US-Wahl
Great again? - Der Kulturkampf in den USA

Der Wahlkampf in den USA ist längst Ausdruck eines Kulturkampfs. Auf der einen Seite das liberale, progressive Amerika, auf der anderen das puritanische, religiös geprägte. Wo sind die Wurzeln für diesen Riss, der durch die Kultur des Landes geht?

Von Markus Metz und Georg Seeßlen |
Eine weiße Männerhand zielt mit einer Pistole unter einer US-Flagge hervor.
Wenn man den amerikanischen Kulturkampf auf ein einziges Bild verdichten wollte, dann wäre es wohl die Schusswaffe in der Hand des weißen Mannes (IMAGO / Depositphotos / mikeledray via imago-images.de)
Aus europäischer Perspektive erschien die amerikanische Kultur auf den ersten Blick als eine beneidenswerte, wunderbar vielfältige und nach allen Seiten offene Angelegenheit. Mit Platz für alle Religionen dieser Welt, für viele Lebensentwürfe, für die Freiheit von Kunst und Kritik in den Städten und für nostalgische Idyllen in den Regionen, für Bigotterie wie für Atheismus, für Pop und Hochkultur, und für beinahe jede Art von Meinung und Geschmack. Das alles zusammen gehalten vom „American way of life“, für den Coca Cola, Hollywood und Halloween standen, der aber eine viel tiefere Gemeinschaft in Vielfalt ausdrückte.
Alle Einwanderergruppen durften ihre eigenen kulturellen Gepflogenheiten und sogar ihre Sprachen beibehalten: Das Modell ‚verschiedene Kulturen in einer Gesellschaft‘ funktionierte und wurde zum Leit- und Sehnsuchtsbild: Land der Freien und Heimat der Tapferen.
Der Kulturkampf, der seit dem Ende des letzten Jahrhunderts in den USA im Gang ist, scheint nun aber den Grundkonsens einer Einheit in Vielfalt fundamental in Frage zu stellen. Das spielt sich auf einer politischen Ebene ab, wo der politische Opponent nicht mehr als fairer Wettbewerber, sondern als Feind betrachtet wird und wo ein Populist wie Donald Trump das konservative, das rechte und das anti-liberale Amerika zu einem Kreuzzug gegen die liberale, linke und „woke“ Elite führen will. Und der Kulturkampf spielt sich in den öffentlichen Debatten ab, in Hasspredigten und Fake News, in gegenseitiger Denunziation und Drohung.
Vereinfacht gesagt: Es geht um eine Auseinandersetzung zwischen der universalistischen, liberalen und progressiven Seite der amerikanischen Kultur und der kommunitaristischen, konservativen und nostalgischen Seite.
Markus Metz, geboren 1958, studierte Publizistik, Politik und Theaterwissenschaft, er lebt als Hörfunkjournalist und Autor in München. Zuletzt erschien von ihm Wir Kleinbürger 4.0. Die neue Koalition und ihre Gesellschaft (Edition Tiamat, Berlin) und Apokalypse & Karneval. Neoliberalismus: Next Level (Bertz & Fischer, Berlin), beide gemeinsam mit Georg Seeßlen.
Georg Seeßlen, geboren 1948, hat in München Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie studiert. Er war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und schreibt heute als freier Autor unter anderem für Die ZeitFrankfurter Rundschautaz und epd. Außerdem hat er rund 20 Filmbücher verfasst und Dokumentarfilme fürs Fernsehen gedreht.

„Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.“
So schwärmte Johann Wolfgang von Goethe 1827 vom neuen, von Geschichte und Kultur unbelasteten Kontinent. So viel Neuanfang, so viel Zukunft schien es nirgends sonst zu geben. Freilich wollte und konnte der Geheimrat noch nicht über die großen Sünden, die Spaltungen dieses Landes sprechen. Einige davon, zum Beispiel die Sklaverei, zeichneten sich schon im Verhalten der Gründer und Begründer der kommenden Vereinigten Staaten von Amerika ab, andere spielten sich noch im Verborgenen ab und wieder andere sollten erst noch folgen. Ganz unsichtbar konnten sie indes nicht bleiben, die dunklen Flecken auf dem Bild von Gottes eigenem Land und der Wiege der Demokratie. Immerhin kam ein anderer Deutscher, Arthur Schopenhauer, 22 Jahre später zu einer ganz anderen Bewertung.

