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US-Truppenabzug aus Afghanistan
Politikexperte: Geheimdienste wussten, was Biden hören will

Die Vorstellung, dass die Geheimdienste über das Tempo der Machtübernahme der Taliban nicht informiert gewesen seien, sei absurd, sagte der Politikwissenschaftler Thomas Jäger im Dlf. Der US-Präsident habe die Entscheidung für den Abzug auf Grundlage sogenannter "politisierter Intelligence" getroffen.

Thomas Jäger im Gespräch mit Dirk Müller | 25.08.2021
US-Präsident Joe Biden bei einem Briefing zu Afghanistan mit dem Team für Innere Sicherheit am 22. August 2021
US-Präsident Joe Biden bei einem Briefing zu Afghanistan mit dem Team für Innere Sicherheit am 22. August 2021 (dpa / Consolidated News Photos / Erin Scott)
US-Präsident Joe Biden will am Abzugsplan der US-Truppen aus Kabul bis zum 31. August festhalten, wie er nach einer Videoschalte der G7-Länder erklärte. Damit erteilte Biden auch der von Boris Johnson geforderten Verlängerung der Evakuierungsflüge eine Absage.
Aus Sicht von Joe Biden sei das kein Fehler, sagte der Politikwissenschaftler Thomas Jäger im Dlf. Biden wolle vermeiden, dass noch US-Truppen zu Schaden kämen. Er kalkuliere mit einer "Augen-zu-und-durch"-Strategie in der Hoffnung, die nächsten Wochen politisch zu überleben.

Jäger: Regierung und Geheimdienste wussten Bescheid

Die Alternative sei die Aufstockung der Truppen gewesen, "weil die Taliban die Waffenruhe nicht länger einhalten wollten". Der US-Präsident habe seine Entscheidung für den Abzug der US-Truppen auf Grundlage sogenannter "politisierter Intelligence" getroffen, sagte der Politikwissenschaftler im Dlf. Das sei eine Art politisch genehme Aufbereitung der Fakten durch die Geheimdienste. Mit der Aussage: "Wenn wir gehen, übernehmen die Taliban Kabul" hätte der US-Präsident die Entscheidung für den Abzug seiner Truppen aus Afghanistan nicht durchsetzen können, sagte der Politikwissenschaftler Thomas Jäger im Dlf. Regierung und Geheimdienste hätten gleichwohl Bescheid gewusst.
US-Soldaten bei der Evakuierungsaktion auf dem Hamid-Karzai-Flughafen in Kabul, Afghanistan 
Politologe Hamilton: "Das ist nicht das letzte Wort"
US-Präsident Joe Biden habe sich beim Termin für den Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan noch nicht endgültig festgelegt, sagte der Politologe Dan Hamilton im Dlf. Der derzeitige Zeitplan sei nicht alternativlos.
Das Ende von Interventionen des Westens sei der Einsatz in Afghanistan aber nicht – auch künftig würden die USA überall dort intervenieren, wo amerikanische Interessen betroffen seien. Das, was die Vereinigten Staaten jetzt erlebten, hätten sie schon mehrfach durchlitten, in Vietnam, in Somalia, sagte Jäger. Das heißt, es werde aufgearbeitet werden.

Das Interview im Wortlaut:

Dirk Müller: Der amerikanische Präsident hat die Verlängerung der Evakuierungsflüge über den 31. August hinaus ausgeschlossen. War das der nächste Fehler von Joe Biden?
Thomas Jäger:Aus seiner Sicht war das kein Fehler. Wenn man sich in die Sicht von Joe Biden versetzt, so stand er vor dem Dilemma, entweder die Truppen in Afghanistan aufzustocken, weil die Taliban die Waffenruhe nicht länger einhalten wollten, oder den Abzug einzuleiten, von dem er sagt, das musste so chaotisch kommen, anders konnte das gar nicht sein. Und so ist das auch jetzt. Die Amerikaner wissen, dass sie kaum alle amerikanischen Staatsbürger in der verbleibenden Zeit aus Afghanistan herausfliegen können, aber gleichzeitig fürchten sie Anschläge des Islamischen Staates etwa auf den Flughafen von Kabul, und das wäre für Biden ein ganz schwieriges Moment, wenn jetzt amerikanische Truppen noch zu Schaden kommen könnten, denn er kalkuliert darauf, dass er jetzt mit einer "Augen zu und durch"-Strategie irgendwie die nächsten Wochen politisch überlebt und bis zu den nächsten Wahlen das Ganze vergessen ist.

