ihre Kritik?
    Rosen: Einige, ja. (Lacht.) Viele Journalisten folgen mir in den sozialen Medien. Einige verfolgen meine Kritiken, einige argumentieren gerne mit mir und einige Journalisten reagieren überhaupt nicht auf meine Kritik, selbst wenn ich direkt über sie spreche. Aber ich fühle mich wohl mit der Beziehung, die ich zur amerikanischen Presse habe. Die Kritik geht in beide Richtungen.
    Schroeder: Das heißt, Sie werden auch von Journalisten kritisiert?
    Rosen: Natürlich, ständig. Ich werde kritisiert, ich werde zum Teil angegriffen - wenn auch weniger als früher. Ich kenne viele Journalisten, ich respektiere sie, ich bin mit einigen befreundet, ich mag es mit ihnen zu sprechen. Ich arbeite mit Journalisten zusammen, die ihre Praktiken ändern wollen, ich habe an Experimenten und Innovationsprojekten von Journalisten mitgewirkt. Ich besuche Journalisten-Konferenzen, Redaktionen. Also ich engagiere mich im Journalismus, aber bin selber nicht Teil der Presse.
    "Sicht von nirgends" – ein unwahrscheinlicher Anspruch
    Schroeder: Sie sprechen viel über den Begriff "view from nowhere" ("Sicht von nirgends, "Blick von nirgendwo"). Dafür sind Sie bekannt. Wofür steht diese "Sicht von nirgends"?
    Rosen: Die "Sicht von nirgends" ist mein Begriff für die Art und Weise, wie US-amerikanische Journalisten versuchen, ihre Autorität in der Gesellschaft zu etablieren. Es ist ihr Argument, mit dem sie arbeiten, um zu zeigen, warum man ihnen Aufmerksamkeit schenken soll. Dieses Argument der Journalisten geht so: "Wir haben keinen Standpunkt, wir haben keine Ideologie, wir haben keine Philosophie, wir haben keine Interessen und keine Beteiligungen. Wir haben keine Vorurteile, wir versuchen niemanden zu überzeugen. Wir liefern nur die Fakten."
    Das ist die "Sicht von nirgends". Ich habe diesen Begriff gewählt, weil ich damit veranschaulichen will - für Journalisten und ihr Publikum - warum es so unwahrscheinlich ist, diesen Anspruch tatsächlich zu erfüllen. Deswegen habe ich eine Kritik an der "Sicht von nirgends" entwickelt. Ein Teil davon ist: Wenn US-Journalisten heute diesen Anspruch erheben, keinen Standpunkt zu haben und angeblich nur Fakten zu berichten, dann akzeptieren US-Amerikaner das zunehmend nicht mehr. Sie misstrauen diesem Argument. Und wenn diesem Argument misstraut wird, dann werden Journalisten diese Menschen nicht vom Gegenteil überzeugen, indem sie immer wieder mit diesem Argument arbeiten.
    Weswegen ich glaube: Es ist viel einfacher, Journalisten zu vertrauen, die nicht die "Sicht von nirgends" einnehmen, sondern stattdessen so argumentieren: "Das ist mein Hintergrund. Und außerdem habe ich sehr viel Recherchearbeit geleistet, Fakten gesammelt, viele Menschen befragt, Dokumente aufgetrieben, habe mich in dieses Thema angearbeitet." Ich glaube, die Aussagen "Das ist mein Standpunkt" und "Das habe ich herausgefunden" sind deutlich überzeugender und wirkmächtiger, als die "Sicht von nirgends".
    Transparenz – ein Weg, um Vertrauen zu schaffen
    Schroeder: Also ist es eine Frage von einerseits Transparenz und andererseits von Recherche und Fachwissen?