Der eigentliche Charakter der nordamerikanischen Nation ist Gemeinheit: Sie zeigt sich an ihm in allen Formen; als moralische, intellektuelle, ästhetische und gesellige Gemeinheit; und nicht bloß im Privatleben, sondern auch im öffentlichen: sie verlässt den Yankee nicht, stelle er sich wie er will.

Arthur Schopenhauer
Große Hoffnungen und mindestens ebenso große Enttäuschungen – beides immer sehr nahe beieinander, das scheint ein Wesenszug der US-amerikanischen Nation und vor allem ihrer Kultur zu sein. Mittlerweile, fast 200 Jahre nach Goethes auch sprachlich etwas unbekümmertem Gedicht, hat auch sie ihre Erinnerungen und ihren Streit in sich. Da ist die scheinbar ewige Frage, ob die USA sich auf sich selbst zurückziehen und den Rest der Welt seiner Wege gehen lassen soll, oder ob die eigene Macht zu einer Art Weltordnung führen soll, der Konflikt zwischen nostalgisch-nationalistischer Isolation und globalem wirtschaftlichen und nicht zuletzt moralischem Führungsanspruch. Da ist die tiefe Spaltung zwischen den Föderalisten, die sich eine funktionstüchtige Zentralregierung in Washington wünschen, und den Anti-Föderalisten, die sich die Einmischung staatlicher Stellen am liebsten ganz verbitten würden, vor allem, wenn es um Geschäfte geht. Da ist der krasse Widerspruch zwischen fundamentalistisch-konservativen Kleinstadtbewohnern und fortschrittlich-liberalen Großstädtern. Und da sind die großen Spaltungen und Verwundungen aus dieser zweihundertjährigen Geschichte, die immer wieder in das Einigende zurückgebunden wurden, den Amerikanischen Traum, und die dennoch bei jeder Krise wieder neu aufbrechen. Doch jenseits dieser Spannungen und Widersprüche schien es etwas zu geben, was alles das zusammenhielt, der American Way of Life, der den homo americanus hervorbringen soll.

Trotz der enormen geographischen Weite des Landes, trotz unserer Zersplitterung und der Vielfalt des Menschenschlages aus allen Teilen der Völkerwelt sind wir eine Nation, ein neuer Menschenschlag.

John Steinbeck
So der Schriftsteller John Steinbeck. Derzeit sieht es allerdings nicht nach einem solchen „vital center“ aus, wie man in den USA eine imaginäre Mitte des privaten wie öffentlichen Lebens nennt, auf das man sich einigen kann wie auf Truthahnessen und Baseball. Mary L. Trump, das schwarze, das heißt liberale Schaf in der Familie des Ex-Präsidenten, nennt ihre Abrechnung denn auch Das amerikanische Trauma und sucht, wie viele andere Autorinnen und Autoren, nach Wegen zur „Heilung einer gespaltenen Nation“.
Irgendwie, so die Hoffnung, muss es doch zu retten sein, dieses vital center des amerikanischen Wegs, das nach jeder Spaltung neu entdeckt und gefestigt werden sollte. Diese Spaltung offenbart sich derzeit nicht nur in einem Wahlkampf, bei dem es nicht mehr um zwei politische Programme innerhalb eines Systems geht, sondern um unversöhnliche Feindschaft zwischen zwei Arten, Amerika und den Rest der Welt zu verstehen. Sie offenbart sich ebenso in einem manchmal erbitterten und manchmal auch grotesken Kulturkampf. Es geht um die Art, wie man lebt, wie Geschlechter und Familien, wie Religion und Wissenschaft organisiert werden, um Schulen und Universitäten, es geht um Romane und Fernsehserien, es geht um Kinderbücher und Sprachregelungen.
Ursprünglich steht das Wort „Kulturkampf“ für eine Episode der europäischen Geschichte, nämlich die Auseinandersetzungen zwischen Staaten und katholischer Kirche. Und zwar vor allem für den Konflikt zwischen Otto von Bismarcks Regierung im deutschen Kaiserreich und dem Vatikan. Einerseits ging es dabei darum, den kirchlichen Einfluss im öffentlichen Leben zurückzudrängen. Andererseits auch um eine Stärkung der protestantischen Mehrheit und um eine Vormachtstellung des liberalen Bürgertums in den Städten gegenüber der konservativ geprägten Landbevölkerung. Ganz allgemein bedeutet Kulturkampf seitdem, nach den Worten des britischen Historikers David Blackbourn:

