Gruppentherapie im Cook County Jail in Chicago, dem flächenmäßig größten Gefängnis in den USA. 16 Männer nehmen an der Sitzung teil. Sie tragen beige Overalls mit dem Aufdruck "DOC", Department of Corrections. Fast alle sind schwarz. Einer hat sich mit dem Gesicht zur Wand gedreht. Ein anderer fährt sich rhythmisch mit einer Nagelbürste über den Kopf.
Rund 6500 Insassen sitzen im Durchschnitt im Cook County Jail ein. Mehr als ein Drittel leidet unter einer psychischen Krankheit - Depressionen, Psychosen, Drogensucht.
Viele von ihnen gehören eigentlich gar nicht hierher, findet Tom Dart, der Sheriff von Cook County, dem auch das Gefängnis untersteht.
"Die meisten sind keine echten Kriminellen. Sie landen hier wegen Ladendiebstahls, Bettelns, Herumlungerns oder kleinerer Drogendelikte. Diese Menschen leiden unter einer psychischen Krankheit, die nicht behandelt wird. In der Folge verlieren sie oft ihren Job, ihre Wohnung, leben auf der Straße, kommen schließlich mit der Polizei in Berührung. Und die Polizei lädt sie dann bei uns ab."
"Die meisten sind keine echten Kriminellen. Sie landen hier wegen Ladendiebstahls, Bettelns, Herumlungerns oder kleinerer Drogendelikte. Diese Menschen leiden unter einer psychischen Krankheit, die nicht behandelt wird. In der Folge verlieren sie oft ihren Job, ihre Wohnung, leben auf der Straße, kommen schließlich mit der Polizei in Berührung. Und die Polizei lädt sie dann bei uns ab."
Eine klinische Psychologin als Gefängnis-Chefin
Heute sind Gefängnisse de facto die größten psychiatrischen Anstalten in den USA.
Tom Dart - Mitte 50, graue Locken und bunte Stoffbänder am Handgelenk - ist ein ungewöhnlicher Polizeichef mit ungewöhnlichen Methoden. Wenn sein Gefängnis schon eine psychiatrische Klinik sei, könne es ja auch eine gute sein. Und warum nicht gleich die beste? Also machte der Sheriff eine Psychologin zur Gefängnis-Chefin. Auch müssen alle 3500 Vollzugsbeamten ein Intensiv-Training im Umgang mit psychisch Kranken absolvieren. Und es gibt eine Art psychiatrische Notaufnahme, für die Ersteinschätzung der Insassen.
Durch einen gekachelten Tunnel geht es in eine Halle tief im fensterlosen Bauch des Gefängnisses. Rohre hängen unter der Decke, der Fußboden ist aus Beton. In Stahlkäfigen stehen, kauern oder liegen Männer, alleine oder in Gruppen, die über Nacht festgenommen wurden.
Marianne Kelly ist Therapeutin, arbeitet seit 20 Jahren im Cook County Jail. Meistens, so wie heute, im Männertrakt. Sie fragt die Neuankömmlinge nach ihrer Lebenssituation, nach Vorerkrankungen und Therapien. Nach Drogenkonsum. Die meisten Männer sind einsilbig, einige unruhig, andere aggressiv. "Wer Drogen nimmt und vielleicht auf Entzug ist, gibt oft keine ehrliche Auskunft. Manche Insassen sind paranoid, leiden unter Schizophrenie oder einer akuten Psychose. Wenn jemand Stimmen hört und sich benimmt, als wenn einer neben ihm steht, ist das ein ganz klares Signal." Kelly hat nicht viel Zeit, fünf bis zehn Minuten für jeden Insassen.
Das Therapiezentrum ist auch ein Bootcamp zur Umerziehung
Diejenigen, die nicht wegen eines Gewaltverbrechens angeklagt sind, können an einem der neuen Programme teilnehmen.
Das Herzstück von Sheriff Darts Gefängnisreform ist das Mental Health Transition Center, ein Flachbau hinter einem Sperrzaum aus gerolltem Stacheldraht. Das Therapiezentrum ist zugleich ein Bootcamp zur Umerziehung.
Das Herzstück von Sheriff Darts Gefängnisreform ist das Mental Health Transition Center, ein Flachbau hinter einem Sperrzaum aus gerolltem Stacheldraht. Das Therapiezentrum ist zugleich ein Bootcamp zur Umerziehung.
Und das ist genau, was er gebraucht habe, sagt Ricky. Er fühle sich heute besser, sagt er, klüger, stärker, stabiler.
Ricky ist 36, ein schmaler Mann mit Tattoos auf Händen und Nacken. Er kommt aus der South Side in Chicago, einem Viertel, das berüchtigt ist für Armut und Gangs. In den letzten 20 Jahren war er immer wieder im Cook County Jail, sagt er. Aber dies sei das erste Mal, dass er eine Verhaltenstherapie bekomme. Und Medikamente gegen eine posttraumatische Belastungsstörung, die von einem Kindheitstrauma herrühre. Jetzt hat Ricky einen Plan für die Zukunft. Er will seine Medikamente nehmen. Ein normales Leben führen. Heiraten, ein Haus, Kinder und einen Hund.
Ricky ist 36, ein schmaler Mann mit Tattoos auf Händen und Nacken. Er kommt aus der South Side in Chicago, einem Viertel, das berüchtigt ist für Armut und Gangs. In den letzten 20 Jahren war er immer wieder im Cook County Jail, sagt er. Aber dies sei das erste Mal, dass er eine Verhaltenstherapie bekomme. Und Medikamente gegen eine posttraumatische Belastungsstörung, die von einem Kindheitstrauma herrühre. Jetzt hat Ricky einen Plan für die Zukunft. Er will seine Medikamente nehmen. Ein normales Leben führen. Heiraten, ein Haus, Kinder und einen Hund.
Eine Studie der University of Chicago zeigt: Die Rückfallquote bei Teilnehmern des Programms liegt tatsächlich deutlich hinter der von anderen Insassen - zumindest in den ersten sechs Monaten nach der Entlassung. Danach verwässert das Bild etwas.
Die Kosten für die Behandlung sind gut investiert, findet der Sheriff.
Einige Gefängnisse in den USA haben das Reformprojekt bereits kopiert. Aber es gibt auch Kritiker, unter den Vollzugsbeamten zum Beispiel. Der Polizeichef sei zu nett, sagen sie. Zu weich. Ein Sozialromantiker.
Tom Dart kontert: "Wer das Argument nicht akzeptiert, dass jemand mit einer psychischen Krankheit medizinisch behandelt und nicht bestraft werden sollte: Okay. Aber wenn wir weitermachen wie bisher, werfen wir Geld aus dem Fenster. Denn ohne Therapie landen diese Leute ganz schnell wieder bei uns."
Unterbringung und Versorgung eines einzelnen Insassen im Cook County Jail kann bis zu 500 Dollar am Tag kosten Da sei das Geld für die Behandlung gut investiert, findet Tom Dart. Deshalb will der Sheriff sein Reformprogramm auch weiter ausbauen. Schließlich gehe er damit kein großes Risiko ein, sagt er.
"Es ist ja nicht so, dass unser Strafvollzug ein Erfolgsmodell wäre. Im Gegenteil, die Bilanz ist unterirdisch, vor allem bei psychisch kranken Insassen. Viel schlimmer kann es nicht werden, also sollten wir mal etwas anderes versuchen."
Anmerkung der Redaktion: Die Recherchen für diesen Beitrag wurden unterstützt durch ein Holbrooke/IJP-Reisestipendium für Journalisten.