    Rosen: Genau. Der Internet-Philosoph David Weinberger hat vor mehr als zehn Jahren gesagt: "Transparenz ist die neue Objektivität". Das heißt, es ist einfacher für die Menschen, Journalisten zu vertrauen, wenn sie sagen können, "Das ist mein Standpunkt" oder "Schauen Sie selbst, hier sind meine Daten, meine Zahlen, meine Interviews". Transparenz kann auch heißen: "Hier sind unsere Prioritäten als Nachrichtenmagazin, als öffentliches-rechtliches Radio. Das sind die Themen und sich entwickelnde Nachrichten, die wir für wichtig halten und über die wir berichten werden." Das ist eine Art von Transparenz. "So setzen wir unser Geld ein" ist Transparenz. Menschen um Hilfe bei einer Recherche zu bitten, ist eine Form von Transparenz. Weil wenn Menschen sich an einer Recherche beteiligen, indem sie Informationen im Internet sammeln, Aufzeichnungen durchsuchen oder als Quellen dienen, dann lernen diese Menschen, wie Journalismus funktioniert. "So arbeiten wir", das ist auch Transparenz. Wenn man all das zusammennimmt, ist das ein anderer Weg, um Vertrauen in den Journalismus zu schaffen.
    Schroeder: Glauben Sie, dass das wirklich Menschen überzeugt, die alle Medien als "Fake News" bezeichnen. Ist Transparenz da wirklich eine Lösung, um diese Menschen wieder zu erreichen?
    Rosen: Ich glaube nicht, dass es eine Lösung ist. Und ich glaube nicht, dass Menschen, die davon überzeugt wurden, die Medien zu hassen - besonders durch unseren Präsidenten Donald Trump - einfach umschalten, die Seiten wechseln, weil Journalisten sich für mehr Transparenz entscheiden. Ich glaube, wir sind in den Vereinigten Staaten gerade in einem Kreislauf, in dem Misstrauen in die Medien eine Art politische Bewegung mit jeder Menge Dynamik geworden ist. Zurzeit ist es sehr schwer, diese Dynamik zu bremsen, weil sie von der Spitze der Gesellschaft kommt, vom Präsidenten der USA, der für diese Botschaft das größte Mikrofon von allen hat. Deswegen glaube ich nicht, dass Transparenz dieses Problem lösen wird. Aber sie ist eine gute Angewohnheit für eine Zeit des Misstrauens in die Medien. Aus meiner Sicht sollten Journalisten diese Praktik einüben, um für den Tag vorbereitet zu sein, an dem ihnen möglicherweise wieder Vertrauen von Donald-Trump-Fans geschenkt wird.
    Die US-amerikanische Presse und Trump
    Schroeder: Wir haben jetzt das erste Drittel der Präsidentschaft von Donald Trump erlebt. Was glauben Sie, hat die US-amerikanische Presse in dieser Zeit bisher gelernt, verstanden und in ihrer Praxis verändert?
    Rosen: Ich glaube, die Presse hat gelernt, dass sie Donald Trump schon früh in seinem Aufschwung sehr viel kostenlose Sendezeit und kostenlose Öffentlichkeit geschenkt haben, weil er neu, neuartig, unterhaltsam und haarsträubend war. Mittlerweile verstehen Journalisten, dass das vielleicht nicht die klügste Idee war. Sie haben gelernt, dass sie manchmal falsche Aussagen auch direkt als "Lügen" bezeichnen müssen. Oder zumindest ihre Leser, Zuhörer und Zuschauer es wissen lassen müssen, wenn eine Aussage des US-Präsidenten nicht richtig ist. Und wenn sie es tun, dass sie dabei auch viel direkter sein müssen.
    US-Präsident Donald Trump spricht nach der Vorstellung seiner Steuerreform im Weißen Haus zur Presse.  