Die Auseinandersetzung zwischen einander fremden und feindlichen kulturellen Lebensweisen.

David Blackbourn
Eine moderne Gesellschaft zeichnet sich nicht etwa dadurch aus, dass es in ihr keine solchen Konflikte der kulturellen, der religiösen, der ästhetischen, der moralischen und der alltäglichen Lebensweisen gibt. Sondern dadurch, dass man sie moderiert und die Ungleichzeitigkeiten, die sich zwangsläufig in verschiedenen Lebensumständen ergeben, durch Toleranz und Respekt abmildert. Allerdings bietet ein schwelender Kulturkampf einen idealen Ansatzpunkt für jede populistische Politik. Diese vor- oder wie es im Jargon der neuen Rechten heißt meta-politischen Konflikte bringen konservative Bürgerinnen und Bürger in Kontakt mit Extremisten, Nostalgiker mit Umstürzlern, Moderate mit Militanten und versetzen die Gesellschaft in eine scheinbar unerträgliche Spannung. Wenn der Kulturkampf zum politischen Programm geworden ist, scheint es stets auf beiden Seiten um alles oder nichts zu gehen, um das Überleben der jeweiligen kulturellen Lebensart. Donald Trump und die Mehrheit in der Republikanischen Partei haben, wie auch die Rechtspopulisten in Europa, den Kulturkampf in Propaganda verwandelt und dabei die Konfliktfelder ausgedehnt. Es geht nicht mehr allein um die Zukunft, die bekanntlich eine Rückkehr in eine großartige Vergangenheit sein soll, die es nie gab. Es geht nicht allein um die Gegenwart, in der sich nationale Belange wieder vor alle Verantwortung in der Weltpolitik schieben. Es geht auch um die Vergangenheit. Vor allem geht es darum, wie US-Amerika sich selbst sieht, wie es seine Geschichte und wie es seine Träume erzählt. Und es geht darum, wie man sich zu den fünf großen Traumata, den fünf großen Sünden, den fünf großen Spaltungen verhält. Was ist Amerika, was sind die Amerikaner? Darum geht es in den „Culture Wars“, die der Soziologe James Davison Hunter bereits 1991 vorhersah in seinem Buch mit dem Untertitel Kampf um die Definition Amerikas.
Es gibt den großen amerikanischen Traum von einer Gesellschaft, in der es jeder vom Tellerwäscher zum Millionär bringen kann. Es gibt den American Way of Life, der aus Moden, Gewohnheiten und Spektakeln eine kulturelle Gemeinschaft formen soll, jenseits aller Rassen und Klassen. Und es gibt die große amerikanische Erzählung von der Heimat der Tapferen und dem Land der Freien, die gemeinsam einen wilden Kontinent in ein Paradies aus Produktion und Konsum verwandelt haben. Alle drei großen Mythen sind in sich dynamisch, umstritten und werden beständig revidiert. Sie sind nicht nur Faktoren der Stabilisierung, sondern auch Objekte der kulturellen Auseinandersetzung, der culture wars zwischen den konservativen Nationalisten und den progressiven Liberalen.
Die Verheißung, die Wildnis in einen Garten zu verwandeln, bedeutete vor allem, Natur in Besitz zu verwandeln. Das war die erste der großen Sünden. Die Gier nach Landbesitz führte zu den Verbrechen gegen die ursprünglichen Amerikaner, die man nach dem großen Irrtum des Christoph Columbus Indianer nannte, und den Verbrechen gegenüber der Natur, die mit der Ausrottung der Bisons, der Nahrungsgrundlage verschiedener Nationen der native Americans, einen traurigen Höhepunkt erreichen sollte. So begann schon im klassischen amerikanischen Helden, dem Westerner, die Spaltung in den Menschen, der auf Seiten der Natur, der native Americans, der Freiheit steht, und den anderen, der Kapital, Ausbeutung und Raubbau gutheißen würde. Nichts auf diesem riesigen Kontinent schien vor dem Land- und Geldhunger der Weißen sicher, von Anbeginn seiner kolonialen Eroberung.

