Mike Abdeen ist gerade auf dem Weg zur Arbeit, als er im Radio hört, dass ein Flugzeug in einen der Türme des World Trade Center in New York gekracht ist. Geschockt denkt er zunächst an einen Unfall. Bis er sein Büro erreicht und den Fernseher einschaltet.
Langsam begreift auch Mike Abdeen an diesem 11. September 2001, dass es sich nicht um einen Unfall, sondern um den bis dahin schlimmsten Terroranschlag auf amerikanischem Boden handelt. Und es dauert nicht lange, bis er realisiert, wie das auch seine Arbeit verändern wird.
Sergeant Mike Abdeen sitzt im Sheriff's Department von Los Angeles County und erinnert sich an diesen Dienstag vor 15 Jahren. Er trägt eine beige-grüne Uniform, das kurz geschorene Haar und der Schnäuzer sind inzwischen grau meliert.
"Ich war nach 9/11 im Bereich Terrorismusbekämpfung tätig. Wir haben Anrufe bekommen wie: 'Mein Nachbar spricht Arabisch, können Sie ihn mal überprüfen?' Oder: 'Wir haben hier jemanden, der einen Koran in seinem Auto hat, was sollen wir tun?'
Die Strafverfolgungsbehörden wussten damals nichts über die muslimischen Gemeinden, niemand hat sich die Zeit genommen, sie und ihre Kultur kennenzulernen."
Selbst Moslem beobachtete Mike Abdeen nach dem 11. September, wie das Misstrauen gegenüber den mittlerweile 3,3 Millionen amerikanischen Muslimen wuchs. Eigentlich - das bestätigen alle - gut integriert, wohlhabend, gebildet, patriotisch, waren sie in den Augen vieler plötzlich nur noch eines: verdächtig. Am Flughafen, in der U-Bahn, in der Schule. 96.000 Hinweise gingen allein in der Woche nach den Anschlägen bei einer Hotline des FBI ein.
Die Reaktion der Bush-Administration sah ähnlich aus. Auf die Terroranschläge reagierte die Regierung mit Rasterfahndung, weitreichenden Eingriffen in die Bürgerrechte sowie Tausenden Festnahmen und Abschiebungen. Unsicherheit machte sich in den muslimischen Gemeinden breit, Misstrauen und Wut, erinnert sich Mike Abdeen.
"Ich habe Moscheen, Schulen und Organisationen besucht, Sie haben mich nicht für aufrichtig gehalten, dachten, ich sammele Informationen für die Geheimdienste."
Nicht zu Unrecht: Immer wieder haben nach dem 11. September 2001 Fälle Schlagzeilen gemacht, in denen Undercover-Agenten des FBI in Moschee-Gemeinden tätig waren. Und tätig sind.
Einen weiteren Anschlag dieses Ausmaßes aber haben die USA bislang nicht erlebt. Und so resümiert US-Präsident Barack Obama in seiner Rede an die Nation am 6. Dezember 2015:
"Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden haben unzählige Anschlagspläne vereitelt, hierzulande und im Ausland. Sie haben rund um die Uhr gearbeitet, damit wir sicher sind."
Einerseits.
"Doch während wir besser darin geworden sind, komplexe Attacken wie 9/11 zu verhindern, haben sich die Terroristen weniger komplexen Gewalttaten wie den uns allzu bekannten Massenschießereien zugewandt."
Zum Beispiel in Fort Hood 2009, San Bernardino 2015 oder Orlando in diesem Jahr. Und auch die Terroristen sind inzwischen andere, sagt Mokhtar Awad vom Center for Cyber and Homeland Security an der George Washington University:
"Seit 9/11 ist den USA bewusst geworden, dass die Gefahr nicht nur von außen droht. Es gibt Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, die sich radikalisieren."
Der Terrorismus ist inzwischen homegrown. Das gilt vor allem, seit Al-Kaida Konkurrenz durch den selbst erklärten Islamischen Staat bekommen hat, der auch in den USA an Attraktivität gewinnt. Derzeit ermittelt das FBI in 1.000 Fällen gegen Sympathisanten islamistischer Gruppierungen in allen 50 Bundesstaaten der USA.
Im Vergleich zu Europa seien diese Zahlen zwar überschaubar, sagt Mokhtar Awad, die Angst vor Anschlägen sei dennoch groß. Denn anders als in Europa handelte es sich bei den Attentätern in den USA bislang weitgehend um Einzeltäter. Das macht die Situation so unberechenbar und stellt die Anti-Terror-Politik der vergangenen Jahre infrage. Denn klar ist:
"Strafverfolgung kann nicht die alleinige Antwort sein."
