"Das ist schon verrückt! Es fühlt sich irgendwie nicht wahr an. Als wir auf die Fläche gegangen sind und sie ‚Team USA’ angekündigt haben, da habe ich zu den Mädchen gesagt: Ich kann es überhaupt nicht glauben: Hier stehen wir und turnen! Unglaublich, die Zeit ist einfach geflogen."
So Simone Biles über ihr Comeback, kurz nachdem das US-amerikanische Team bei der WM in Doha mit fast neun Punkten Vorsprung Gold gewonnen hat. Simone Biles, der Star der Olympischen Spiele 2016, ist wieder da und alles ist wie zuvor: Sie dominiert das internationale Frauenturnen nach Belieben. Den Verband USA Gymnastics dürfte das freuen, denn auch über zwei Jahre nach Bekanntwerden des hundertfachen Missbrauchs durch Teamarzt Larry Nassar gibt es eigentlich nur schlechte Nachrichten. Also hat man sich entschlossen, nach vorne zu schauen.
Tom Forster, seit Juli verantwortlich für das US-Frauenturnen:
"Wir haben umfangreiche Richtlinien für einen sicheren Sport aufgestellt, um dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert. Wir müssen nach vorne schauen und das tun wir. Wir haben daraus gelernt, ganz sicher, aber wir werden nicht jetzt nicht weiter darauf rumreiten, die Vergangenheit kann man nicht ändern."
Weitere Festnahmen im Team
Doch der größte Missbrauchsskandal in der Geschichte des US-Sports ist noch lange nicht Vergangenheit: Vor gut zwei Wochen wurde Ex-Präsident Steve Penny festgenommen. Er soll Beweise beiseite geschafft haben und hatte in sichergestellten Emails das FBI um Rückendeckung gebeten, damit der Skandal nicht groß in die Öffentlichkeit gelangt. Kurz zuvor war die langjährige Physiotherapeutin des Teams Debbie van Horn festgenommen worden. Sie wird der Mitwisserschaft bezichtigt.
Da verwundert es kaum, dass gleich drei Toptrainer sich erstmal eine neue Beschäftigung gesucht haben: Mihai Brestyan ist als Cheftrainer der australischen Frauen in Doha angereist. Seine ehemalige Turnerin und zweifache Olympiasiegerin Aly Raisman ist eine der klarsten und pointiertesten Stimmen unter den Nassar-Opfern. Liang Chow firmiert nun als Cheftrainer der Chinesinnen. Auf die Frage, was seine Entscheidung mit Larry Nassar zu tun hat, muss er ganz plötzlich los - und bleibt eine Antwort schuldig.
Schließlich Valeri Liukin, Vater und Trainer der Mehrkampf-Olympiasiegerin von 2008 Nastia Liukin, der in Doha das brasilianische Frauenteam betreut. Er begründet seinen Schritt so:
"Es ist eine schwierige Zeit, jetzt im Moment in den USA. Es gibt viel, ja, viel negatives Gerede, über meine Familie. Also habe ich mich dafür entschieden."
Auf Nachfrage sagt er nur: "Ich möchte da nicht weiter drüber reden, ich würde lieber über Turnen reden."
Liukin hatte nach Rio das Erbe von Martha Karolyi angetreten, jener Frau, die für das so erfolgreiche US-System all die Jahre verantwortlich gewesen war und von Larry Nassars Missbrauch nichts mitbekommen haben will. Auch gegen sie liegen Anzeigen von Ex-Turnerinnen vor.
"Ich fühle mich von USA Gymnastics betrogen"
USA Gymnastics hat momentan weder Sponsoren, noch einen Präsidenten. Angesichts zahlreicher laufender zivilrechtlicher Verfahren, in denen es um viele Millionen US Dollar geht, vermuten viele, dass der einst so mächtige Verband bankrott gehen wird. Ron Galimore, Geschäftsführer von USA Gymnastics und Mitglied der Exekutive des Weltverbandes, ist auch in Doha. Er soll an dem Vertuschungsversuch, der mit zur Festnahme von Steve Penny geführt hat, beteiligt gewesen sein. Ein Interview lehnt Galimore ab, schriftliche Fragen werden nicht beantwortet.
Klare Worte zu seinem Verband findet in Doha nur einer - Laurent Landi. Er ist seit einem Jahr der Trainer von Simone Biles:
"Ja, ich fühle mich von USA Gymnastics betrogen: Ich wusste von nichts, niemand hat es mir gesagt, darüber bin ich sehr verärgert und dabei belasse ich es jetzt."
Seine ehemalige Turnerin Madison Kocian, Team-Olympiasiegerin von Rio, machte im August öffentlich, dass auch sie von Nassar missbraucht worden ist.
"Natürlich sind die Mädchen nicht zu uns gekommen, sie haben sich viel zu sehr geschämt. Das ist eine ganz schwierige Situation. Ich weiß nicht mal genau, wann klar war, dass eine Untersuchung begonnen hat, ich glaube 2015 oder schon 2014, und ich habe es erst nach den Olympischen Spielen 2016 erfahren – das ist schon ziemlich mies."
"Es wird noch schlimmer werden, bevor es besser wird"
Simone Biles hatte im Januar per Twitter bekannt gegeben hatte, dass auch sie von Larry Nassar missbraucht worden ist, aber in der Verhandlung, die zu Nassars Verurteilung führte, nicht ausgesagt. Für USA Gymnastics ist sie momentan die Rettung.
Auf die Frage, was er glaubt, wie es mit dem us-amerikanischen Verband weitergeht, sagt ihr Trainer Laurent Landi:
"Die Frage kann ich nicht beantworten. Ich glaube, es wird noch schlimmer werden, bevor es besser wird."
Erst Anfang dieser Woche hat mit Tasha Schwikert eine weitere Ex-Weltmeisterin Klage gegen Nassar, das Nationale Olympische Komitee und USA Gymnastics eingereicht.