Cades Cove würden wir in Deutschland eine Hochalm nennen. Cades Cove hat eine ganz besondere Geschichte zu erzählen und ist für Naturliebhaber ein Kleinod in den Bergen oberhalb von Townsend. Der Weg führt uns entlang dem Laurel Creek. Der Bach windet sich wildromantisch mal links, mal rechts vom Weg, und lädt an malerischen Wasserfällen zum Verweilen ein.
Große Schmetterlinge in schillernden Farben taumeln durch die Luft und spielen scheinbar am Wasser. Wir wandern weiter bergan und folgen dem Laurel Creek mit seinen unzähligen Gurgeltöpfen, bis sich das enge Tal weitet und einen grandiosen Blick freigibt. Dwight McCarter hat auf uns gewartet, um uns Cades Cove zu zeigen.
"Du siehst ein großes weites Tal, das rundherum von Bergzügen eingeschlossen ist und wie eine riesige Schüssel wirkt. Dieses Tal hat 20 Quadratkilometer grüne Wiesen auf kalkhaltigem Boden und wurde damals von 200 Familien bewohnt."
Dwight ist nicht nur hier aufgewachsen, er ist ein legendärer Park-Ranger des Smoky Mountains National Park und hat mehrere bemerkenswerte Bücher geschrieben. Etliche der Häuser, die Dwights Vorfahren hier oben bewohnten, sind heute noch erhalten und zeugen von der Zeit der ersten Siedler. Oben in Cades Cove verlaufen die Wanderwege relativ eben und sind bestens ausgeschildert. Cades Cove war wirklich eine sehr isolierte Gemeinde, weil das Tal von sehr hohen Bergzügen eingeschlossen ist und weil man zur damaligen Zeit nur über eine einzige, sehr schwierige Passstraße rein und raus kam.
Dem Wanderer in Cades Cove zeigt sich nicht nur eine üppige Vegetation. Man kann auch mit Geduld und Vorsicht ungewohnt nahe interessanten Tieren begegnen. Ob das wilde Truthähne, Biber oder seltene Vögel sind, um die nächste Wegbiegung geschieht dann möglicherweise das völlig Unerwartete. In unserem Fall war es eine Gruppe von Schwarzbären. Eine Bärenmutter trabte gemächlich mit ihren beiden Jungen am Waldrand und futterte Kräuter. Und das gerade mal 50 Meter entfernt. Dwight sagte, an dieser Stelle haben wir sie noch nie gesehen, was für eine unglaubliche Überraschung.
"Die Bären in den Great Smoky Mountains leben zu 80 Prozent in den Kronen von Tulpen-Bäumen, wo sie auch zur Welt kommen. Wind und Wetter bilden oft Hohlräume in den drei- bis sechshundert Jahre alten Baumkronen, die die Schwarzbären in Tennessee bevorzugt bewohnen. In anderen Regionen bauen sie sich ihre Höhlen immer im Wurzelwerk der Bäume, im Gegensatz zu den Smokies."
Es fällt allen sichtlich schwer, sich vom Schwarzbären-Idyll zu lösen und die Wanderung fortzusetzen. Unser nächster Halt ist eine weitere Gebäudegruppe der ehemaligen Siedler. Zu einem der Häuser führt ein künstlicher Bachzulauf, dessen Wasser sich auf ein großes Mühlrad ergießt.
"Das ist die Becky-Cable-Mühle. Becky Cable war die Großtante meiner Mutter. Der Familienname wurde amerikanisiert und hieß ursprünglich Göbel. Hans Göbel kam aus Hessen und weil man den deutschen Namen nicht richtig aussprechen konnte, machte man einfach Cable daraus. Becky war eine der vielen Nachkommen von Hans Göbel und betrieb hier im Tal eine Getreidemühle. Meine Mutter sammelte Walnüsse und tauschte sie bei Becky gegen Mehl. Beckys Grab befindet sich hier vorne auf dem Friedhof der Cable-Familie, der übrigens nach Osten ausgerichtet ist."
Neben Becky Cables Mühle finden wir dann den Startpunkt des Wanderweges, der von der Hochalm Cades Cove zu den Abrams Falls führt. Dort treffen wir Greg Mitchel, der mit Rucksack und Wanderstab voller Genuss einige tiefe Luftzüge einatmet, bevor es losgeht.
"Das ist schon eine Art Sanktuarium für Wanderer wegen all der Tiere und Pflanzen, die man hier sehen kann. Der Appalachian Trail, den ich auch schon gelaufen bin, führt dort oben über die Bergkämme. Dieser Weg hier unten ist nicht so steil und steinig, er schlängelt sich neben dem Fluss durch eine völlig unberührte Natur. Man kann in wunderbar mit der ganzen Familie laufen. Ich komme schon 40 Jahre hierher. Wir wandern jetzt bis zu den Abrams Falls."
