"Die Tage sind gezählt, an denen Präsident Donald Trump den Glauben der Evangelikalen für sich nutzen kann," heißt es in einem Ausschnitt aus einem Wahlkampfspot, den eine amerikanische Lobbygruppe kurz vor den Präsidentschaftswahlen über digitale Kanäle verbreitet. Sie heißt "Not our Faith" – Nicht unser Glaube".
"Not our Faith" ist einer von mehreren Zusammenschlüssen amerikanischer Christen, die sich gegen Trump und für seinen demokratischen Herausforderer Joe Biden positionieren. Darunter sind zahlreiche weiße evangelikale Christen, auch ehemalige Trump-Anhänger.
Billy Grahams Enkelin will Biden wählen
Eine von ihnen ist Jerushah Duford, die Enkelin des 2018 verstorbenen legendären Fernsehpredigers Billy Graham. Sie habe nicht weiter schweigen können, sagte Duford in einem Videoblog. Sie erwarte nicht, dass ein US-Präsident ein evangelikaler Christ sei. Sie halte es dagegen für viel gefährlicher, wie ihr Glaube durch Trump repräsentiert werde – aus ihrer Sicht in einer verfälschten Weise.
Noch 2016 hatten weiße Evangelikale mit 81 Prozent für Trump gestimmt. Muss der Präsident nun um die Unterstützung seiner loyalsten Wähler bangen? Wohl kaum, meint David Gushee. Er ist Theologe und Religionswissenschaftler an der Mercer University in Atlanta. Er identifizierte sich selbst lange als progressiver Evangelikaler. Es sei ein Missverständnis anzunehmen, dass es sich bei 'den Evangelikalen' um eine kohärente Gruppe handele, sagt Gushee. Evangelikal – das sei eine künstliche Identität, ein begrifflicher Schirm, unter dem sich verschiedene christliche Glaubensgemeinschaften zusammenfanden - von Calvinisten und Baptisten bis hin zu Pfingstlern. Es gibt viele schwarze evangelikale Kirchen, die politisch progressiv, aber sozial eher konservativ sind.
Weiße konservative Evangelikale prägen das Bild
Es gibt linksliberale weiße Evangelikale wie den früheren US-Präsidenten Jimmy Carter. Und es gibt eine wachsende Zahl moderater, multi-ethnischer evangelikaler Kirchengemeinden. Wie die First Baptist Church of Decatur in Atlanta, die vor kurzem gemeinsam mit Rabbinern, Imamen und Hindu-Priestern mit Kirchen- und Handglocken der rund 230.000 Menschen gedachte, die in den USA bislang an Covid-19 gestorben sind.
Und doch seien es weiße, konservative Evangelikale, die das öffentliche Bild dieser Glaubensgemeinschaft in den USA prägten, sagt Gushee. Und die sich über die vergangenen Jahrzehnte immer stärker mit der Republikanischen Partei verbündet hätten.
"Diese Verbindung ist mittlerweile eine Identitäts-Fusion. Die meisten weißen Evangelikalen wählen heute aus Prinzip republikanisch. Und selbst wenn sie einen Kandidaten nicht mögen – so wie in der Vergangenheit John McCain oder Mitt Romney, weil er Mormone ist – dann rümpfen sie die Nase und wählen ihn trotzdem. Und ich finde, das ist zutiefst ungesund."
Einer aktuellen Gallup-Umfrage zufolge wollen 78 Prozent der weißen Evangelikalen am 3. November für Trump stimmen, gerade einmal drei Prozent weniger als 2016.
Gushee findet das nicht überraschend. Schließlich habe Trump politisch in ihrem Sinne geliefert – zum Beispiel drei konservative Richter für den Supreme Court sowie zahlreiche Bundesrichter, die das liberale Abtreibungsrecht kippen könnten. Außerdem stehe Trump für die Ideologie eines weißen christlichen Nationalismus – und gegen die vermeintliche Bedrohung durch Immigranten, Kommunisten, Atheisten.
Trumps wenig gottesfürchtiger Charakter stört seine evangelikalen Anhänger dabei offenbar kaum. Gushee sagt, ganz im Gegenteil: "Es gibt Elemente in Trumps Persönlichkeit, die einige Evangelikale besonders attraktiv finden, dieses großspurige, grelle, autoritäre, protzig-männliche Gehabe. Vor allem Vertreter des sogenannten Wohlstandsevangeliums, die Reichtum als Zeichen für die Gunst Gottes sehen, fühlen sich von Trumps Charakter angezogen. In diesem Sinne stellt Trump keine Verletzung evangelikaler Visionen und Werte dar, sondern deren Erfüllung."
Die Zahl der Ex-Evangelikalen steigt
Zugleich schrecke die politisch immer radikalere Gruppe der weißen, konservativen Evangelikalen Mitglieder anderer evangelikaler Glaubensgemeinschaften ab, sagt Gushee, vor allem jüngere evangelikale Christen. 25 Millionen Amerikaner, die in evangelikalen Familien aufwuchsen, haben ihre evangelikalen Wurzeln gekappt, sagt das Pew-Institut.