    US-Präsident Donald Trump steht vor drei Mikrofonen nach der Vorstellung seiner Steuerreform. (AFP/Saul Loeb)
    Journalisten fangen gerade an zu verstehen, dass, wenn sie Donald Trump einfach nur zu zitieren, wenn sie einfach nur wiederholen, was er in Reden oder Tweets sagt, dass sie ihm damit gewissermaßen assistieren oder helfen. Und dass das vielleicht keine so gute Idee ist. Die Debatte darüber fängt aber gerade einmal an. Und Journalisten lernen gerade, dass, wenn sie ihre gewohnten Regeln für Nachrichtenwert anwenden, dass Donald Trump die Nachrichtenagenda jede Woche komplett dominiert. Ob das eine gute Idee ist, wird gerade diskutiert. Aber ich glaube, die Debatte über all das ist noch nicht weit gekommen. Weil Journalisten bisher noch keine Alternative zu ihrer bisherigen Praxis gefunden haben. Und sie sind sich jetzt bewusst, dass Trumps Angriffe auf die Medien tatsächlich eine Wirkung haben, dass sie nicht aufhören werden. Die meisten Journalisten wissen jetzt, dass das eine ernste Angelegenheit ist. Auch wenn es noch einige gibt - darüber habe ich geschrieben - die glauben, diese Angriffe auf die Presse seien nur Theater und letztlich nicht relevant. Aber ich glaube, diese Auffassung verschwindet auch langsam.
    Trumps Angriffe auf die Presse: "Das wird langsam langweilig"
    Schroeder: Wie sollen Journalisten reagieren, wenn Donald Trump die Presse als "Fake News" oder als "Staatsfeinde" bezeichnet? Wie sollen Journalisten damit umgehen?
    Rosen: Gerade würde ich sagen: Das wird langsam langweilig, Journalisten sollten es nicht aufbauschen, weil diese Angriffe nicht neu sind. Sie sollten diese Angriffe nicht drei Tage lang die Schlagzeilen bestimmen lassen. Sie sollten sich darauf konzentrieren, was sich tatsächlich in den Leben der Menschen verändert und nicht darauf, welche haarsträubende Aussage der US-Präsident heute von sich gegeben hat. Ich denke, das wäre ein sinnvoller Umgang.
    Schroeder: Sollen Journalisten zu Aktivisten werden, sich und ihren Beruf lautstark verteidigen? Oder sollen sie das leiser tun, indem sie einfach weiter ihre Arbeit tun?
    Rosen: Sicherlich ist es ein Weg, einfach weiter gute Arbeit zu leisten. Aber: Alle Präsidenten haben bisher eine freie Presse als Teil einer gereiften Demokratie unterstützt. Von amerikanischen Präsidenten wird beispielsweise erwartet, das Oberste Gericht und das Gerichtswesen zu respektieren. Es wird erwartet, dass amerikanische Präsidenten Wahlen als wichtige Rituale der Demokratie respektieren, dass sie die freie Meinungsäußerung verteidigen. Und bisher wurde auch erwartet, dass US-Präsidenten die Presse als Institution respektieren, auch wenn sie selbst frustriert von der Presse sind. Wenn Trump all das eindeutig nicht tut, das alles nicht respektiert, sogar angreift, untergräbt und die US-Amerikaner gegen die Presse hetzt, dann muss das thematisiert werden. Dann muss darüber gesprochen werden, weil das anders ist als bei den bisherigen Präsidenten, egal ob sie Demokraten oder Republikaner waren.
    Ein Beispiel: Wenn ein US-Präsident in andere Länder reisten, dann reiste die Presse mit ihm, und es gab eine gemeinsame Pressekonferenz mit den Staats- und Regierungschefs der anderen Länder. Bei diesen Pressekonferenzen konnten die US-amerikanische und auch die ausländische Presse Fragen stellen, an beide Staatsoberhäupter. In einigen Ländern war das die einzige Chance für die lokale Presse, einmal im Jahr Fragen an das Staatsoberhaupt zu stellen – beispielsweise in Thailand, Burma oder China. Das war ein wichtiges Ritual, auf das die US-Präsidenten und das Außenministerium bisher bestanden haben. Weil Pressefreiheit ein Teil der US-amerikanischen Demokratie war und ein Teil des guten Beispiels war, das die USA im Rest der Welt gegeben haben.