Kein verschwiegener Ort so schön, dass er hätte hoffen können, dem Vordringen jener zu entgehen, die bei ihrem Blut geschworen hatten, ihr Verlangen nach Rache zu stillen oder die kalte, selbstsüchtige Politik der fernen europäischen Monarchen durchzusetzen.

James Fenimore Cooper: "Der letzte Mohikaner"
Die zweite Sünde des neuen Landes war die Einführung der Sklaverei in den südlichen Staaten, wo Baumwolle, Tabak und Mais die Landbesitzer reich machten. Die Vereinigten Staaten von Amerika gründeten ihr Selbstverständnis auf der Basis eines Paradoxon: Freiheit und Gleichheit der weißen Bürger wurden auf Kosten der Vertreibung und Ermordung der native Americans und auf Kosten der aus Afrika verschleppten Sklaven verwirklicht.

Rassismus erlaubte den weißen Virginianern, ein Streben nach Gleichheit zu entwickeln, welches die englischen Republikaner der Freiheit widmeten.

Edmund S. Morgan, amerikanischer Historiker
Befürworter und Gegner der Sklaverei spalteten die US-amerikanische Nation. Sie war zumindest Auslöser, wenn vielleicht auch nicht alleinige Ursache der dritten großen Sünde, des Bürgerkriegs, der von 1861 bis 1865 dauerte. Die Opfer unter den Soldaten beider Seiten werden auf etwa 750.000 geschätzt, 50.000 als Minimum die Opfer in der Zivilbevölkerung. Mit der Kapitulation der konföderierten Armee im Sommer 1865 endete der Bürgerkrieg und zumindest offiziell die Sklaverei. Die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft endete nicht. Der amerikanische Historiker Gary W. Gallagher unterscheidet vier Erzählungen nach dem Bürgerkrieg, die mit etlichen Varianten bis heute erkennbar sind: „Der Lost Cause, der Union Cause, der Emancipation Cause und der Reconciliation Cause.“
Also die Erzählung der Niederlage und des Verlustes, die Erzählung des Sieges und der Einigung, die Erzählung der Befreiung und Gleichberechtigung und die Erzählung der Versöhnung und des Neuanfangs. Das amerikanische Nationalepos als Work in Progress, der Western, ist vor allem aus dieser letzten Erzählung hervorgegangen: Im Wilden Westen sollte die Nation noch einmal neu geboren werden. Das wurde sie auch in einer explosiven Entwicklung von Kapital und Gewalt – von den Viehbaronen, die Fleisch für den industriellen Norden lieferten, über diverse Anfälle von Goldrausch bis zu den ersten Ölfunden in Texas. Hier entsteht die Sünde Nummer vier, eine tiefgreifende Faszination für individuelle Gewalt, der Kult der Waffe, die ewige Spaltung zwischen der romantischen Verehrung des anarchischen Banditen und der Sehnsucht nach law and order. Und das Phantasma der provinziellen Kleinstadt, die, durch den Sheriff gezähmt, zum Hort religiöser Andacht, bürgerlicher Nachbarschaft und einer natürlichen Abneigung gegen alles Fremde und Neue werden sollte. Aus dem Mythos der ruhigen und konservativen amerikanischen Kleinstadt und der Metropole, die niemals schläft und in der alles zu haben ist, was modern und fortschrittlich ist, erwuchs eine zusätzliche Spannung. Im Großen und Ganzen ist es auch die Spaltung zwischen einem öffentlichen und manchmal militanten Konformismus und einer klammheimlichen und manchmal verzweifelten Faszination für den Außenseiter.

