Anfang Juni, amerikanische Meisterschaften in St. Louis. Die haushohe Favoritin liefert ab wie gewohnt und schürt große Erwartungen. Nicht alles allerdings ist so wie immer. Gerade mal zwei Monate vorher hat Simone Biles überraschend Nike verlassen, den größten Sportausrüster der Welt. Ihr neuer Partner, eine Marke für Fitnessbekleidung mit einer ganz besonderen Zielgruppe: Frauen. Der Moment sieht danach aus, als ob sich die Turnerin im Alter von 24 neu erfinden möchte.
Abzulesen auch an der Vermarktungskampagne vor den Spielen mit einer dokumentarfilmartigen Selbstdarstellungsserie, die über Facebook verbreitet wird. Sie deutet an, dass Biles, die überragende Turnerin der letzten 30 Jahre, eigentlich nur noch einen Gegner hat: sich selbst. Und dass ihre Ambitionen weiterreichen. Sie sieht sich als hochmotiviertes Vorbild, an dem sich andere junge Frauen orientieren können. Ihre Qualität: Selbstbewusstsein pur. So wie hier bei einem Auftritt vor einem Millionenpublikum in einer Fernseh-Talk-Show:
"Es ist egal, wann und wo man mit etwas anfängt. Wichtig ist, dass du dich auf deinem Weg immer wieder aufrappelst, wenn du auf die Nase gefallen bist. Und dass du große Träume hast. Denn du weißt nie, was und wohin dich deine Träume führen."
Die Reise nach Tokio verlief anders als erwartet
Wohin ihre Reise als nächstes geht, weiß sie derzeit vermutlich nicht. Denn der große, für Tokio geplante Karrierehöhepunkt fiel aus. Die 24-Jährige quittierte das Medaillen-Festival schon am ersten Gerät im Mannschaftswettkampf, dem Sprung, und war zunächst nicht so recht in der Lage zu vermitteln, was eigentlich passiert war.
"Nein, keine Verletzung, zum Glück. Aber ich dachte, es wäre das Beste, wenn die anderen das restliche Programm übernehmen. Das haben sie getan und Silber gewonnen. Deshalb sollten sie auch stolz auf sich sein."
Einige Tage später klangen ihre Auskünfte schon schlüssiger. Sie beschrieb, wie es ist, wenn man zum ersten Mal das erlebt, was Turner in Amerika "Twisties" nennen: Mentale Blockaden während der hochkomplizierten Sprungabläufe, bei denen einem beim Flug durch die Luft jeder Sinn für oben und unten, abhanden kommt. Das Verletzungsrisiko in einem solchen Moment ist enorm.
Orientierungsprobleme in der Luft
"Am Morgen nach der Qualifikation im Training, da passierte es zum ersten Mal. Bei einer Sprungkombination im Bodenturnen. Einfach so. Beim Aufwärmtraining vor dem Mannschaftsfinale habe ich es noch mal probiert. Aber es war komisch. Es schien nicht zu klappen. Ich hatte einfach kein Gefühl, wo ich mich in der Luft befand."
Die Reaktionen auf ihren Rückzieher waren mehrheitlich positiv. Es gab Sympathiebekundungen bis hinauf zum amerikanischen Präsidenten.
Aber es meldeten sich auch Nörgler zu Wort. Hauptsächlich aus dem rechten politischen Lager, wo man Kulturkampf auf die Fahnen geschrieben hat. Und wo man in einer vierfachen Olympiasiegerin und 19-fachen Weltmeisterin nur eine roboterhafte Medaillenmaschine sieht, die sich völlig egoistisch und illoyal gegenüber ihrem Heimatland verhält, für das sie sich gefälligst aufzuopfern habe.
Schwarze Amerikaner wie die Kongressabgeordnete Stacey Plaskett sehen in solchen Attacken vor allem eins: eine subtile Form von Rassismus gegenüber einer afro-amerikanischen Sportlerin, die sich das Recht herausnimmt, über sich und ihr Leben selbst zu entscheiden. Einer Frau, die als eines von über hundert Missbrauch-Opfern des einstigen Mannschaftsarztes Larry Nassar nicht nur aufgrund ihrer sportlichen Erfolgs mit anderen Maßstäben gemessen werden sollte:
"Der ganze Druck, der auf ihr lastet: Wenn sie eine Pause braucht, dann sollte sie die auch haben. Schwarze Frauen in Amerika haben nie die Möglichkeit gehabt, sich auszuruhen und zu sagen: 'Ich habe genug, ich bin müde.' Wissen Sie, wir haben dieses Land mit aufgebaut."
Der amerikanische Sportpsychologe Dr. Steven Ungerleider glaubt jedoch, dass die amerikanische Öffentlichkeit dieses Bedürfnis versteht.
"Wir sehen einen Paradigmenwechsel. Simone Biles und die Tennisspielerin Naomi Osaka haben vor einigen Monaten darüber gesprochen, dass die mentale Gesundheit eines Sportlers an erster Stelle stehen muss. Ihr Motto: 'Wir sind nicht diese perfekte Maschine, wo man auf einen Knopf drückt und sagt: Bringt uns die Goldmedaillen.'"
Ungerleider, früher selbst Turner, inzwischen Buchautor, Filmemacher und im Internationalen Paralympischen Komitee aktiv, schließt übrigens auf der Suche nach den Gründen für die Filmriss-Erfahrung von Biles einen Aspekt ganz und gar nicht aus: Posttraumatische Belastungsstörungen als Folge des Missbrauchs von einst.
Posttraumatische Belastungsstörung bei Biles?
"Ich bin nicht Simones Arzt, aber ich kann mir vorstellen, dass dies einer der Faktoren, einer der Auslöser für einen posttraumatischen Stressmoment gewesen ist. So etwas kann die neuronalen Netzwerke beeinflussen, wenn man sich im Wettkampf innerlich auf diese erstaunlichen Salti und Schrauben und Überschläge vorbereitet, aber gleichzeitig über etwas nachdenkt, das einen verfolgt."
Immerhin: Die Entscheidung, zumindest am Schwebebalken erneut anzutreten, hatte für Biles einen positiven Effekt. Sie gewann Bronze und kann sich nun etwas entspannter auf die lange geplante, landesweite mehrmonatige Gold-over-America-Tour einstimmen, die im September beginnt. Vermutlich wird sie ihr Publikum überall im Land mit Ovationen empfangen. Denn Biles hat bei den Spielen von Tokio die Existenz der erfolgreichen Sportlerin neu definiert. Sie ist eine Frau. Keine Mensch-Maschine.