    Es gab eine Zeit, da war die US-amerikanische Presse ein wichtiges Beispiel für Journalisten weltweit, um Pressefreiheit zu demonstrieren, um zu zeigen, was es bedeutet, wenn eine Regierung von Journalisten streng befragt und zur Rechenschaft gezogen wird. Das war etwas, bei dem sich US-amerikanische Journalisten, US-Präsidenten und Regierungsmitarbeiter einig waren. Jetzt haben wir einen Präsidenten, der an erster Stelle die US-amerikanische Presse angreift und untergräbt. Das ist außergewöhnlich, und ich glaube, die US-Amerikaner sollten gesagt bekommen, wie extrem ungewöhnlich das ist und was für ein Bruch mit den Traditionen damit verbunden ist.
    Die "New York Times" normalisiert Trump
    Verschiedene Ausgaben der US-Zeitung "New York Times" liegen auf einem Tisch
    Verschiedene Ausgaben der US-Zeitung "New York Times". (dpa / Ole Spata)
    Schroeder: Sie sind sehr aktiv auf Twitter. Ich lese häufig, dass Sie die "New York Times" kritisieren. Ich verstehe Ihre Kritik so, dass die "New York Times" nicht ausreichend zeigt, wie ungewöhnlich das Verhalten von Donald Trump ist. Warum versucht die "New York Times", Donald Trump zu normalisieren?
    Rosen: Ich glaube, das ist eine generelle Tendenz der US-amerikanischen Presse. Es ist nicht nur die "New York Times". Aus meiner Sicht ist das Problem dort gewesen, überhaupt zu realisieren, dass die "New York Times" genau das getan hat: Donald Trump normalisieren. Deswegen kritisiere ich das. Die Ursache dahinter ist, glaube ich, dass Donald Trumps Politik-Stil eine Herausforderung ist - für alle Etablierten im Politik-Betrieb und im Journalismus. Er bricht alle Regeln, alle Erwartungen an Politiker. Und das System der Berichterstattung über das Weiße Haus, über US-Präsidenten basierte auf bestimmten Annahmen, wie Präsidenten sich verhalten. Donald Trump folgt diesen Regeln und Annahmen nicht. Eine Annahme ist beispielsweise, dass die Pressesprecher des Weißen Hauses die Position des Präsidenten vertreten. Im Weißen Haus unter Trump müssen die Aussagen der Pressesprecher nichts damit zu tun haben, was der Präsident denkt. Damit ist die bisherige Praxis einfach zerstört, weil die Grundannahme schon falsch ist. Das ist nur ein Beispiel, es gibt hunderte davon. Damit sind viele eingeübte Praktiken und Routinen für US-amerikanische Journalisten bei Donald Trump nicht mehr anwendbar oder sogar kontraproduktiv oder komplett zerstört. Normalisierung passiert, weil Journalisten sich Normalität wünschen, sie wollen ihre normalen Routinen nutzen können, den alten Regeln folgen und tun, was sie immer getan haben. Mit Donald Trump ist das schlicht nicht möglich. Es dauert einige Zeit, bis Journalisten das realisieren, und deswegen kritisiere ich sie dafür.
    "Journalisten haben Kontakt zu Menschen verloren"
    Schroeder: Sie haben geschrieben: "Politik-Journalismus ist kaputt".
    Rosen: Ja.
    Schroeder: War Politik-Journalismus bereits vor Donald Trump "kaputt"?
    Rosen: Ja.
    Schroeder: Was war vor Donald Trump schon "kaputt"?