Eine der Geflüchteten ist Amy Hayes. Hayes ist 32, sie kommt aus Atlanta und studiert Theologie im zweiten Jahr. Sie gehörte lange einer Pfingstkirche an, die sie als erzkonservativ beschreibt:
"Meine ganze Welt war die Kirche, dort bin ich zur Schule gegangen, meine Nachbarn gingen in diese Kirche, meine Freunde gingen in diese Kirche, ich kannte nichts außer diese Kirche. Heute weiß ich: Es war eine Kirche, die ihre Mitglieder spirituell und emotional kontrolliert hat."
Sie, ihre ältere Schwester und ihre Eltern haben die Kirche mittlerweile verlassen, aber viele ihrer entfernteren Verwandten und auch einige ihrer Freunde gehören weiterhin dieser Gemeinde an.
"Und diese Leute sind nicht nur böse Karikaturen. Viele sind ehrlich und ernsthaft darum bemüht, den Geboten Gottes zu folgen. Sie sind gefangen in einer religiösen Variante des Stockholm-Syndroms. Ich war selbst in dieser Situation, und ich verstehe, was die enge Bindung an eine Glaubensgemeinschaft mit einem macht."
Ihr Glaube sei ihr wichtig, sagt Hayes, immer noch. Aber einer Konfession oder Kirche fühlt sie sich heute nicht mehr zugehörig. Sie würde sich am ehesten bezeichnen als Post-Evangelikale bezeichnen, auf der Suche nach Spiritualität. Ihre Mutter fürchte manchmal, dass sie während ihres Studiums zur Atheistin werde. Eine Sorge, die nicht ganz unberechtigt sei, sagt Hayes, lacht hinter ihrer lindgrünen Stoffmaske und zuckt mit den Schultern.
Amy Hayes gehört zu dem rasant wachsenden Heer der Amerikaner, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen. Das sind mittlerweile mehr als ein Viertel der erwachsenen US-Bürger, laut einer Pew-Umfrage von 2019.
Auch Grayson Hester ist ein Exil-Evangelikaler, doch anders als Amy Hayes fühlt er sich noch immer der Glaubensgemeinschaft verbunden, in der er aufwuchs.
"Ich identifiziere mich als Christ, als queerer Christ. Und als Baptist, aber mit Einschränkungen. Ich mag einige Prinzipien der Baptisten, die strikte Trennung von Kirche und Staat oder die Unabhängigkeit der lokalen Kirchengemeinde. Und ich halte die Bibel sehr hoch, nicht als absolute und alleinige Richtschnur, aber als Autorität. Einige Elemente meines Glaubens sind klassisch evangelikal, aber mit der politischen Bedeutung, die der Begriff angenommen hat, identifiziere ich mich in keiner Weise."
Hester, 25, stammt aus einer Kleinstadt in Tennessee im konservativen Bibelgürtel der USA. Sein Vater war College-Professor, die Familie besuchte eine progressive Baptistenkirche. Er sei in einer geschützten kulturellen Blase ausgewachsen, sagt er, aber umgeben von eingefleischten Evangelikalen.
Wir treffen uns an einem sonnigen Oktobertag auf dem Campus der Mercer-Universität, wo Hester kurz vor seinem Master-Abschluss in Theologie steht. Was er danach machen will, weiß er noch nicht genau. Pandemie und Politik machten es schwer zu planen.
Toxisches Erbe der evangelikalen Subkultur?
Mit weißen evangelikalen Christen verbinde ihn heute kaum noch etwas, sagt er. Aber manchmal gebe es halt Situationen, in denen eine Begegnung unvermeidlich sei:
"Beim Thanksgiving-Dinner zum Beispiel, Ende November. Einige Mitglieder meiner entfernten Verwandtschaft sind konservative Evangelikale. Wir haben gelernt, bestimmte Themen zu vermeiden, sei es Trump oder die Schöpfungsgeschichte. Und ich rede mir innerlich dann immer selbst zu, wie ein Mantra: Darüber sprechen wir nicht."
Über geflüchtete Evangelikale wie Grayson Hester und Amy Hayes geht es auch in David Gushees neuem Buch, "After Evangelicalism".
Eine Prognose für die Wahlen am 3. November mag der Theologe nicht abgeben. Doch selbst wenn der Demokrat Joe Biden die Wahlen klar für sich entscheiden sollte – und wenn sich die Absetzbewegung aus dem evangelikalen Lager weiter fortsetze: Die Subkultur der weißen, konservativen Evangelikalen werde so schnell nicht verschwinden.
"Es gibt noch immer viele von ihnen und sie sind hochmotiviert. Die meisten weißen konservativen Evangelikalen sind mittlerweile komplett vom Geist des Trumpismus durchsetzt – von Gemeinheit und Bösartigkeit. Das wird noch lange nach Trump zu spüren sein, und es wird dauern, die politische und die religiöse Kultur in den USA zu entgiften."