In Amerika ist das ‚Verschiedensein‘ nahezu gleichbedeutend mit Landesverrat.

Henry Miller
Und am verschiedensten und deshalb schon landesverräterisch scheint alles, was sozialistisch, links oder sonstwie systemkritisch ist. Der fünfte historische Sündenfall war der hysterische Antikommunismus, der unter dem Senator Joseph McCarthy in den Nachkriegsjahren seinen Höhepunkt fand, wo jeder jeden politisch verdächtigen und denunzieren konnte. Jeder konservative Politiker in der US-amerikanischen Geschichte seitdem hat diese Verschwörungsparanoia wieder aktiviert. Jemand wie Donald Trump weitet den antikommunistischen Hetzgesang einfach auf liberale Demokraten aus: ‚Alles Kommunisten außer uns.‘
Die fünf großen Spaltungen der US-amerikanischen Gesellschaft führten in guten Zeiten zu einer Art spannungsvollem Nebeneinander, die Sünden wurden ins kollektive Unterbewusstsein verdrängt. Die konservative Provinz und die unruhig fortschrittliche Großstadt, die Gesellschaft der bigotten Nationalisten und der liberalen Kosmopoliten, die Gesellschaft der Emanzipation und die der rigiden Ordnung, die Waffenfetischisten und die Kritiker des freien Besitzes von Feuerwaffen, der Rassismus und der Antirassismus, all das nebeneinander und manchmal mit einem Schlag auch wieder gegeneinander, so als wäre der amerikanische Bürgerkrieg zwar auf dem Schlachtfeld, nicht aber in den Herzen der Menschen beendet. Martin Luther King brachte diesen Zwiespalt auf den Punkt:

Die Menschen in Amerika sind vom Rassismus angesteckt – das ist die Gefahr. Paradoxerweise sind sie aber auch von den demokratischen Idealen angesteckt – das ist die Hoffnung.

Martin Luther King
So sieht es der amerikanische Historiker Stephen E. Bronner:

Eine regierungsfeindliche Haltung, gemischt mit der idealen Vorstellung der Kleinstadt und kaum verhohlenem Rassismus war 2008 die Strategie der Tea Party, und sie ist aufgegangen. Der unerwartete Sieg von Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl machte den Handel perfekt.

Stephen E. Bronner
USA! Die große Freiheit, die bedrückende Kleingeisterei. Schon 1935 beschrieb Sinclair Lewis in seinem Roman Das ist bei uns nicht möglich, wie aus dem Land der Freien eine Diktatur der bigotten Monster werden kann. Man kann es kaum glauben, wie sich die Slogans der Fiktion von damals und der Wirklichkeit von heute ähneln. Und wie schwach der Widerstand dagegen.

„‚Unsinn! Unsinn!‘, schnaubte Tasbrough. ‚Das ist bei uns nicht möglich, in Amerika! Wir sind doch in einem freien Land.‘ ‚Wenn Reverend Falck‘, entgegnete Doremus Jessup, ‚mir die Antwort verzeihen will, zum Teufel mit eurem: nicht möglich! Nennt mir doch ein anderes Volk, das so viel Anlage zur Hysterie hätte wie unseres … Jawohl, und zur Knechtseligkeit!‘“

Aus Sinclair Lewis' "Das ist bei uns nicht möglich"
Freiheit ist ein relativer Begriff. Um diesen Begriff geht es auch im Kulturkampf vornehmlich. Der amerikanische Kulturkampf wird auf fünf Feldern geführt.