    Rosen: Ich glaube, in den 1980er Jahren ist die politische Presse in den Vereinigten Staaten falsch abgebogen. Aber nicht nur dort. Den Blog-Beitrag, auf den Sie sich da beziehen, war ursprünglich eine Rede, die ich in Australien gehalten habe. Dort ist dasselbe passiert, genauso in Kanada, wahrscheinlich auch in Deutschland - auch wenn ich mir da noch nicht ganz sicher bin. In den 1980ern hat die US-Presse angefangen, sich in ihrer Berichterstattung auf Politik-Profis zu konzentrieren, deren Job ist es, die Wählerschaft zu verstehen und Wahlen zu gewinnen, Medienkampagnen zu entwerfen. Spin-Doktoren beispielsweise - Sie haben diesen Begriff auch in Deutschland. Politik-Journalisten haben begonnen, denselben Blick auf die Öffentlichkeit zu bekommen wie diese Politik-Profis, die dafür bezahlt werden, diese Öffentlichkeit zu manipulieren. Journalisten haben begonnen, über diese Insider zu berichten, über Strategien und über Politik als Spiel von Insidern, die mit der Medienaufmerksamkeit spielen und Wahlen gewinnen. Journalisten haben begonnen, fast mit Bewunderung über Menschen zu berichten, die dieses Spiel beherrschen.
    Durch diesen Blick auf die Wählerschaft haben Journalisten den Kontakt zu Menschen verloren, die Politik nicht verfolgen, weil sie dieses Spiel mögen, sondern weil sie ungelöste Probleme in ihrem Alltag haben. Menschen, die Arbeit brauchen, bessere Schulen brauchen, Straßen - und die wollen, dass sich ihre Gemeinde gut entwickelt. Irgendwie hat sich so ein nahezu fataler Verbindungsabbruch entwickelt, zwischen Politik-Journalismus und demokratischen Öffentlichkeit. Ein Grund ist diese Insider-Berichterstattung. Und das hat letztendlich dazu beigetragen, den Nährboden für Donald Trump und seinem Misstrauen in die Medien zu schaffen.
    Kent Logsdon, Geschäftsträger US-Botschaft im Hintergrundgespräch beim DLF am 24.07.2017.
    Auch im Deutschlandfunk finden immer wieder sogenannte Hintergrundgespräche statt, aus denen nicht zitiert werden darf. Hier Kent Logsdon, der damalige Geschäftsträger der US-Botschaft, im Hintergrundgespräch im Dlf im Juli 2017. (Deutschlandradio / Ellen Wilke)
    Hintergrundgespräche: "Fragwürdige Praxis"
    Schroeder: Glauben Sie, dass ein Teil dieses Problems auch die Hintergrundgespräche von Journalisten sind, aus denen nichts zitiert werden kann?
    Rosen: Ich denke, das ist eine fragwürdige Praxis. Es ist ein Symptom einer Politik-Presse, die zu nah an diesem Insider-Spiel dran ist. Hintergrundgespräche sind auch ein Mittel, das politische Akteure nutzen, um den Wettbewerb zwischen Journalisten ausnutzen, um alle Journalisten zu entmachten. Das ist ein Teil. Und es ist auch der Widerwille, mit der bisherigen Praxis zu brechen. Da ist diese Trägheit, das weiter zu tun, weil es Hintergrundgespräche schon immer gab. Das trägt auch dazu bei. Aber ich glaube, wir haben einen Punkt erreicht, an dem es absurd wird. Die Hintergrundgespräche im Weißen Haus haben jetzt oft nichts mit dem zu tun, was Donald Trump am selben Tag oder in der nächsten Woche sagen wird. Damit werden dort nicht einmal mehr wertvolle Informationen gegeben, weil Journalisten nicht sicher sein können, dass sie wirklich mit dem übereinstimmen, was der Präsident tatsächlich tun wird.
