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US-Turnerinnen
Schutzlos ausgeliefert

Der US-Turn-Arzt Larry Nassar wurde bereits 2018 wegen hundertfachem sexuellen Missbrauch verurteilt. Doch das Thema ist längst nicht abgeschlossen. Jetzt waren vier Weltklasse-Turnerinnen vor dem Justizausschuss des US-Senats geladen. Es ging um Fehler des FBI in den Ermittlungen.

Von Andrea Schültke |
Die Turnerinnen stehen mit ernster Miene vor ihren Plätzen.
Die US-Turnerinnen im Senatsausschus (v.l.n.r.) Aly Raisman, Simone Biles, McKayla Maroney und Maggie Nichols (Saul Loeb/Pool via AP/dpa/picture-alliance)
Es war ein Versagen in allen Bereichen. Daran lässt der Ausschussvorsitzende, Senator Dick Durbin, von Beginn an keinen Zweifel.
Bereits 15 Monate bevor die Verbrechen von Larry Nassar an die Öffentlichkeit kamen, hatte das FBI Kenntnis davon und nichts unternommen:
"Das FBI hat versäumt, wichtige Zeugen zeitnah zu befragen, versäumt, Zeugenaussagen und Beweise korrekt zu dokumentieren. Ein ranghoher FBI-Beamter ging sogar so weit, sich um einen Job beim US-Turnverband zu bewerben, während er gleichzeitig die gescheiterten Ermittlungsbemühungen des FBI überwachte."

FBI versagt

In diesen 15 Monaten voller Fehler habe Nassar 70 junge Athletinnen sexuell missbrauchen können - weil das FBI versagt habe.
Turnerin Pauline Schäfer auf dem Schwebebalken am 09.09.2017 in der SCHARRena in Stuttgart
Anhebung des Startalters - Nur für Erwachsene
Seit einem halben Jahr melden sich Turnerinnen zu Wort und schildern von Missbrauch, Demütigungen und Erniedrigungen. Die Zahl, in denen Turnerinnen von einer Kultur der Angst berichten, steigt. Was tun um das zu ändern? Ein Vorschlag lautet, das Startalter bei Wettkämpfen zu erhöhen.
Der Justiz-Ausschuss hatte unter anderem vier Weltklasse-Turnerinnen als Zeuginnen geladen. Neben der früheren US-Vizemeisterin Maggie Nichols die Olympiasiegerinnen Aly Raisman, McKayla Maroney und – die bekannteste von ihnen - Simone Biles.
Sie schildert als Erste der Vier ihre Sicht der Dinge:
Sie habe mit Stolz ihr Land bei internationalen Meisterschaften vertreten und Medaillen gewonnen. Aber sie sei auch eine Betroffene von sexuellem Missbrauch geworden. Denn die Organisationen, die für ihren Schutz da waren, hätten versagt: Der Turnverband und das Nationale Olympische Komitee der USA:
"Ich möchte nicht, dass auch nur eine andere junge Turnerin, Olympiateilnehmerin oder irgendjemand den Horror erleben muss, den ich selbst und hunderte andere durchgemacht haben und bis heute durchmachen."

Keine Information

Vor den Olympischen Spielen von Rio 2016 habe es bereits Ermittlungen gegen Nassar gegeben und Vermutungen, dass auch sie selbst betroffen sein könnte, so Biles. Aber niemand habe sie oder ihre Eltern informiert. Damit wird klar: für die Verheißung von Medaillen wurde sie dem Täter schutzlos ausgeliefert.
Biles blickt nach unten.
Simone Biles sagt vor dem Ausschuss aus (Saul Loeb/Pool via AP/dpa/picture-alliance)
Am Ende ihrer Aussage erfährt die Öffentlichkeit zum ersten Mal ausführlich, wie es der Olympiasiegerin bei den Spielen von Tokio konkret ergangen ist. Alle Welt hatte von ihr Goldmedaillen erwartet, die der Mensch Simone Biles nicht abliefern konnte. Die Olympiasiegerin gibt einen Einblick in ihren Alltag zwischen Training und Therapie. Sie beschreibt das Ziel, durch ihre Teilnahme bei den Spielen von Tokio, die Erinnerung an den schweren sexuellen Missbrauch an hunderten jungen Turnerinnen wach zu halten:

Schwere Last

"Das war eine schwere Last, besonders ohne die Unterstützung meiner Familie in Tokio. Ich bin eine starke Person und werde durchhalten. Aber ich hätte nie allein gelassen werden dürfen mit dem Missbrauch durch Larry Nassar. Der wurde erst möglich durch das Versagen, das hier untersucht werden soll."
Auch ihre frühere Turn-Kollegin McKayla Maroney belastet das FBI schwer. Sie hatte schon 2015 einem Mitarbeiter in einer mehrstündigen Aussage den Missbrauch durch Larry Nassar in allen Details geschildert. Danach habe der Mitarbeiter lediglich gefragt: "Ist das alles?" Und wie sie Jahre später feststellen musste ihre Aussage verfälscht und nichts unternommen:

Schutz für wen?

"Welchen Sinn macht es, Missbrauch zu melden, wenn unsere eigenen FBI-Agenten den Bericht in einer Schublade verschwinden lassen? Sie hatten Beweise für sexuellen Missbrauch und haben nichts getan. Wenn sie mich nicht beschützen wollen möchte ich wissen: Wen versuchen sie zu schützen?"
McKayla Maroney spricht in ein Mikrofon.
McKayla Maroney bei ihrer Aussage vor dem Senatsausschuss (Saul Loeb/Pool via AP/dpa/picture-alliance)
Die Anhörung beschreibt ein System von Fehlern, Versagen und Vertuschung. FBI Direktor Christopher Wray entschuldigt sich und berichtet, was seine Behörde aus dem Versagen gelernt habe und dass ein Mitarbeiter entlassen wurde.

Behinderung der Justiz und Korruption

Dann versichert Senator Jon Ossof den Zeuginnen, dass der US-Senat für eine umfassende Untersuchung sorgen wird, um die persönlich und institutionell Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen für die Fehler, das Vertuschen und Verschweigen bei den Ermittlungen im Fall Nassar.
"Und ich denke, dass es in diesem Fall auch zwingende Beweise für eine mögliche Behinderung der Justiz und Korruption gibt. Ich werde sicherstellen, dass der Gerechtigkeit genüge getan wird."
Denn mehr als sechs Jahre nach den ersten Aussagen von Betroffenen ist das immer noch nicht passiert.