1. Die Religion

Schon immer hat die religiöse Rechte eine bedeutende Rolle in der Politik gespielt, ohne sie wäre auch der Wahlsieg von Donald Trump 2016 nicht möglich gewesen. Die wichtigste Gruppierung sind dabei die so genannten Evangelikalen. Nach Ansicht der Historikerin Kristin Kobes Du Mez wandte sich die religiöse Rechte in den USA nach dem Ende des Kalten Krieges von ihrem ursprünglichen Erzfeind, dem gottlosen Kommunismus, ab und den inneren Gefahren zu, nämlich dem Feminismus, der Homosexualität, der Familienplanung, der aufklärerischen Wissenschaft und ganz allgemein dem Liberalismus. Das konservative Amerika folgte in hohem Maß dieser Transformation des Kalten Krieges nach außen in einen inneren Kulturkampf.
Und wie Sinclair Lewis schrieb, zeigen sich auch hier immer wieder Ansätze einer dramatischen Hysterisierung. In den Zentren der evangelikalen Bewegung wird derzeit an einer gereinigten Ausgabe des Neuen Testaments gearbeitet. Den Jesus der Bergpredigt will man sich offenbar nicht mehr gefallen lassen. Aber auch jenseits solcher Auswüchse nimmt der Einfluss religiöser Gruppierungen auf das öffentliche Leben und die Politik zu. Immer mehr Menschen und Organisationen verlangen die Aufhebung der ursprünglichen säkularen Verfassung zugunsten einer christlich-fundamentalistischen Ausrichtung staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen. Religiöse Vereinigungen wie die Moms for Liberty „säubern“ Schulbibliotheken und verlangen Zensur. Der Kulturkampf im Namen fundamentalistischer Religion wird nicht nur gegen die liberale Gesellschaft, sondern auch gegen den säkularen Staat geführt.

2. Sexualität und Familie

In kaum einem anderen Diskurs zeigt sich die Ungleichzeitigkeit der kulturellen Entwicklung der USA so dramatisch wie in den Haltungen zu den Fragen von Sexualität, geschlechtlicher Identität, Familie und Frauenrechten. Wie überall auf der Welt ist der Feminismus ein Hauptziel der rechten Propaganda, und es wird dabei auf keine Denunziation verzichtet. Immer wieder gab es Gerichtsurteile in den „konservativen“ Regionen des Landes, die die liberale Kritik fassungslos machten. In einem berüchtigten Urteil wies 1977 der Richter Archie Simonson aus Dane County, Wisconsin, vergewaltigten Frauen die Schuld daran zu und machte überdies die liberalen Medien für den sittlichen Verfall verantwortlich. Als er des Amtes enthoben werden sollte, erklärte der Richter:

Frauen erscheinen ohne Büstenhalter und mit den Brustwarzen deutlich sichtbar, und sie denken, das sei klug, und sie sitzen hier auf dem Zeugenstuhl mit Röcken, die bis zum Hintern hochrutschen, und wir haben es mit solchen Sachen auch in den Schulen zu tun.

Archie Simonson, Richter
Das ist eine Sprache, die den Trumpisten von heute geläufig sein muss. Frauenangst und Frauenhass ist eine konstante Größe im rechten Weltbild. Ebenso anschlussfähig ist das militante Beharren auf dem traditionellen Familienbild, das gegen äußere Gefahren wie Sexualaufklärung in der Schule oder schlimme Worte in Kinderbüchern, aber auch gegen den inneren Zerfall geschützt werden muss. J.D. Vance, mittlerweile Kandidat für den Vizepräsidenten-Posten unter Donald Trump, schreibt in seinem Bestseller Hillbilly Elegy nicht nur über den wirtschaftlichen Niedergang einstiger Industrieregionen, sondern auch die eigenen prekären Familienverhältnisse. Als ihm seine Mutter eröffnet habe, eine nächste, vierte Ehe eingehen zu wollen und deswegen einen erneuten Umzug zu planen, soll J. D. Vance im Alter von 14 Jahren bewusst geworden sein:

Die permanente Instabilität meiner Familienverhältnisse war die höchste Barriere auf dem Weg zu Teilhabe und Chancengerechtigkeit – und nicht etwa die Verhältnisse im öffentlichen Schulsystem.

J. D. Vance
Das Recht auf Abtreibung, das Recht auf Selbstbestimmung spielt, seit Kamala Harris die Rolle der demokratischen Kandidatin übernommen hat, eine Schlüsselrolle im Wahlkampf. Geschlechterordnung, Familienideal und Emanzipation als Reizthemen vereinen die verschiedenen Fraktionen der Rechten im Kulturkampf.