Umdenken bei der Regierung
Diese Erkenntnis hat die Regierung zum Umdenken bewegt.
Irfan Saeed empfängt in einem fensterlosen Konferenz-raum im US-Außenministerium. Er arbeitet in der Abteilung für Terrorismusbekämpfung, war lange als Staatsanwalt tätig. Dabei kannte er nur diesen Dreiklang:
Ermitteln, festnehmen und ins Gefängnis stecken. Irgendwann sei er es leid gewesen, erzählt Saeed. Vor allem weil die Angeklagten, auf die er vor Gericht traf, immer jünger wurden.
"Diese Kinder hatten eine Zukunft. Sie sind zur Schule gegangen. Ihre Eltern haben viel auf sich genommen, sie sind in die USA gekommen, damit ihre Kinder hier ein besseres Leben haben – und können das hier nicht finden. Das muss sich ändern."
Und das soll sich ändern. CVE heißt die Strategie, die die Obama-Regierung vor mittlerweile fünf Jahren aus-gerufen hat: "Countering Violent Extremism". Im Kern geht es darum zu handeln, bevor sich jemand radikalisiert und straffällig wird. Bevor jemand vom Extremisten zum Terroristen wird.
"CVE besteht aus vier Schritten: Ursachenforschung, Prävention, Intervention und Rehabilitierung bzw. Reintegration."
Zunächst also geht es um Fragen wie diese:
"Was zieht Jugendliche zu Terrororganisationen wie dem IS, Al Schabab oder Boko Haram? Wir können die globalen Missstände aufzählen: Islamophobie, die Kriege in Syrien und im Irak – das alleine aber reicht noch nicht. Neben globalen Gründen gibt es immer auch lokale Gründe. Wir müssen die Umgebung, das Umfeld besser verstehen. Wo genau liegen da die Gründe für eine etwaige Radikalisierung?"
Radikalisierung vorbeugen
Armut, Diskriminierung oder Perspektivlosigkeit? Und: Was kann man daran ändern? Irfan Saeed schaut herausfordernd durch seine Brillengläser. Doch er weiß auch, dass die Regierung allenfalls Impulse geben kann. Wer darüber nachdenkt, sich dem Islamischen Staat anzuschließen, wird sich kaum von einer Regierung davon abbringen lassen, die Krieg gegen den IS führt. Schon gar nicht von einer Strategie, an der unter anderem auch das Ministerium für Heimatschutz und das FBI beteiligt sind. Also folgert Saeed:
"Es geht also auch darum, die Gesellschaft stärker einzubinden, deren Ziel es sein muss, unsere Jugend widerstandsfähig zu machen, sie zu beschützen."
Also setzt die Regierung bei der Umsetzung ihrer nationalen CVE-Strategie nicht auf ein nationales Muster, sondern auf Initiativen der Bundesstaaten, Städte und Gemeinden. Auf die Zivilgesellschaft und Menschen wie Mehreen Farooq. Die junge Frau arbeitet für WORDE, eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Montgomery County, nördlich von Washington D.C. gelegen. Ein Landkreis, der sich sehr verändert hat in den vergangenen Jahren, in dem die Mehrheit inzwischen aus einer Vielzahl von Minderheiten besteht. Auch Mahreen Farooq spricht von Widerstandsfähigkeit, wenn sie ihr Modell erklärt.
Die Organisation versteht sich als gesellschaftlicher Knotenpunkt, sie hat schon 200 Religionsgemeinschaften und 100 soziale Dienstleister zusammengebracht und untereinander vernetzt. Schließlich seien sie alle von der gleichen Sorge getrieben:
"Es kann jede Familie treffen, 40 Prozent derer, die sich radikalisiert haben, sind Konvertiten. Also ist das ein Problem, dem sich jede Gemeinschaft stellen muss."
Und wenn eine Gemeinschaft stark ist, glaubt die Wissenschaftlerin, dann kann sie junge Leute davon abhalten, sich zu radikalisieren. Regelmäßig veranstaltet WORDE Workshops für Schüler, damit diese lernen, andere vor Hänseleien und Hassrede zu schützen – auch im Netz; dort, wo der IS besonders erfolgreich auch um amerikanische Muslime und Konvertiten buhlt:
"Man muss sie aus ihrer Passivität herausholen, damit sie nicht nur zuschauen, wenn einer abgleitet. Damit sie nicht nur daneben stehen, sondern aufstehen. Wir veranstalten auch deswegen Workshops für Jugendliche, damit sie lernen, aufmerksamer zu werden und sich im Zweifel jemandem anvertrauen."