Bilder einer fliehenden Weltmacht verhindern

Müller: Diejenigen, die ihn in den USA politisch verteidigen – das sind einige Demokraten, aber gar nicht so viele, wie man hätte vielleicht erwarten können -, die sagen, ganz gleich was der Präsident jetzt gemacht hat (das würde Ihre These, Ihre Interpretation, Herr Jäger, stützen), ob wir Ende September gehen, Oktober, November, Januar, das hätte an dieser chaotischen Schlusssituation nicht viel verändert. Also hat er ganz rational kalkuliert gehandelt?
Jäger: Das ist so und man konnte auch wissen, dass das Ganze so chaotisch läuft, als in den Vereinigten Staaten die Diskussion über Saigon eingesetzt hat. 1975 war es dort die amerikanische Botschaft, die die Bilder geliefert hat einer fliehenden Weltmacht aus Vietnam, und das sollte unbedingt verhindert werden. Deswegen auch der direkte Umzug weg von der Botschaft, weg von diesem Symbol, hin in den Flughafen, wo man zwar auch verstörende Bilder produziert, aber doch dieses nationale Symbol fehlt. Das, worauf Joe Biden kalkuliert, ist, dass die 70 Prozent der Amerikaner, die für den Abzug sind, dann irgendwann vergessen, dass er auf diese Art und Weise vollzogen wurde.

Druck auf Biden durch Parteifreunde und Kriegsveteranen

Müller: Wie wird das Ergebnis beziehungsweise die Effektivität, die Produktivität, um das so auszudrücken, dieser 20 Jahre mit den vielen, vielen toten, tausenden von Amerikanern im Moment diskutiert in Washington?
Jäger: Das ist der Moment, wo Biden wirklich unter Druck steht, denn diejenigen, die Druck machen – denn der kommt aus seiner Partei von denjenigen, die sagen, wir können die Menschen dort nicht alleine lassen, die wir ermuntert haben, diesen Schritt in die Moderne mit uns zu gehen, die aus diesem patriarchalischen System sich herausentwickelt haben, und der kommt auf der anderen Seite von den Veteranenverbänden insbesondere. Es sind die ehemaligen Soldaten, die in Afghanistan stationiert waren, die ihm am schärfsten vorwerfen, dass er hier dieses Land und ihre Arbeit in diesem Land, ihren Dienst an diesem Land und für die Vereinigten Staaten verrät. Die Republikaner hingegen versuchen, eher eine Meta-Erzählung aufzumachen. Sie wissen, dass sie Biden da nicht richtig stellen können. Sie wollen jetzt den inkompetenten Präsidenten präsentieren, derjenige, der nichts im Griff hat, und versuchen, ihn darüber hinauszudefinieren, denn in den USA geht die Diskussion zwar auch über Afghanistan, aber an erster Stelle steht momentan das Haushaltsgesetz, das mit 3,5 Billionen auf den Weg gebracht wurde.

Geheimdienste waren informiert

Müller: Ein anderer Punkt: die Geheimdienste. Das muss ich Sie auch fragen. In Deutschland wird das diskutiert. Heiko Maas sagt, die Geheimdienste haben mich nicht früh genug oder uns nicht früh genug informiert. Das ist umstritten, weil der BND zum Teil jedenfalls da andere Informationen herausgibt, lanciert wie auch immer, dass vorzeitig gewarnt worden ist. In den USA gibt es eine ähnliche Diskussion. Die Frage an Sie. Sie kennen auch die Geheimdienste. Sie haben viel darüber auch in den vergangenen Jahren, Jahrzehnten recherchiert. Der CIA und andere spielen eine zum Teil ja viel, viel gewichtigere Rolle auch im politischen Entscheidungsprozess in den USA als beispielsweise vergleichbar in Deutschland. Ist das vorstellbar, dass diese Profis, wie auch immer definiert, völlig gepennt haben?
Jäger: Nein. Die Vorstellung, dass die Geheimdienste über die Machtübernahme der Taliban, über das Tempo, über die Widerstandslosigkeit nicht informiert waren und falsche Einschätzungen hatten, die ist absurd. Nein, sie wussten das.