3. Offener und verdeckter Rassismus

Der Rassismus ist offenbar ein Geburtsfehler der amerikanischen Demokratie und wurde nie wirklich überwunden. Obwohl es sich um das Einwandererland par excellence handelt, lässt sich derzeit mit Fremdenfeindlichkeit und Furcht vor Migration wirkungsvoll Propaganda machen. Seit den Einwanderungswellen des 19. und 20. Jahrhunderts hat es zwar immer wieder heftige Auseinandersetzungen zwischen den „alten“ Amerikanern und Neuankömmlingen gegeben, doch ein so ausgesprochen fremdenfeindliches Verhalten mitsamt gewaltigem Grenzzaun und massenhaften Abschiebungen ist ein neueres Phänomen. Im Kulturkampf verbinden sich der strukturelle, der ökonomische und der kulturelle mit dem biologischen Rassismus.

4. Krieg gegen die Wissenschaft

Die amerikanische Rechte führt auf zwei Gebieten einen veritablen, auch offen so genannten War on Science. Da sind zum einen fundamentalistische religiöse Gruppen, die wissenschaftliche Aufklärung als Teufelswerk brandmarken, und da ist zum anderen der Kampf gegen die Zentralregierung, die sich wissenschaftlich beraten lässt. Der Zukunftsforscher Clark A. Miller definierte 2017 den Krieg gegen die Wissenschaft:

Die unterschiedlichen Flügel der konservativen Bewegung, die glauben, dass die Stärke der USA in ihren wirtschaftlichen Freiheiten, ihren individuellen Freiheiten und ihren Wirtschaftsunternehmen liegt, verbindet allesamt eine Wahrheit: Die Bundesregierung ist viel zu mächtig geworden. Für die Konservativen von heute ist die Wissenschaft ein Instrument der föderalen Macht. Sie greifen die Formen der Wahrheitsfindung der Wissenschaft, ihre Datenbanken und ihre Budgets nicht aus einer Ablehnung der Wissenschaft oder der Wahrheit an, sondern als eine kohärente Strategie zur Schwächung der Macht der Bundesbehörden, die auf sie angewiesen sind.

Clark A. Miller, Zukunftsforscher
Freilich, eine solche politische Strategie, die enge Verbindung von Wissenschaft und Regierung zu kappen, was zur Schwächung von beidem führt – eine Regierung ohne wissenschaftlichen Beistand wird leicht irrational, eine Wissenschaft ohne staatlichen Beistand wird leicht zum Instrument von Konzerninteressen –, würde auf Dauer nicht funktionieren, wenn es keine anti-wissenschaftliche Stimmung in einem Teil der Bevölkerung gäbe. Anti-Wissenschaft reicht, wie in der Zeit der Corona-Epidemie zu sehen war, bis in die Randbezirke des Wissenschaftsbetriebes selbst: Der Widerstand gegen Aufklärung, Wissenschaft und Kritik ist ein Bestandteil eines jeden Kulturkampfes.