Eltern oder Lehrern zum Beispiel. Auch sie werden bei WORDE geschult, damit sie erkennen können, ob ihre Kinder oder Schüler möglicherweise gefährdet sind. Denn fast immer stellt sich später heraus, hat irgendjemand irgendetwas geahnt. Aber nicht gehandelt. Oder zu spät. Auch Irfan Saeed vom US-Außenministerium wünscht sich, dass sich das ändert:
"Wenn man sie nach der Verhaftung befragt, sagen alle: Ja, ich hab schon gemerkt, dass da in den vergangenen Monaten irgendwas los war. Anstatt darauf zu warten, dass die Reporter klingeln, nachdem jemand verhaftet worden ist, sollten wir darüber nachdenken, wie man vorher intervenieren kann, sobald man die Indikatoren erkennt.
Bisher keine konkreten Anlaufstellen
Doch wer soll intervenieren? Zentrale Anlaufstellen und Hotlines gibt es in den USA nicht. Die Regierung ist auch hier in einer schwierigen Rolle. Ihr misstraut man. Die Strafverfolgungsbehörden wiederum können erst Ein-Greifen, wenn ein Straftatbestand vorliegt. Intervenieren also die Eltern, die Lehrer, der Basketballtrainer? Die Altersgenossen? Wie groß ist die Gefahr, in die sie sich begeben? Und, noch einmal einen Schritt zurück: An welchen Indikatoren soll man überhaupt erkennen, dass sich jemand radikalisiert?
Haroon Manjlai zweifelt ganz grundsätzlich an dieser Methode:
"Wie jemand seine Religion ausübt, welche außen-politischen Meinungen er vertritt, wie er sich kleidet, wo er betet und mit dem er verkehrt – das als Indikatoren dafür zu nutzen, ob jemand ein Verbrechen begehen könnte, ist verfassungswidrig und führt nicht besonders weit."
Der Gedanke an Rasterfahndung und Denunziation schwingt mit, wenn der bärtige Mann im grauen Wollpullover schildert, was es bedeute, wenn diese Art von "Profiling" auch von den muslimischen Gemeinden verlangt würde. Dabei kämen die meisten Hinweise ohnehin aus den Moschee-Gemeinden.
Modellstädte für Heimatschutz
Haroon Manjlai arbeitet für das Council on American-Islamic Relations, eine muslimische Bürgerrechtsorganisation in den USA. Sie gehört zu den schärfsten Kritikern der neuen Strategie. Die Niederlassung im südkalifornischen Anaheim liegt etwa eine halbe Autostunde von Los Angeles entfernt.
L.A. ist eine von drei CVE-Modellstädten, die eigene Strategien entwickeln sollen, zugeschnitten auf die Bedürfnisse vor Ort. Manjlai wiederum ist es ein Bedürfnis zu betonen, warum sich seine Bürgerrechtsorganisation CAIR nicht daran beteiligt: CVE sei für ihn nur eine Variante dessen, was Muslime in Amerika seit 15 Jahren erleben.
"Leider haben wir seit dem 11. September eine ganze Reihe politischer Anti-Terror-Maßnahmen gesehen, die am Ende besonders auf die muslimischen Gemeinden zugeschnitten sind. Dabei hat das Ministerium für Heimatschutz selbst feststellen müssen, dass die Gefahr durch andere extremistische Gruppen – regierungsfeindliche oder rassistische Gruppen – ebenso groß, wenn nicht größer ist. Für die gibt es keine speziellen Programme."
Tatsächlich schätzen Strafverfolgungsbehörden die Gefahr durch rechts-gerichtete Extremisten größer ein. Das ergab eine umfangreiche Umfrage im vergangenen Sommer. Und tatsächlich ist die CVE-Strategie eigentlich nicht nur auf islamistischen, sondern auf jedwede Form von gewalttätigem Extremismus ausgelegt. In der Öffentlichkeit aber habe sich ein anderer Eindruck festgesetzt, beklagt Manjlai.
Wer bei Salam Al-Marayati in seinem Büro in Los Angeles sitzt, hat eine ganz ähnliche Aussicht wie bei CAIR: blauer Himmel, ein paar Wölkchen, Palmen, die sich im Wind wiegen. Aber er bekommt etwas anderes zu hören.
"Der Islam ruft uns dazu auf, eine Führungsrolle zu übernehmen, man kann nicht nur rumsitzen und sich beschweren. Wir übernehmen Verantwortung, auch wenn wir für das Problem nicht verantwortlich sind."
Es ist nicht so, als könne der Präsident des Muslim Public Affairs Council die Kritik nicht nachvollziehen. Auch er spricht von der Angst vor Stigmatisierung und Rasterfahndung, der er in seiner Gemeinde begegne. Aber: Seine muslimische Interessenvertretung MPAC hat einen anderen Schluss daraus gezogen und eine eigene Initiative auf die Beine gestellt: die "Safe Spaces Initiative".