Gleich zu Beginn führt unser Wanderweg über eine rustikale Holzbrücke und überquert den Fluss, der mich von seiner Breite und Tiefe her an unsere Ahr zu Hause erinnert. Auf der Brücke gesellt sich Rangerin Mary Jo White zu uns.
"Dieser Fluss, der Abrams Creek, verläuft teilweise unterirdisch und dann wieder oberirdisch, weil das hier eine karstartige Kalksteinlandschaft ist. An einer Stelle verschwindet er einfach in einer Höhle und kommt dann an einer anderen Stelle als kräftig sprudelnde Quelle wieder aus dem Boden. Nach einer Reihe von spektakulären Wasserfällen mündet er dann am Creek Campground in einen See."
Mary Jo, das wird uns schnell klar, ist nicht nur eine Rangerin, sondern auch privat eine begeisterte Naturliebhaberin. Immer wieder zeigt sie uns entlang des Weges kleine Details, die uns nie aufgefallen wären, wie beispielsweise verschiedene Pilze, die entweder in guter Symbiose oder als böse Schmarotzer auf Bäumen leben. Und davon gibt es hier offensichtlich viele Arten.
"Wir haben 135 verschiedene Baumarten in diesem Bereich. Wir stehen gerade unter einer kanadischen Hemlock-Tanne, die uns Schatten spendet. Dort drüben sind mehrere Ahorn- und Walnussbäume. In diesem Tal wachsen auch relativ viele japanische Rotkiefern, deren Kiefernzapfen nur durch große Hitze wie ein Feuer aufplatzen und den Samen zum Keimen abwerfen. Der Weg entlang des Flusses führt an manchen Stellen regelrecht durch kleine Rhododendron–Wälder. Und die klassischen Eichen wachsen hier ebenfalls."
Der Trail zu den Abrams Falls ist so angelegt, dass er viele abwechslungsreiche Zugänge zum Fluss anbietet. Die Wasserlandschaft überrascht immer wieder mit neuen Eindrücken, die jede für sich eine Postkarte wert wären. Beth Marchman hat zwischenzeitlich mit ihren drei Töchtern zu uns aufgeschlossen und erzählt von ihren Eindrücken.
"Ich liebe die Vielfalt der Wildblumen, die man hier überall entlang des Weges finden kann. Das ist, als würde man durch ein Botanikbuch wandern. Ich bin in meinem normalen Leben Bürgermeisterin. Hier kann ich einfach mal total abschalten und entspannen."
An drei Stellen kürzt der Trail große Mäanderschleifen dadurch ab, indem er jeweils über einen kleinen Bergrücken führt. Die Steigung belohnt dann aber auch mit wunderbaren Blickfenstern hinunter in das Flusstal. Den großen Abrams Fall kann man lange hören, bevor man ihn sieht. Und das erhöht die Spannung. Dann öffnet sich vor uns die Ufervegetation und wir stehen offensichtlich vor dem grandiosen Naturschwimmbad der früheren Bewohner von Cades Cove. Greg Mitchel, den wir am Anfang des Weges trafen, sitzt bereits auf einem dicken Findling und reflektiert seine Eindrücke.
"Dieser Trail ist wirklich moderat und einfach zu laufen. Bevor man zum großen Wasserfall kommt, gibt es viele kleine Fälle, wo das Wasser treppenartig nach unten rauscht und in kleinen Gurgeltöpfen landet. In diesen Tubs kann man wunderbar baden, wie in einem Natur-Whirlpool. Im Fluss gibt es viele Forellen, die man in diesem glasklaren Wasser wunderbar sehen kann."
Charles Thomas hat seine Wanderschuhe ausgezogen und plätschert mit seinen Füßen im glasklaren Wasser.
"Die Wasserfälle sind wunderbar. Man kann sich leicht vorstellen, dass die früheren Bewohner von Cades Cove hier gerne im Sommer schwimmen gingen. Was für eine traumhafte Badestelle. Die Natur übertrifft immer noch unsere künstlich angelegten Wellness-Oasen. Der Weg hierhin ist gut angelegt und nicht zu schwierig."
Dass der Weg nicht so schwierig sei, sagen auffallend viele unserer Mitwanderer. Vielleicht liegt das an der Nähe zum Appalachian Trail, der deutlich mehr Kondition verlangt. Der Rückweg führt uns wieder zu Beckys Mühle.
Auf der Veranda der alten Mühle begrüßt uns eine reizende Lady im fortgeschrittenen Alter von 86 Jahren, die den Besuchern zeigt, wie man zur damaligen Zeit, als Cades Cove noch in voller Blüte stand, in Handarbeit eine Patchwork-Decke gequiltet hat.
"Mein Name ist Emmy Schmidt."
Emmy Schmidt ist vor mehr als einem halben Jahrhundert in Amerika eingewandert ist, spricht immer noch ein fast akzentfreies Deutsch. Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile und müssen ihr aus der alten Heimat erzählen. Ein erlebnisreicher Wandertag geht für uns zu Ende und Emmy Schmidt setzt den Schlusspunkt.
"Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen. Auf Wiedersehen."