5. Waffen und Männlichkeit

Auf verlorenem Posten sind im institutionalisierten Kulturkampf der USA seit jeher die Stimmen, die eine Einschränkung des privaten Waffenbesitzes, ein entschlossenes Vorgehen gegen Polizeigewalt oder eine Stärkung der Rechte von Frauen gegenüber Gewalt und Missbrauch fordern. Mit der American Rifle Association hat die Waffenlobby eine mächtige Institution. Vor allem aber fürchtet sich das konservative Amerika vor einem Eingriff in das angestammte Recht auf die Waffe in der eigenen Hand. Wenn man den amerikanischen Kulturkampf auf ein einziges Bild verdichten wollte, dann wäre es wohl die Schusswaffe in der Hand des weißen Mannes.
Der Kulturkampf gilt nicht zuletzt auch der freien Presse, auf die sich die amerikanische Demokratie ja nicht zu Unrecht einiges zugutehalten durfte. Doch schon in der Zeit von Richard Nixon als Präsident bekam der Mythos Risse, als er unverhohlen TV- und Radiosendern, die seine Politik kritisierten, mit dem Entzug der Sendelizenzen drohte. Donald Trump geht schon immer nicht nur mit der Wahrheit willkürlich um, sondern auch mit den Vertretern der Presse und hetzt gegen seine Kritiker. Als am 6. Januar 2021 die Trump-Anhänger das Kapitol in Washington stürmten, bedrohten sie nicht nur die politische Institution und ihre Repräsentanten, sondern auch alle Vertreter der Presse, die darüber berichten wollten. Auf der Tür des Kapitols blieb eine Inschrift zurück: „Murder the media!“, tötet die Presse.
Das rechtskonservative wie das fundamentalistisch christliche Lager haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass die Pressefreiheit als Verstoß gegen die eigene Lebensart gewertet wird und deshalb abgeschafft werden solle. Aus dem Recht auf freie Meinungsäußerung wurde in Trumps Amerika das Recht auf alternative Fakten. So berichtete der rechte Sender One America News Network etwa, bei den Angreifern auf das Kapitol habe es sich um linke Antifaschisten gehandelt. Aus der Kultur der freien Presse, die sich immer wieder auch gegen Korruption und Verfall als demokratische Instanz erhebt, ist unter den derzeitigen Bedingungen des Kulturkampfes ein offener Krieg der Diskurse geworden. Über den beiden kulturellen Lebensstilen, dem konservativen bis rechtsextremen und dem liberalen bis gemäßigt linken in der amerikanischen Gesellschaft, gibt es derzeit keine verbindlichen Wahrheiten, nicht einmal mehr die Autorität von Fakten und Erkenntnissen. Wenn der Kulturkampf zum politischen Programm geworden ist, dann gibt es am Ende nur noch die Wahl zwischen Demokratie und Diktatur.
„Ein so unauffälliger Beobachter wie Doremus Jessup, der Senator Windrips Wirken aus der bescheidenen ländlichen Provinz beobachtete, konnte sich dessen Macht über die Zuhörermassen nicht erklären. Der Senator war vulgär, fast ungebildet, ein öffentlicher Lügner, der leicht zu erkennen war, und in seinen ‚Ideen‘ fast idiotisch, während seine berühmte Frömmigkeit die eines reisenden Verkäufers von Kirchenmöbeln war und sein noch berühmterer Humor der listige Zynismus eines Provinzvertreters. (...) Oh, er war gewöhnlich genug. Er hatte alle Vorurteile und Bestrebungen eines jeden amerikanischen Durchschnittsbürgers. Er glaubte an die Attraktivität und damit an die Heiligkeit von dicken Buchweizenkuchen mit gepanschtem Ahornsirup, an Gummischalen für die Eiswürfel in seinem elektrischen Kühlschrank, an den besonderen Adel von Hunden, (…) an die Orakel von S. Parkes Cadman, in der Freundschaft mit allen Kellnerinnen an allen Kreuzungen, in Henry Ford (wenn er Präsident würde, frohlockte er, könnte er vielleicht Mr. Ford dazu bringen, zum Abendessen ins Weiße Haus zu kommen) und in der Überlegenheit von jedem, der eine Million Dollar besaß. Er betrachtete Gamaschen, Spazierstöcke, Kaviar, Titel, Teetrinken, Gedichte, die nicht täglich in Zeitungen veröffentlicht wurden, und alle Ausländer, vielleicht mit Ausnahme der Briten, als degeneriert. Aber er war der ‚Common Man‘ in zwanzigfacher Vergrößerung durch seine Redekunst, so dass die anderen ‚Commoners‘ seine Absichten, die genau die gleichen waren wie ihre eigenen, zwar verstehen konnten, ihn aber als über ihnen stehend ansahen und ihm die Hände zur Anbetung erhoben.“
(Sinclair Lewis: Das ist bei uns nicht möglich)
Als Sinclair Lewis dies 1935 schrieb, dauerte es noch zehn Jahre, bis ein realer Berzelius Windrip geboren wurde, den der amerikanische Kulturkampf bis ins Weiße Haus bringen sollte. Donald Trump.