"Joe Biden wollte diese Entscheidung durchsetzen"

Müller: Und damit wusste es auch die Politik?
Jäger: Ja, selbstverständlich! – Selbstverständlich wusste es die Regierung. Sie hatten nur unterschiedliche Analysen bekommen. Das ist in den USA wie anderswo gar nicht unüblich. Man nennt das politisierte Intelligence. Der Geheimdienst weiß, was der Präsident hören will, und so bekommt er unterschiedliche Interpretationen dieser Sachverhalte. Die einen benutzt er öffentlich und die anderen kennt er. Joe Biden hat das in einem Interview mit George Stephanopoulos eigentlich zugegeben, indem er sagte, ja, das waren unterschiedliche Einschätzungen und ich habe den Optimistischeren am Anfang vertraut, und jetzt stellen wir fest, dass sie sich nicht bewahrheitet haben.
Der Grund für diese politisierte Intelligence ist auch einfach zu finden. Joe Biden wollte diese Entscheidung durchsetzen. Da gab es kein links und kein rechts und er zieht das jetzt durch. Das hat einen einfachen Grund. Joe Biden war immer gegen diesen Krieg. Er hat schon unter Obamas Administration gesagt, wir müssen raus aus Afghanistan. Er will das Ganze schlicht beenden. Er hätte das aber nicht beenden können, wenn er in seinem berühmten Statement am 8. Juli gesagt hätte, wenn wir gehen, übernehmen die Taliban am nächsten Tag Kabul. Der Druck wäre enorm gewesen, dass er diese Entscheidung revidieren muss, und so hat er mit dem Hinweis, die Taliban werden das Land nicht übernehmen, die legitimatorische Grundlage für seine Entscheidung geschaffen. Aber dass er nicht wusste, wie das Ganze ausgeht, das hat er nachher sogar ebenfalls zugegeben. Es ist undenkbar, dass die Dienste darüber nicht informiert gewesen sind.

Regierungen seien auf eine bestimmte Weise informiert worden

Müller: Wenn Sie sagen, die Dienste wussten alles und Joe Biden wusste alles, dann wusste ja auch der Außenminister alles. Jetzt hat es dieses Statement aus dem Außenministerium gegeben: Wir waren völlig überrascht – ich paraphrasiere jetzt -, dass die afghanischen Sicherheitskräfte so schnell die Brocken hingeworfen haben, keinen Widerstand geleistet haben. Wenn ich Ihnen jetzt folge, Herr Professor Jäger, dann heißt das ja, dass das, zugespitzt formuliert, Fake News waren?
Jäger: Ja, das kann man so sagen, wobei das möglicherweise eine Interpretation der vorliegenden Daten hätte sein können. So kann man das drehen und wenden und biegen wie man will. Aber dass die Taliban eine Provinz nach der anderen übernommen haben, dazu brauchte man die Geheimdienste nicht. Das hätte einem Google gesagt. Und dass die Regierungen schlechter informiert gewesen sind als Journalisten, das ist nicht anzunehmen. Sie sind in einer Weise informiert worden, die davon geprägt war, dass diejenigen, die sie informiert haben, wussten, was sie hören wollten.
Deutsche Soldaten stehen am Flughafen in Gao und sichern ein Transportflugzeug.
Mögliche Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz
Afghanistan ist kurz nach dem Abzug der NATO-Truppen wieder in der Hand der Taliban. Der Irak-Krieg brachte dem Land keine Demokratie, im Gegenteil: Der Krieg trug zur Destabilisierung einer Region bei. Und auch in Libyen herrscht Chaos. Sind solche Einsätze noch sinnvoll?

Der Westen muss die Schande verarbeiten

Müller: Jetzt haben wir nur noch eine gute Minute. Ich möchte trotzdem noch die Frage stellen zum Schluss unseres Gesprächs, das ganz groß aufmachen, zugegeben, die große Frage stellen. Afghanistan – ist das das Ende sämtlicher Interventionen des Westens in der arabischen, nahöstlichen Welt, wobei Afghanistan nicht die arabische Welt ist, aber Mittlerer Osten, Naher Osten, das heißt überhaupt keine Interventionen mehr?
Jäger: Nein, das glaube ich nicht. Es wird vorsichtiger sein und die einzelnen Staaten werden das unterschiedlich verarbeiten. Die Vereinigten Staaten haben das, was sie jetzt erleben, ja schon mehrfach als Gesellschaft durchlitten – in Vietnam, in Somalia. Das heißt, es wird aufgearbeitet werden. Aber überall da, wo amerikanische Interessen wirklich betroffen sind, da wird man intervenieren.
Es wird in Deutschland eine andere Diskussion geben, weil es hier eine völlig neue Lage ist, die entsteht, indem man erkennt – erstens, dass man zu so was alleine überhaupt nicht in der Lage ist, dass man noch nicht mal zu einer humanitären Aktion jetzt allein befähigt ist, und dass diese Schande, die jetzt hier doch über die westlichen Staaten kommt, weil sie Menschen ermutigt haben, sich in einer gewissen Art und Weise zu entwickeln, und sie jetzt anderen überlassen, dass die verarbeitet werden muss. Möglicherweise wird man dann das tun, was man 20 Jahre lang gemacht hat: Man wird einfach wegschauen. Dann wird man das nächste Mal den Preis dafür zu zahlen haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.