    Ein anderer Punkt, auf den ich Journalisten hinweise – unglücklicherweise ohne echten Erfolg: Das ganze Konzept "Weißes Haus" trifft nicht mehr zu. Das "Weiße Haus" ist ein Weg, um über die Regierung eines US-amerikanischen Präsidenten zu berichten. Das "Weiße Haus" steht für diese Menschen, die den Präsidenten vertreten, die unterstützen und erklären, was er sagt. Seine Botschaften weitertragen und damit seine Entscheidungen erweitern, indem sie diese erklären und verteidigen. Das Weiße Haus kann deswegen sprechen, obwohl es nur ein Gebäude ist. Wir können deswegen sagen "Das Weiße Haus teilte mit", weil das Weiße Haus mit dem Denken des Präsidenten verbunden ist. Aber mit der Art und Weise, mit der Donald Trump in seiner Präsidentschaft agiert, hat dieses Konzept überhaupt keine Gültigkeit mehr. Was das Weiße Haus kommuniziert, muss nichts mit dem zu tun haben, was der Präsident tut. Damit ist die ganze Annahme, dass das Weiße Haus stellvertretend sprechen könnte, falsch. Aber Journalisten benutzen diese Formulierung noch immer, weil sie sich selbst darüber definieren. Sie sagen: "Ich bin ein Korrespondent im Weißen Haus. Ich arbeite im Weißen Haus". Sie können dieses Konzept nicht aufgeben, obwohl es überhaupt keinen Sinn macht.
    Derzeit keine Chance, dass Vernunft gewinnen wird
    Schroeder: Der CEO der "New York Times", Mark Thompson, hat gesagt: "Die Fake-News-Aktivisten mögen einige Menschen für den Moment überzeugt haben, dass Oben jetzt Unten ist. Aber auf kurz oder lang werden die blanke Realität und Vernunft diesen Kampf um die Deutungshoheit zu Gunsten der Fakten gewinnen." Sie haben geschrieben, dass Sie das auch mal geglaubt hätten, mittlerweile aber nicht mehr davon überzeugt sind. Warum?
    Rosen: Ich glaube mittlerweile, es ist eine naive Perspektive zu glauben, dass letztendlich die Vernunft immer gewinnen wird und Fakten sich immer gegen Propaganda durchsetzen werden. Wir haben so viele Beispiele in der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts dafür, dass Propaganda gewinnen kann. Fragen Sie beispielsweise Menschen in der Balkan-Region. Das ist ein aktuelles Beispiel. Propaganda hat dazu beigetragen, das ehemalige Jugoslawien auseinanderbrechen zu lassen. Außerdem sind wir in den Vereinigten Staaten jetzt in einer Situation, in der ein Drittel der Wählerschaft nicht nur prinzipiell den Medien misstraut, sondern auch versucht, den Journalismus zu diskreditieren und zu attackieren. Dieses Drittel akzeptiert nur noch die Worte von Donald Trump als Quelle für Nachrichten über Donald Trump. In anderen Worten: Diese Menschen haben akzeptiert, dass ihre Nachrichtenquelle über Trump auch Trump selbst sein sollte. Das ist ein autoritäres Nachrichtensystem, das jetzt gerade existiert, in den Vereinigten Staat, für ein Drittel der Wählerschaft. Das ist Alltag. Für diese Gruppe von Menschen besteht derzeit keine Chance, dass Vernunft und faktische Realität am Ende die Diskussion gewinnen werden. So ist dieser Teil der Öffentlichkeit gerade nicht veranlagt. Ich sehe zurzeit nichts, was diesen Umstand verändern könnte. Langfristig, mit einer Perspektive von 50 Jahren, kann sich das vielleicht verändern. Aber ich glaube nicht daran, dass Fakten immer obsiegen werden, dass Realität sich immer automatisch durchsetzen wird.
    Ein Zeitungsstand, aufgenommen am 22.05.2012 in Chicago, Illinois/USA.
    Ein Zeitungsstand in Chicago (dpa-Zentralbild/ Peer Grimm)
    Verbindungen zwischen den Problemen im Kleinen und Großen herstellen
    Schroeder: Zeitgleich profitiert die Presse in den USA von Donald Trump.