Die Basis, sagt Al-Marayati und malt eine große Pyramide an die Tafel hinter ihm, bilde eine gesunde Gemeinde.
"Eine gesunde Gemeinde ist eine, in der sich die Menschen für eine Sache engagieren wollen. Ich wünschte, in der Moschee würde es nicht nur darum gehen, wie man fastet oder betet, sondern wie man mit gesellschaftlichen Problemen umgeht. Dass es dort Angebote gibt, wo ich mich engagieren kann. "
Denn Verantwortung zu übernehmen, ohne für das Problem verantwortlich zu sein, heißt für Al-Marayati auch zuzugeben: Es gibt ein Problem.
"Es gibt Gemeindemitglieder mit extremistischen Ideen. Das ist eine Realität. Das Problem ist: Niemand interveniert."
Den Islam an die gesellschaflichen Veränderungen anpassen
Eher werde in den Gemeinden dafür gebetet, dass das Problem vorübergehe, spottet Al-Marayati. Auch über Politik werde viel zu wenig diskutiert, aus Angst, unangenehm aufzufallen. Dabei gehe es um genau das:
"Wie machen wir den Islam wieder relevant für unsere Kinder? Damit sie nicht denken, sie müssen töten, um ein echter Moslem zu sein. Wie passen wir den Islam an die gesellschaftlichen Veränderungen an?"
Wir müssen unseren Glauben von den Extremisten zurückerobern, appelliert Al-Marayati an die amerikanischen Muslime, Alternativen bieten, Gegennarrative. Offline und Online. Denn bislang seien es die Extremisten, die Medien und die politische Rechte, die den Diskurs bestimmten ...
"Donald J. Trump is calling for a total and complete shutdown of Muslims entering the United States. Until our country's representatives can figure out what the hell is going on!”
Verschärfte Rhetorik gegenüber Muslimen
Seit Donald Trump in das Rennen um das Weiße Haus eingestiegen ist, hat sich die Rhetorik gegenüber Muslimen spürbar verschärft. Ungeachtet der Tatsache, dass die Attentäter der vergangenen Jahre fast alle gebürtige Amerikaner waren, lautet die Botschaft des republikanischen Präsidentschaftskandidaten unverdrossen: "wir" gegen "die". Was den Kampf gegen die Radikalisierung im eigenen Land nicht einfacher macht.
Auch Sergeant Mike Abdeen beobachtet in Los Angeles County mit Sorge, wie sich das politische Klima in den vergangenen Monaten verschlechtert hat.
"Das macht den Leuten Angst, wenn Trump sagt, dass er alle Muslime wegschicken will. Das schürt Angst und macht meinen Job schwieriger."
Denn sein Job besteht seit neun Jahren darin, für gute Kontakte zu den muslimischen Gemeinden zu sorgen. Abdeen leitet inzwischen die "Muslim Community Affairs Unit", die damals erste Einheit ihrer Art. Abdeen und sein kleines Team haben viel Zeit und Energie investiert, um die eigenen Leute besser zu schulen und um Vertrauen aufzubauen, auf beiden Seiten. Und das mit Erfolg, erzählt er. Man feiere zusammen, begegne sich in der Moschee, tausche sich aus. Auf Augenhöhe, wie er betont. Doch seit der Wahlkampf begonnen hat, häuften sich Zwischenfälle wie diese:
"Eine Frau wurde an einer Tankstelle angegriffen, ihr wurde der Schleier vom Kopf gerissen, eine Moschee wurde angezündet, wir hatten mehrere Fälle von Vandalismus In einer Moschee hat eine Granatenattrappe für große Unruhe gesorgt."
Und auch der Ton sei wieder rauer geworden. Feindlicher.
"Wir beobachten das gerade in den sozialen Medien, Facebook, Twitter. Doch vieles von dem, was da zu lesen ist, ist von der Meinungsfreiheit gedeckt."
Vergiftet werde das gesellschaftliche Klima dennoch. Dabei, sagt Mike Abdeen, verliere man eines oft aus den Augen:
"Der Extremismus amerikanischer Muslime wird meiner Ansicht nach übertrieben. Ich sage nicht, dass wir kein Problem haben. Wir haben eines und das muss man angehen. Aber wir haben in den USA auch andere Probleme, denen wir unsere Aufmerksamkeit widmen sollten."
Und das wenn möglich: gemeinsam.
Die Recherchen für diesen Beitrag entstanden während einer Pressereise mit dem US-Außenministerium.