    Rosen: Korrekt.
    Schroeder: Die Medien haben mehr Zuschauer, mehr Leser, mehr Abos. Glauben Sie, die Presse wird wirklich etwas an ihrer Praxis ändern, um dieses eine Drittel der Öffentlichkeit zu erreichen, wenn sie in den letzten anderthalb Jahren doch mehr Abonnenten bekommen haben?
    Rosen: Niemand in der Presse hat derzeit eine Strategie, um dieses Drittel zu erreichen.
    Schroeder: Wer ändert das?
    Rosen: Das ist zurzeit ein ungelöstes Problem.
    Schroeder: Was glauben Sie, was wäre ein Ansatz für Journalisten, um dieses Drittel wieder zu gewinnen, das keinem Journalismus mehr glaubt?
    Rosen: Ein Teil ist der schon angesprochene Wechsel zu Transparenz, zu radikaler Transparenz. Das ist ein Weg, um Vertrauen zu schaffen - der aber zumindest für einen Großteil dieses Drittels sowieso nicht funktionieren wird, aber zumindest diejenigen erreichen kann, die anfangen, den Informationen zu misstrauen, die vom Präsidenten kommen. Das ist eine Antwort.
    Eine andere Antwort ist die Unterscheidung, die der Soziologe C. Wright Mills in den 1950er-Jahren vorgenommen hat. Er hat unterschieden zwischen persönlichen Problemen – "troubles" – und gesamtgesellschaftlichen Problemen – "issues". Das könnte auch für deutsche Journalisten relevant sein. "Troubles" sind persönliche Probleme, die Menschen in ihrem Leben beschäftigen, über die sie mit ihrer Familie am Abend reden, weil sie sich darüber Sorgen machen. Probleme, die in ihrem täglichen Leben auftreten. "Issues" sind öffentliche Problemfelder, über die in der Politik gestritten wird und die in den Nachrichten thematisiert werden. Das Argument von C. Wright Mills bei dieser Unterscheidung ist: Wenn öffentliche, institutionelle Problemfelder nicht mehr mit persönlichen Problemen verbunden sind und wenn persönliche Probleme nicht mehr als öffentliche Problemfelder formuliert werden, dann gibt es eine Demokratiekrise.
    Deswegen ist ein Ansatz für Journalisten: Sie müssen ihre journalistische Routinen so verändern, dass Journalisten ein besseres Verständnis der persönlichen Probleme der Menschen haben als die Politik. Sodass Journalisten anfangen können, die Verbindungen zwischen den Problemen im Kleinen und den Problemen im Großen herzustellen. Das ist natürlich eine Antwort, die nur einen Professor wie mich zufriedenstellt. Sie sagt nichts darüber aus, wie Sie Ihren Journalismus betreiben sollen. Aber Sie haben mich gefragt, was ein Ansatz wäre, und ich glaube, die Lösung liegt in diese Richtung. Ich weiß nicht genau, wie man das in den journalistischen Alltag überträgt, aber die Lösung geht in diese Richtung.
    Journalisten: die Opposition zu einer antidemokratischen Politik
    Schroeder: Der Chefredakteur der "New York Times", Dean Baquet, hat gesagt: Es ist nicht die Aufgabe von Medien und Journalisten, die Opposition zu sein. Aber zurzeit, besonders unter Donald Trump, werden Journalisten in die Opposition gezwungen. Sollen Journalisten explizit gegen Donald Trump sein, oder ist es besser, sich in diesem Kampf nicht zu engagieren?
    Rosen: So habe ich das für mich durchdacht: Ich denke, es hat keinen Sinn, wenn Journalisten die politische Opposition zu Donald Trump werden. Dafür gibt es oppositionelle Parteien. Nichtsdestotrotz gibt es bestimmte Handlungen von Trump und seiner politischen Bewegung, die antidemokratisch sind und die Institutionen der Demokratie angreifen. Hier müssen Journalisten - die meiner Meinung nach eine dieser Institutionen sind - dieser politischen Bewegung entgegentreten. Ich habe es so formuliert: Es hat keinen Sinn, wenn Journalisten die politische Opposition zu Donald Trump werden – aber sie müssen die Opposition zu einem Politik-Stil sein, in dem die Mächtigen ihre eigene Erzählung schreiben. Genau das passiert gerade für ein Drittel der Wählerschaft. Die Person mit der Macht ist die Quelle für Nachrichten. Das ist eine verstörende Entwicklung, das ist der Abbau der US-amerikanischen Demokratie. Und ich glaube, Journalisten können in dieser Sache die Opposition sein, dem entgegentreten ohne die politische Opposition zu Donald Trump zu sein.
    FDP-Parteichef Christian Lindner, der stellvertretende Parteivorsitzende Wolfgang Kubicki und Generalskretärin Nicola Beer auf der Pressekonferenz nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche für eine sogenannte Jamaika-Koalition. 
    In der Bundespressekonferenz werden Politiker von Journalisten befragt - und sind dort nur zu Gast. Hier die FDP-Politiker Christian Lindner, Wolfgang Kubicki und Nicola Beer nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche für eine sogenannte Jamaika-Koalition im Jahr 2017. (imago / Emmanuele Continix)
    Eine Sache will ich noch erwähnen: In einem sehr bekannten Essay hat der berühmte deutsche Soziologe Max Weber geschrieben: Politik ist eine Berufung. Einige Menschen leben von der Politik, einige leben für die Politik. Menschen, die von Politik leben, sind professionelle Handlanger, Spin-Doktoren, Politiker. Für sie ist Politik ein Beruf, es ist ihr Geschäft, es ist ihre Branche. Menschen, die für Politik leben, engagieren sich, weil sie die Gesellschaft verändern oder ihre Probleme lösen wollen, sie wollen etwas erreichen: Ein besseres Deutschland, ein besseres Amerika. Irgendwie müssen Journalisten ihre Verbindungen zu den Menschen reduzieren, die von Politik leben und ihre Verbindungen zu Menschen stärken, die für Politik leben. Journalisten müssen diesen Menschen besser zuhören. Das ist schwierig, das dauert – aber in dieser Richtung liegt ein besserer Journalismus, glaube ich.
    Das deutsche Pressedenken untersuchen
    Schroeder: Sie sind für drei Monate nach Deutschland gekommen, um das deutsche "Pressthink", das deutsche "Pressedenken" zu untersuchen. Sie sind jetzt zwei Wochen hier. Was ist für Sie spannend an den deutschen Medien und wie sie gegründet wurden?
    Rosen: Was ich zuerst gelernt habe: Deutschland hatte eine florierende, freie, lebendige Presse in der Weimarer Republik, die von den Nazis zerstört wurde. Alle in der Presse wurden entweder getötet, verhaftet oder zu Propagandisten gemacht. Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren nur die Ruinen des Journalismus übrig. Dann haben die US-Amerikaner und die Briten den Wiederaufbau der deutschen Presse initiiert, mit den öffentlich-rechtlichen Sendern und dem Lizenzsystem, das erlaubt hat, die Zeitungen wiederzubeleben. Damit stehen am Anfang des deutschen Pressedenkens nach 1945 also das amerikanische und das britische Pressedenken, vermischt mit dem deutschen System. Das habe ich zuerst über die deutsche Presse erfahren, und ich versuche noch zu verstehen, was das für Konsequenzen hat. Trotz dieser Ursprünge hat sich hier, mit der zunehmenden Entwicklung der Presse, mit der Zeit ein eigenes, deutsches Modell entwickelt. Das will ich gerne untersuchen.
    Schroeder: Vielen Dank für das Interview!
    Rosen: Gern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.